Europa - Informationen Nr. 159

Soziales und Beschäftigung: „Der Mensch braucht die Arbeit wie der Vogel das Fliegen“ - Plädoyers für eine gesellschaftliche Gestaltung der digitalen Transformation

Damian Patting

Unter dem Titel „Die Zukunft der Arbeit – Welche Ethik für das digitale Zeitalter?“ fand am 7. November 2018 eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion im Haus der EKD in Brüssel statt. Auf Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung folgt unter dem Begriff „Industrie 4.0“ die Digitalisierung. Wie eine Gestaltung des Transformationsprozesses unter Beteiligung der Gesellschaft gelingen kann, welches Orientierungswissen nötig ist und ob die humane Kultur von der Maschine bedroht ist, waren die Themen des spannenden Austausches zwischen der Vorsitzenden des Europäischen Ethikrates (EGE), Frau Prof. Dr. med. Christiane Woopen und dem vormaligen Vorsitzenden des Rates der EKD, Prof. Dr. Wolfgang Huber.
Die Leiterin des EKD-Büros Katrin Hatzinger merkte in ihrem Grußwort an, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt für die Kirche mit Blick auf die Betroffenheit von Menschenwürde und Autonomie von besonderer Bedeutung sei und ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Potentialen und Risiken der digitalen Technologien unabdingbar sei.
Frau Prof. Woopen appellierte an die Notwendigkeit einer Gestaltung des Transformationsprozesses durch die Gesellschaft. Selbst die beste Technik bringe keine tatsächliche Innovation, soweit der Transformationsprozess nicht durch die Gesellschaft begleitet würde. Hierfür müsse aber auch die nötige Sensibilisierung junger Menschen für algorithmische Systeme geschaffen werden. Die Entwicklung, Qualität und Eigenart künstlicher Intelligenz sei nämlich abhängig von Auswahl und Art der zur Verfügung gestellten Daten. Algorithmische Systeme träfen Entscheidungen nach Maßgabe einer von Menschen getroffenen Auswahl von Daten. Wenn man nämlich eine künstliche Intelligenz (KI) mit einem Datensatz füttere, der dem KI-System beibringe, dass Frauen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten als Männer, dann würde dieses KI-System auch tatsächlich auf Grundlage der Zuordnung schlechterer Werte für Frauen entscheiden. Im Hinblick auf die Digitalisierung gelte es weiter zu bedenken, dass diese auch Entkoppelungseffekte mit sich bringe, die in Form örtlicher und zeitlicher Flexibilisierung Chancen böten. Gleichfalls müsse man aber auch negative Implikationen berücksichtigen – insbesondere mit Blick auf die soziale Sicherheit. Die Gestaltbarkeit dieses Transformationsprozesses setze ein Bewusstsein der Gesellschaft dafür voraus, welche Aspekte Motivationsfaktoren für Arbeit sein können: Etwa einen Beitrag zu leisten, Kompetenzen zum Einsatz bringen oder Wertschätzung für Geleistetes zu erfahren. Überhaupt sei die Schaffung eines Bewusstseins dafür erforderlich, dass die Ausgestaltung des Arbeitsplatzes würderelevant sei. Der EGE setze in seinen Empfehlungen, die voraussichtlich für Januar 2019 zu erwarten seien, gerade deshalb bei der Menschenwürde an und stelle die Frage nach der Autonomie. Jede Veränderung der Arbeitsplatzgestaltung sei würderelevant und beträfe die Autonomie des Individuums und den Schutz der Privatheit. Die Stellungnahme der EGE umfasse ein breites Verständnis von Arbeit, das nicht nur übliche Anstellungsformen der bezahlten Arbeit erfasse, sondern auch die unbezahlte Arbeit in Form ehrenamtlicher Unterstützung von Gesellschaft oder Familie. Die Interessen der Wirtschaft dürften nicht außer Betracht gelassen werden, müssten aber mit ethischen Grundsätzen in Einklang gebracht werden. Langfristig müssten soziale Sicherungssysteme vom Arbeitsmarkt entkoppelt und eine tiefgreifende Debatte über das Menschenbild, das wir wollen, geführt werden. Daneben ginge es darum, „Artificial Intelligence made in Europe“ (d.h. einen wertebasierten Umgang mit KI) zu befördern. Schließlich müsse mehr in Erziehung und Ausbildung investiert werden, um kontributive Gerechtigkeit zu erreichen.
Altbischof Wolfgang Huber erörterte, inwieweit die Herausforderungen um die Transformationsprozesse der Industrie 4.0 theologische Relevanz besitzen. Um die epochalen Veränderungen existierten Deutungskämpfe, die religiös aufgeladen seien. Es sei notwendig, dass das ursprüngliche Heilsversprechen in geschichtliche Gestaltungsbeiträge transformiert werde. Die Transformation sei auch heute noch eine theologische Aufgabe. Letztlich gehe es um den Unterschied zwischen Gott und Mensch. Die Disruption sei im Falle der Industrie 4.0 rasanter und weitreichender als im Falle der vorhergehenden Stufen der Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung. Die Herausforderung bestünde darin, den digitalen Wandel so zu gestalten, dass es sich um eine Transformation und nicht um eine Disruption handelt. Dabei dürfe unser Bild vom Menschen nicht in Frage gestellt werden.
Dann elaborierte er die Bausteine des christlichen Menschenbildes: Erstens bestehe der Mensch in einer Reaktion. Der Mensch sei das Ebenbild Gottes. Daher könne er auch als „der Gott Entsprechende“ bzw. als „der zur Antwort Befähigte“ bezeichnet werden. Würde und Antwortfähigkeit seien wesentliche Bausteine dieses Menschenbildes. Zweitens sei der Mensch kein isoliertes Einzelwesen, sondern es bestünde ein dreifaches Beziehungsgeflecht: Die Beziehung zum Nächsten, die Beziehung zu Gott und die besondere Eigenschaft des Menschen, zu sich selbst in Beziehung zu treten. Eine weitere Besonderheit sei die Unvollkommenheit des Menschen. Irrwege, Sünde, Leiden, Vulnerabilität und Angewiesenheit und Gnade gehörten zum Menschenleben dazu. Ein weiterer Baustein sei das Schöpferische. Der Mensch sei ein Mitarbeiter Gottes. Das schöpferische Potential begründe den Auftrag, dass Menschen gestaltend auf die Umwelt einwirken.
„Die Arbeit gehört zum Menschen, wie zum Vogel das Fliegen“ habe Martin Luther einmal festgestellt. Die Menschen seien als vernunftbegabte Wesen gestaltend tätig. Die wesentliche Eigenschaft des freien Menschen sei schließlich seine Autonomie. Freiheit meine das Bewusstsein, eine Handlung von sich aus anzustoßen. Der Kern der Aufklärung bedeute, dass sich Menschen selbst Regeln auferlegen können. Der aufgeklärte Mensch sei in diesem Zusammenhang zu einer Selbstprüfung fähig, ob diese Regeln gelten können. Die Kernfrage sei, ob wir als Menschen bereit seien, Maschinen Qualitäten zuzuerkennen, die bislang nur uns als Menschen zu Eigen gewesen sind. Im Rahmen dieser Selbstgesetzgebung stelle sich die Frage, ob eine Abgabe der Autonomie gleichzeitig zu einer Abkehr von der Ethik führe.
Man dürfe nicht den Fehler begehen, die Gefahren und Herausforderungen der Industrie 4.0 auf einzelne Bereiche zu verengen. Die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz würfen nicht nur die Frage auf, ob der Computer schlauer sein dürfe als der Mensch. Die Entwicklungen im Bereich der Verdrängung der Arbeitskraft würfen nicht nur die Frage nach dem Arbeitsplatz auf. Diese Reduktion auf den Charakter als Verstandeswesen bzw. als Arbeitskraft würden verkennen, dass den Menschen eine Vielzahl von Eigenschaften und Qualitäten ausmache.
Mut machen könne der Umstand, dass menschliche Arbeit aus mehreren Dimensionen bestünde, die sich zumindest in entlohnte Erwerbsarbeit, eigene Familienarbeit und gesellschaftliche (freiwillige oder ehrenamtliche) Arbeit unterteilen lasse. Ein Ende der Arbeitsgesellschaft sei daher durch die Industrie 4.0 ausgeschlossen.
Jedenfalls aber sei eine dringende Empfehlung dagegen auszusprechen, bei der Debatte um eine sinnvolle Transformation von der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens auszugehen. Diese Überlegungen einiger Geschäftsführer von Unternehmen (CEOs) seien empörend, da sie eine Freizeichnung von einer verantwortungsvollen Transformation unter Berücksichtigung theologischer und ethischer Aspekte impliziere.


OKR Dr. theol. Ralph Charbonnier, Referent für Sozial- und Gesellschaftspolitik im Kirchenamt der EKD, leitete sodann die Diskussion ein und lenkte den Blick zunächst auf die Frage ein, worin die Interessen lägen, die Industrie 4.0 als Heilsversprechen zu bezeichnen gegenüber den Interessen, in der Industrie 4.0 die Apokalypse zu sehen. Prof. Huber betonte zunächst, dass jedes Handeln interessensgeleitet sei. Für ein Gelingen des Transformationsprozesses sei ein Bewusstsein dafür von wesentlicher Bedeutung, dass die Wirtschaft nicht allein der individuellen Profitmaximierung, sondern auch dem kollektiven Wohl der Gesellschaft dienen solle und dass etwa die Bildung nicht nur dem Erkenntnisgewinn dienen, sondern auch eine Möglichkeit zur Entfaltung des Menschen eröffnen solle. Frau Prof. Woopen führte in diesem Zusammenhang den geleakten Youtube-Film „The Selfish Ledger“ an, der eigentlich einem Google-internen Kreis die Vorteile und Chancen eines Menschen als Hülle von Daten zum Wohle der Spezies und der ganzen Welt präsentieren sollte. Was dort als Heil und Chance angepriesen werde, bewerte sie vielmehr als Unheil. Die Diskussion beschäftigte sich sodann mit den Grenzen der Ersetzbarkeit menschlicher Arbeitskraft. Darauf erwiderte Frau Prof. Woopen, dass die Ersetzbarkeit nicht nur regelgeleitete Tätigkeiten erfasse. In Japan existierten bereits Roboter, die Beerdigungen vornähmen. Herr Prof. Huber mahnte, dass die Frage nach der bloßen Substitutionsrate unerheblich sei. „Hands and heads will be less important, hearts will be more important“ zitierte er den amerikanischen Wissenschaftler Barry Schwartz. Entscheidend sei, dass die Empathie eine hinreichende Aufwertung erfahre. Zudem behandelten die Podiumsdiskutanten die Frage, wie den Verlockungen der Profitmaximierung mit Hilfe der Digitalisierung durch Wirtschaftsunternehmen Einhalt geboten werden könne. Dazu äußerte Frau Prof. Woopen, dass der Einsatz von Regularien und die Förderung von kritischer Reflektionsfähigkeit einen hilfreichen Beitrag leisten könnten. Herr Prof. Huber betonte, dass Orientierungswissen ein Schlüssel sei, um dem Menschen seine notwendige Souveränität zu erhalten, die Maschinen abschalten zu können. Eine weitere Frage war, wie soziale Sicherungssysteme künftig ausgestaltet werden müssen, um den Herausforderungen der Digitalisierung gewachsen zu sein. Insoweit seien – so Frau Prof. Woopen – regulative Modelle im multilateralen Kontext notwendig, die nicht nur die Staaten als Adressaten in den Blick nehmen, sondern auch die großen Unternehmen selbst verpflichten.
Die Veranstaltung machte die Bedeutung einer ethischen Reflexion der Digitalisierungsprozesse in der Arbeitswelt deutlich, zeigte die Bedeutung der Theologie in diesem Zusammenhang auf und sprach die anstehenden sozialen Herausforderungen deutlich an. Die Zivilgesellschaft entscheidet letztlich selbst über die weitere Entwicklung aktueller Transformationsprozesse und damit auch darüber, ob sich Dystopien von heute in Utopien von morgen verwandeln.

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