Europa - Informationen Nr. 159

Zukunft der EU: Eine Herkulesaufgabe für den Unionsgesetzgeber: Stärkung justizieller Zusammenarbeit unter Achtung nationaler Verfassungsidentitäten

Damian Patting (Juristischer Referent)

„Es muss ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Strafverfolgungsinteressen der Ermittlungsbehörden und den Grundrechten betroffener Personen gefunden werden“ , so MEP Birgit Sippel (S&P/ Deutschland) im Rahmen einer Anhörung im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten Justiz und Inneres (LIBE-Ausschuss) am 27. November 2018. Die Berichterstatterin bezieht sich damit auf einen Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung über Europäische Herausgabe- und Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafsachen (COM (2018) 225) vom 17. April 2018. Zielsetzung des Gesetzesvorschlags ist es, die justizielle Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Ermittlungen effektiver zu gestalten und damit das Ermittlungsverfahren zu beschleunigen. Glaubt man den Experten im Ausschuss, so betreffen mittlerweile beinahe 50 Prozent sämtlicher strafrechtlichen Ermittlungen grenzüberschreitende Ersuchen um den Zugang zu elektronischen Beweismitteln. Aus diesem Grund hat die EU-Kommission neue Regeln in Form einer Verordnung und einer flankierenden Richtlinie vorgeschlagen.

Den Strafverfolgungs- und Justizbehörden sollen unionsweit einfachere und schnellere Mittel an die Hand gegeben werden, um an die elektronischen Beweismittel, die zur Ermittlung und zur strafrechtlichen Verfolgung von Beschuldigten benötigt werden, zu gelangen. Bislang werden Strafverfahren in der Europäischen Union von nationalen Gerichten durchgeführt. Daher bestimmt sich der Schutz von Grund- und Verfahrensrechten des Beschuldigten bei der Beweiserhebung und -verwertung im Ausgangspunkt nach der Rechtsordnung des Staates, in dem die Ermittlungen geführt werden. Für das strafrechtliche Erkenntnisverfahren nach dem Recht der deutschen Strafprozessordnung sind das Grundgesetz und die entsprechend ausdifferenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) insbesondere die sog. Kernbereichs-Rechtsprechung maßgeblich. Der Kernbereich bezeichnet in der Rechtsprechung des BVerfG die unantastbare und einer Rechtfertigung nicht zugängliche Beeinträchtigung der sog. Intimsphäre der betroffenen Person.

Der Verordnungsvorschlag berührt diese Rechtsprechung im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Kernbestand. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten als sog. Anordnungsstaat die Befugnis erhalten, grenzüberschreitend und unmittelbar bei Service-Providern in einem anderen Mitgliedstaat (sog. Vollstreckungsstaat) die Herausgabe digitaler Daten als mögliche Beweismittel für ein Strafverfahren zu erzwingen. Bei Verweigerung der Kooperation drohen Strafzahlungen in Höhe von bis zu zwei Prozent des Jahresumsatzes. Dem von der Anordnung betroffenen Vollstreckungsstaat ist nach den ursprünglichen Vorschlägen der EU-Kommission keine zwingende Mitteilung (sog. Notifizierung) von der Anordnung zu erteilen.

Besonders problematisch ist aus Sicht der Kirchen, dass Bereichsausnahmen von den umfassenden Zugriffsrechten ausländischer Behörden in Ausgestaltung eines Schutzes von „Immunitäten und Vorrechten, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gewährt werden“ nur im Rahmen einer aus rechtsstaatlicher Perspektive unzureichenden Formulierung in Art. 5 Abs. 7 VO-Entwurf genannt werden. Unzureichend deshalb, weil etwa im Geltungsbereich des Grundgesetzes der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung absoluten Schutz genießt. Im Verordnungsentwurf fehlt jede Möglichkeit zur Geltendmachung grundrechtsbezogener Einwendungen des Vollstreckungsstaates, wenn seine Prüfung ergibt, dass die Vollstreckung der Herausgabeanordnung gegen Grundrechte verstößt. Aus Perspektive der Kirchen gehört zu diesen „Immunitäten und Vorrechten“ auch das strafprozessual in den §§ 53 Abs. 1 Nr. 1, 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO gegen Beschlagnahme abgesicherte Beichtgeheimnis in § 30 Abs. 1 PfarrerdienstG der EKD. Neue Medien werden angesichts zunehmender Verwendung technischer Kommunikationsmittel im Rahmen der Seelsorge auch für die Kirchen immer wichtiger. In der derzeitigen, von der Kommission vorgeschlagenen Form wahrt der Verordnungsentwurf dem im deutschen Recht verfassungs- und einfachrechtlich sowie nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfassend geschützten seelsorgerischen Gespräch nicht bzw. nicht hinreichend klar und rechtssicher.

Ein breites Bündnis aus Datenschützern, Medienvertretern, Bürgerrechtlern und Verbänden engagiert sich gegen die aktuellen EU-Pläne in der Befürchtung, dass grundrechtliche Standards, wie sie unter dem Regime des Grundgesetzes (GG) gelten, unterschritten werden. Auch die Bundesrepublik setzt sich im Rat der EU Justizminister für die Wahrung rechtsstaatlicher Standards ein. Dazu gehören elementare Rechte etwa wie der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie ein Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG. Mit Blick auf diese verfahrensrechtlichen Standards müsste eine Möglichkeit des Vollstreckungsstaates für ein verbindliches Beschwerdeverfahren bestehen. In der Strafprozessordnung (StPO) sind derartige Mechanismen in den §§ 98 Abs. 2, 304 StPO sowie durch die Rechtsmittel der Berufung und der Revision verankert. In dem Verordnungsvorschlag fehlt eine derartige Beschwerdemöglichkeit. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz, Katarina Barley, auf dem Rat für Justiz und Inneres am 6. und 7. Dezember 2018 in Brüssel gegen den Vorschlag der EU-Kommission gestimmt. Dem war ein intensiver, auch schriftlicher Austausch von Vertretern beider Kirchen mit Vertretern des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz und ein Austausch mit der Ständigen Vertretung in Brüssel vorausgegangen, wobei die jeweiligen Gesprächspartner die bereits skizzierten Bedenken der Kirchen teilten.

Die EU-Kommission hingegen teilt diese Bedenken dagegen ebenso wenig, wie die Mehrheit der Staaten im Rat für Justiz und Inneres am 6. und 7. Dezember 2018. Dort wurde eine vorläufige Einigung erzielt. Von Seiten der Kommission hieß es etwa, dass mit dem einheitlichen Justizraum gegenseitiges Vertrauen einhergehe und angesichts der EU-Grundrechtecharta von einem Mindeststandard an Grundrechtsschutz in allen Mitgliedstaaten ausgegangen werden könne. Damit ist der Verordnungsentwurf in der von der Kommission vorgeschlagenen Form längst nicht beschlossene Sache, da das ordentliche Gesetzgebungsverfahren eine Billigung durch das EU-Parlament verlangt. Im entsprechende Fachausschuss, dem LIBE-Ausschuss regt sich bereits fraktionsübergreifender Widerstand gegen die Pläne. Auch die Berichterstatterin MEP Birgit Sippel (S&D/Deutschland) formuliert in Vorbereitung eines Berichtsentwurfes in entsprechenden Arbeitspapieren deutliche Bedenken etwa an den Rechtsgrundlagen und der Ausgewogenheit des Rechtsschutzniveaus.

Freilich verfolgen die Kommissionspläne einer verbesserten und erleichterten justiziellen Zusammenarbeit ein überaus wichtiges Ziel, nämlich eine dringend notwendige Verbesserung der Terrorbekämpfung. Dennoch vermitteln die vorliegende Verordnungsinitiative und die dazu geäußerte Haltung der Kommission den Eindruck, dass aus Sicht der EU-Kommission der Zweck einer effektiven grenzübergreifenden Strafverfolgung die Mittel heiligen könne und eine faktische Verkürzung nationaler verfassungsrechtlicher Schutzstandards rechtfertige.

Die Verhandlungen im LIBE-Ausschuss stehen – wie beschrieben − noch am Anfang. Vor den Wahlen im Mai 2019 dürfte ein Berichtsentwurf nicht mehr zu erwarten sein, so dass sich das Gesetzgebungsverfahren noch eine ganze Weile hinziehen wird. Daher ist aber gerade jetzt die Frage zu stellen, welchen Staat und Gesellschaft für eine intensivere Zusammenarbeit zu zahlen bereit sind und bis zu welchen Grad eine de-facto-Einmischung anderer Staaten in das nationale Rechtssystem hinnehmbar erscheint. Die Harmonisierungsbestrebungen erreichen damit eine Dimension, die an den Grundfesten nationaler Verfassungsidentitäten rütteln könnte. Für den Unionsgesetzgeber bedeutet es eine echte Herkulesaufgabe, im Ringen um unionsweite Standards in der justiziellen Zusammenarbeit elementare Verfahrensrechte unter gebührlicher Achtung mitgliedstaatlicher Verfassungsidentitäten sachgerecht und angemessen um eine supranationale Dimension zu erweitern.

Den Verordnungsvorschlag finden Sie hier: https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:639c80c9-4322-11e8-a9f4-01aa75ed71a1.0003.02/DOC_1&format=PDF

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