Gelobtes Land?

Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.

1. Im Brennpunkt vielfältiger Interessen

1.1. „Heiliges Land“ - Reiseziel, Sehnsuchtsort, Krisenherd

Berichte christlicher Reisegruppen über das „Heilige Land“ spiegeln oft etwas von der Faszinationskraft biblischer Landschaften wider, die den Hintergrund für alttestamentliche Erzählungen bilden und Wirkungsorte Jesu erinnern. Spirituelles Leben scheint sich auf biblischem Boden besonders intensiv zu gestalten. Das wird selbst da deutlich, wo eine Tauffamilie in Oberbayern um den Gebrauch von „originalem Jordanwasser“ bittet.

Görlitz und andere Orte schmücken sich mit „Heiligen Gräbern“, die dem Vorbild des Heiligen Grabes in Jerusalem nachempfunden sind (Abb. 3). In Kirchenliedern werden Jerusalem und „der Zion“ zu Bildern himmlischer Sehnsucht.

Repräsentantinnen und Repräsentanten der Kirche, Journalistinnen und Journalisten und viele andere gebrauchen den Begriff „Heiliges Land“ oft und scheinbar selbstverständlich, wenn sie von Israel und Palästina sprechen. Diese Wortwahl vermeidet Begriffe, deren Verwendung als politische Parteinahme verstanden werden könnte.

Es stellen sich Fragen: Mit welchem Recht kann aus evangelischer Perspektive der Begriff „Heiliges Land“ verwendet werden? Was bedeutet die Rede vom „Heiligen Land“ für das christliche Verhältnis zum jüdischen Volk? Und: Wie passt die Rede vom „Heiligen Land“ zu den „unheiligen“ Bildern, die uns die Nachrichten aus dem Nahen Osten so oft zeigen?

1.2 Der Staat Israel und wir Christen

Zwei herausragende Ereignisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben zunächst einzelne Christen, später die Kirchen in Deutschland zu einer grundlegenden Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum bewogen: der Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums (Schoah) und die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948.

Christliche Theologie hat biblischen Aussagen zum Land Israel oft nur einen übertragenen Sinn zugestanden, sie spiritualisiert und für das Christentum beansprucht. Die Realität des Staates Israel hat diese Deutung nachhaltig erschüttert.

Als evangelische Christen in Deutschland haben wir verstanden, dass das Bestehen eines jüdischen Staates für Juden von existenzieller Bedeutung ist. Jüdische Organisationen im damals von Großbritannien verwalteten Mandatsgebiet „Palästina“ hatten bereits während der Schoah verfolgten Juden das Leben gerettet. Der neu gegründete Staat Israel nahm die Überlebenden der Schoah auf. Nach wie vor hat der Staat Israel für Juden die Bedeutung einer Existenzsicherung.

Das Land Israel (hebr. erez israel) hat für die große Mehrheit der Juden auch religiöse Bedeutung. Es war kein historischer Zufall, dass Juden genau dieses Land für die Staatsgründung Israels wählten. Seine Geographie ist von jüdischer Geschichte durchwoben. Herausgehobene Bedeutung kommt dabei der Stadt Jerusalem (Abb. 2) mit dem Berg Zion, einst Ort des Tempels, zu. Von daher gab sich die jüdische Nationalbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts den Namen „Zionismus“.

Die Theologie im christlich-jüdischen Gespräch nach 1945 hat sich immer wieder auch mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung die Gründung des Staates Israel für Christen haben könnte. Am deutlichsten formulierte wohl die Evangelische Kirche im Rheinland in ihrem historischen Synodenbeschluss von 1980 die „Einsicht, daß die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“.

Der Konflikt um die Gründung des Staates Israel führte für die im damaligen Mandatsgebiet „Palästina“ lebende arabische Bevölkerung zu einer geschichtlichen Katastrophe: Mehr als zwei Drittel der arabischen Bevölkerung, etwa 700.000 Menschen, wurden im Krieg des Jahres 1948 vertrieben oder flohen, als der Staat Israel von fünf arabischen Nachbarstaaten angegriffen worden war. Im Verlauf des Krieges und später wurden Hunderte arabischer Dörfer in Israel zerstört. Im Krieg des Jahres 1967 flohen noch einmal etwa 300.000 Palästinenser aus den von der israelischen Armee besetzten Gebieten. Um das Land gibt es bis heute einen Konflikt zwischen zwei Völkern. Dabei spielen religiöse Begründungen wie etwa der Bezug auf die biblischen Landverheißungen eine bedeutende Rolle.

1.3 Klärungen

Die ganz unterschiedliche Verwendung des Begriffs „Israel“ führt zu der Frage, was genau mit ihm bezeichnet wird. Ursprünglich ist „Israel“ der Ehrenname des biblischen Erzvaters Jakob (vgl. 1. Mose 32,29). Der Begriff bezeichnet in theologischen Zusammenhängen die Angehörigen des ersterwählten Gottesvolkes und Träger der bleibend gültigen Verheißungen Gottes. Wir sprechen in dieser Orientierungshilfe von „Volk Israel“, wenn wir das jüdische Volk meinen, und von „Staat Israel“, wenn wir uns auf die politische Größe beziehen. Davon zu unterscheiden ist der Begriff „Land Israel“. Erst in nachbiblischer Zeit ist vom „Heiligen Land“ die Rede. Seit der Zeit Martin Luthers wird statt vom „verheißenen Land“ auch vom „gelobten Land“ gesprochen; dadurch wird insbesondere betont, dass Gott seine Verheißung des Landes mit einem Schwur bekräftigt hat (vgl. 1. Mose 26,3).

Die vorliegende Orientierungshilfe argumentiert nicht voraussetzungslos, sondern geht von drei Grundpositionen der evangelischen Kirchen in Deutschland aus:

  • Wir halten fest an dem Konsens über die bleibende Verbundenheit der Christen mit Israel als dem erstberufenen Gottesvolk.
  • Wir respektieren jüdisches Selbstverständnis, auch im Bezug auf das Land.
  • Wir bejahen das Existenzrecht des Staates Israel.

Wir sind uns bewusst, dass theologische Aussagen politische Auswirkungen haben können. Gerade deshalb wollen wir mit Informationen und Reflexionen zum Thema „Gelobtes Land“ zur engagierten Diskussion beitragen.

1.4 Biblische Landverheißung heute

Mit seinem Staatswappen, einer Abbildung des siebenarmigen Leuchters, wie er auf dem Triumphbogen des römischen Feldherrn Titus in Rom als Beutestück zu sehen ist, nimmt der Staat Israel Bezug auf die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und knüpft zugleich an die Zeit der in der Antike verloren gegangenen jüdischen Staatlichkeit an. In dieser Symbolik macht die Rückkehr der Juden in ihr altes Heimatland ab dem 19. Jahrhundert ihre Vertreibung aus der von den Römern nach dem Bar-Kochba-Aufstand so bezeichneten Provinz Syria Palaestina rückgängig.

Der hier ins Auge gefasste Zeitraum eines fast zweitausend Jahre langen jüdischen Exils verbindet sich in religiöser Perspektive mit dem alttestamentlichen Motiv der „Zerstreuung“ des jüdischen Volkes „unter die Völker“ (vgl. 5. Mose 4,27).

In Abgrenzung von dieser heilsgeschichtlichen Chronologie wird, um die Verbundenheit des jüdischen Volkes mit seinem alten Heimatland zu betonen, oftmals die Kontinuität der jüdischen Besiedlung Palästinas herausgestellt, vor allem in den ersten fünf nachchristlichen Jahrhunderten und später in besonderer Weise in den für die Juden heiligen Städten Jerusalem, Safed, Hebron und Tiberias, aber auch in Jaffa und Haifa.

Unabhängig davon, ob man eine „fast zweitausend Jahre lange“ Abwesenheit oder die relative Kontinuität einer jüdischen Besiedlung Palästinas hervorhebt, versteht sich das Judentum im heutigen Staat Israel in historischer Verbindung zum biblischen Volk Israel, dem das „Land“ von Gott verheißen wurde. Die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel beginnt mit den Worten: „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk.“ Sie steht damit freilich in einer Spannung zur biblischen Vorstellung von einer „Geburt“ des jüdischen Volkes in Ägypten.

Motive aus dem Umfeld biblischer Landverheißungen finden auch in christlicher Tradition vielfältig Niederschlag. So ist beispielsweise die Hoffnung auf das „gelobte Land“ im Kontext der Exodustradition zentral für die Befreiungstheologie. Das Bild von der Wiederherstellung Jerusalems am Ende der Zeiten nährt die christliche Hoffnung auf ein Leben jenseits des Todes (vgl. Offb. 21). Und der Besuch „heiliger Stätten“ in Israel kann für den persönlichen Glauben ebenso Bedeutung haben wie für das Gemeindeleben. Bei Besuchen im Land kann auch die Achtung des jüdischen Selbstverständnisses und seiner Sehnsucht nach „Zion“, die in den Jahrhunderten der Diaspora nicht nachgelassen hat, wachsen.

In unseren Kontexten nehmen wir über das Skizzierte hinaus weitere Positionen wahr. So gibt es z.B. Christen, die innerbiblisch Sachkritik üben und die Landverheißung als eine Ideologisierung politischer Verhältnisse von Anfang an interpretieren. Andere halten an der Gültigkeit der biblischen Landverheißungen fest, warnen aber angesichts des gegenwärtig andauernden Konfliktes in der Region davor, den Anspruch auf ein bestimmtes Stück Land religiös zu begründen.

Wieder andere stehen diesen Landverheißungen gleichgültig gegenüber.

Von daher kann gefragt werden:

  • Was meint „verheißenes Land“, was „heiliges Land“, was „gelobtes Land“?
  • Welche Bedeutung haben die biblischen Verheißungen, das Land der Bibel und die Stadt Jerusalem für Christen heute?
  • Lässt sich sagen, wo die Grenzen des „Landes“ verlaufen?
  • Sind Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium mit der Bibel begründbar?
  • Wie begegnen wir der Haltung der „christlichen Zionisten“?

1.5 Komplexe Beziehungen und Zusammenhänge

Die Erörterung der oben genannten Fragen geschieht im Kontext historisch gewachsener Verbindungen und gegenwärtiger Beziehungen.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind von Deutschland ausgehende missionarische und diakonische Einrichtungen im Land präsent. Heute pflegen neben den Stiftungen der EKD insbesondere das Berliner Missionswerk, die Evangelische Mission in Solidarität, das Nordelbische Zentrum für Weltmission und Kirchlichen Weltdienst, der Evangelische Entwicklungsdienst und Brot für die Welt sowie die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V. vielfältige Beziehungen.

Der Lutherische Weltbund ist seit Jahrzehnten mit Bildungsprojekten und diakonischen Einrichtungen im palästinensischen Bereich aktiv. Die Hilfsprojekte dienen neben christlichen Palästinensern auch der muslimischen Bevölkerungsmehrheit in Ost-Jerusalem und den palästinensischen Autonomiegebieten. Der Ökumenische Rat der Kirchen unterstützt vor Ort u.a. ein Menschenrechtsschutz-Programm mit internationalen freiwilligen Beobachterinnen und Beobachtern.

Durch die ökumenischen Kontakte ist die prekäre Situation der christlichen Minderheit in Jerusalem, den palästinensischen Gebieten und im Staat Israel in den Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rats der Kirchen präsent.

Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Beschäftigung mit dem christlich-jüdischen Verhältnis in den evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland ihren festen Platz. Dabei wird auch das Verhältnis zum Staat Israel in den Blick genommen.

Außerhalb der Kirchen gibt es in Deutschland ebenso vielfältige Beziehungen nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Über fünf Jahrzehnte deutsch-israelischer Jugendaustausch sowie 80 Städtepartnerschaften haben unzählige freundschaftliche Begegnungen ermöglicht. Die Deutsch-Israelischen Gesellschaften setzen sich in der Bundesrepublik für gute Beziehungen zum Staat Israel ein. Über 80 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit arbeiten für Verständigung und Toleranz. Die Deutsch-Palästinensischen Gesellschaften fördern entsprechend die Beziehungen zur palästinensischen Seite.

Vor allem nach der ersten Intifada (1987-1993) ist das öffentliche Bewusstsein für die Not der palästinensischen Bevölkerung gewachsen, deren Forderung nach einem eigenen Staat sich bisher nicht erfüllt hat.

Für die Beschäftigung mit dem Judentum und der Situation im Nahen Osten spielt zudem eine Rolle, dass in der Bundesrepublik heute auch Muslime leben, die aus dieser Region stammen und somit in den Konflikt involviert sind.

Die folgenden Überlegungen tragen dieser Vielfalt von Verbindungen und Beziehungen Rechnung.

Um es Leserinnen und Lesern zu ermöglichen, sachkundig an der Diskussion teilnehmen und begründet Positionen vertreten zu können, geben wir in den folgenden Abschnitten 2 bis 8 zunächst einen Einblick in biblische Befunde und nachbiblische Schriften, stellen Grunddaten jüdischer Geschichte und der Kirchengeschichte des Landes dar, werfen einen Blick auf Positionen des Islam und wesentliche Stationen der Theologiegeschichte und skizzieren Grundlagen evangelischen Staatsverständnisses.

Nächstes Kapitel