Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

2.1 Ökonomische Globalisierung

Eine Welle globalen Wandels besteht in der ökonomischen Globalisierung. Diese umfasst eine "immer engere Verdichtung ökonomischer Interdependenzen und das immer feinere Netz von Handelsbeziehungen, Finanzströmen und Direktinvestitionen, die die Entwicklungsdynamiken der ‚Volkswirtschaften‘ und die Handlungsspielräume der Politik in einem Maße mit der Entwicklungsdynamik der Weltwirtschaft verbindet, das vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre" [11]. Diese Verdichtung globaler ökonomischer Beziehungen wurde seit den 1980er Jahren durch die binnen- und außenwirtschaftliche Liberalisierung der Märkte für Waren, Dienstleistungen und Direktinvestitionen gezielt gefördert und führte zu einer immensen Zunahme des internationalen Handels und der Kapitalströme. Hinzu kam die Beschleunigung der Finanzmarkttransaktionen, die durch neue Kommunikationstechniken und vor allem durch die Deregulierung der Finanzmärkte seit den 1990er Jahren befördert wurde. So wurden die täglichen Umsätze an den Devisenmärkten im Jahr 2011 auf knapp 4.000 Mrd. US-Dollar geschätzt, gegenüber etwa 620 Mrd. im Jahr 1989 [12]. Im April 2012 soll der tägliche Devisenumsatz sogar 5.000 Mrd. US-Dollar erreicht haben.

Die Globalisierung der Märkte wurde durch eine neoliberale [13] Auffassung des Staates, der sich weitgehend aus dem Wirtschaftsablauf herauszuhalten hat, politisch und wirtschaftswissenschaftlich unterstützt und forciert. In den ersten 20 Jahren der Nachkriegszeit bestand ein weitgehender Konsens, dass Märkte der politischen Kontrolle bedürfen, um zu funktionieren und mit demokratischen Verhältnissen kompatibel zu sein. Dies war die Lehre, die aus dem Scheitern der Weimarer Republik, der Depression nach der Börsenkrise 1929, den Werken von John Maynard Keynes und den Rooseveltschen Reformen gezogen worden war. Dieser Konsens wich in den 1980er Jahren einer neuen wirtschaftspolitischen Programmatik, die darauf setzte, "freie und effiziente" Märkte herzustellen, um Wirtschaftswachstum und steigenden Wohlstand zu sichern – die jedoch nicht von allen europäischen Ländern vorbehaltlos geteilt wurde: weder die französische, weiterhin von keynesianischen Prinzipien geprägte Wirtschaftspolitik noch der "deutsche Sonderweg" der Sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard ist in den genannten neoliberalen Strukturen völlig aufgegangen. Aus dieser Sicht ist politische Steuerung grundsätzlich dem Verdacht ausgesetzt, die Effizienz der Märkte zu stören. Politik sollte sich stattdessen darauf konzentrieren, die Markteffizienz zu sichern, indem sie hauptsächlich Eigentumsrechte definiert und absichert sowie (von den Parlamenten und Regierungen) unabhängige Institutionen gründet, die die Märkte beaufsichtigen und – soweit überhaupt nötig und dann so wenig wie möglich – regulieren [14].

Diese Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Politik/Staat und Markt/Wirtschaft ging vor allem in den USA und Großbritannien mit der politisch betriebenen Schwächung der Gewerkschaften einher und veränderte in den meisten Industrieländern die Funktionen, die sozialen Sicherungssystemen zugeschrieben werden: Die Absicherung des individuellen Lebensstandards und die soziale Teilhabe aller stehen nicht mehr im Vordergrund. Die Verantwortung für den eigenen Lebensstandard wird vielmehr primär dem einzelnen Menschen übertragen, der sich an die Anforderungen des Arbeitsmarktes stärker anpassen und verstärkt Eigenausgaben für Bildung und Gesundheit erbringen muss. In den USA und Großbritannien ging dies in den 1990er Jahren nicht allein mit einer wachsenden Ungleichverteilung, sondern zusätzlich mit einem erheblichen Anstieg der Verschuldung der privaten Haushalte einher. Diese wurde durch die Deregulierung der Finanzmärkte erleichtert. Nun konnten der Konsum gesteigert und private Bildungsausgaben finanziert werden, obwohl die Einkommen vieler Menschen nicht ausreichten, diese Ausgaben bzw. den Schuldendienst dauerhaft zu tragen. Die Deregulierung der Finanzmärkte trug erheblich dazu bei, dass eine mittlerweile schier unübersehbare Zahl von komplexen, teils intransparenten Finanzderivaten gehandelt werden, dass die Finanzwirtschaft enorm expandierte und ihre Entkopplung von der Realwirtschaft weiter voranschritt. Damit aber entfernt sich der Finanzsektor immer mehr von seiner primären volks- wirtschaftlichen Funktion – der Zuführung von Kapital in seine realwirtschaftlich sinnvollste ("effiziente") Verwendung. Entsprechend stiftet der Finanzsektor im Zuge seiner Abkopplung von "der realen" Welt zunehmend geringeren Nutzen, während die durch ihn verursachten Risiken und Schäden erheblich angestiegen sind.

In vielen Entwicklungsländern führte die neoliberale Wende zu "Strukturanpassungspolitiken", die meist vom IWF und von der Weltbank im Gegenzug für Kredite eingefordert wurden. Im Zuge dieser Strukturanpassungsprogramme verschlimmerte sich in den 1980er und 1990er Jahren vielerorts die Armut, natürliche Ressourcen wurden vor allem als Devisenbringer erachtet, und Umweltschutzbelange gerieten noch mehr in den Hintergrund.

Die Einkommenswirkungen der ökonomischen Globalisierung sind seit langem Gegenstand internationaler Diskussionen. Standen zunächst Effekte auf die absolute Einkommenshöhe und die absolute Armut im Mittelpunkt, rückten in den letzten Jahren die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Verteilungsfragen in den Vordergrund. Obwohl sich das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in den 1990er Jahren bereits dem Verteilungsthema im Kontext der Globalisierung gewidmet hatte, war es die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit ihrem Bericht "A Fair Globalization" (2004), die maßgeblich daran beteiligt war, dass dieses Thema Eingang in die Agenda internationaler Foren fand. Weitere multilaterale Organisationen – einschließlich Weltbank und IWF – folgten mit ähnlichen Studien. Wenngleich sich Unterschiede im Wohlergehen von Menschen nicht allein an Einkommensunterschieden festmachen lassen, konzentrieren sich die meisten Studien auf die Ungleichheit der Einkommensverteilung.

Dabei zeigt sich, dass globale Einkommensungleichheit schwer zu messen ist, da kein Konsens über die geeignete Methode herrscht und theoretisch scheinbar bessere Methoden an der Verfügbarkeit oder der Aussagekraft von Daten scheitern. Gleichwohl können unabhängig von der Methode und den verwendeten Daten einige Trends identifiziert werden. Es ist nicht verwunderlich, dass fast alle Schätzungen zu dem Ergebnis kommen, dass die weltweite Einkommensungleichheit während der 1980er und 1990er Jahre zugenommen hat. Anschließend ging sie wieder zurück. Der weltweite Gini-Koeffizient [15] ist z. B. laut Milanovic (2009) zunächst um etwa 5 Prozent bis ins Jahr 2002 gestiegen und sank anschließend wieder um einige Prozent [16]. Er betrug im Jahr 2007 rund 70 Prozent (Milanovic 2011) [17].

Kasten 1: Der Gini-Koeffizient

Die Entwicklung des globalen Gini-Koeffizients deckt sich mit Berechnungen über das Einkommen des reichsten Fünftels der Weltbevölkerung, das für das Jahr 2007 auf 83 Prozent (64 Prozent) des Welteinkommens geschätzt wird (I. Ortiz/M. Cummins [2011]: "Global Inequality, Beyond the Bottom Billion. A Rapid Review of Income Distribution in 141 Countries, UNICEF Social and Economic Policy Working Paper”, April 2011). Im Text ist sowohl der Wert für die extremsten als auch in Klammern für die am wenigsten ungleiche Verteilung angegeben, die in der Studie von Ortiz/Cummins ermittelt wurden. Zum Beispiel variieren die Methoden zur Abgrenzung der Fünftel (Quintile). So können etwa unter dem reichsten Fünftel die 1,4 Mrd. reichsten Menschen der Welt verstanden werden, worunter z. B. fast alle Einwohner Liechtensteins fallen dürften. Es können aber auch diejenigen Menschen darunter subsummiert werden, die das reichste Fünftel ihres jeweiligen Landes ausmachen, also z. B. die reichsten 20 Prozent Liechtensteins, Deutschlands, Senegals etc. Außerdem variieren die Prozentzahlen je nachdem, ob das Einkommen kaufkraftbereinigt wurde oder nicht. Dabei ist zu beachten, dass Kaufkraftbereinigungen des Einkommens zwar einerseits zu theoretisch aussagekräftigeren Ergebnissen und zu einer geringeren Ungleichverteilung führen, jedoch andererseits die Berechnung und Anwendung von Kaufkraftparitäten ihrerseits problematisch ist. So werden die sog. Kaufkraftparitäten-Dollar in Mehrjahresabständen ermittelt. In Folge der letzten großen Neuberechnung (für 2005) mussten etwa Angaben über die weltweite Ungleichverteilung von ca. 65 Prozent auf 70 Prozent revidiert werden (Milanovic 2011). Außerdem ergeben sich unterschiedliche Zahlen, je nachdem, ob die Primärverteilung oder die Sekundärverteilung (um Umverteilungsmaßnahmen bereinigte Primär- bzw. Markteinkommensverteilung) untersucht wird.

Auch in den meisten Industrieländern stieg die Einkommensungleichheit zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre stark an. Dies ist vor allem auf ungleicher werdende Markteinkommen zurückzuführen. Die Markteinkommensungleichheit ist lediglich in den Niederlanden und der Schweiz nicht angestiegen. So stieg der Gini-Koeffizient für die Primärverteilung um rund 5 Prozentpunkte, während der Koeffizient hinsichtlich des verfügbaren Einkommens "nur" um ca. 2,5 Prozentpunkte anstieg. In den anschließenden 10 Jahren entwickelte sich die Einkommensungleichheit in den OECD-Staaten unterschiedlich: Während die Ungleichheit z. B. in Chile, der Türkei, Mexiko und Griechenland abnahm, stieg sie in Deutschland noch stärker als im Jahrzehnt zuvor. Der OECD-Durchschnitt lag 2006-2008 für die Markteinkommen bei einem Gini-Koeffizienten von ca. 42 Prozent und für die Sekundärverteilung bei 30 Prozent. Das Durchschnittseinkommen des reichsten Zehntels stieg im OECD-Durchschnitt stärker als das des ärmsten Zehntels der Bevölkerung: Das Verhältnis beträgt etwa 9:1. In Deutschland betrug der Gini-Koeffizient ca. 42 bzw. 29 Prozent. Das Verhältnis der Einkommen der reichsten 10 Prozent zu den ärmsten 10 Prozent änderte sich in Deutschland seit den 1980er Jahren von 5:1 auf 6:1.

Der Einkommensanteil der ärmsten 20 Prozent verringerte sich in den 1980er und 1990er Jahren spürbar und stieg seit 2000 nur geringfügig an, nämlich von 0,8 Prozent (1,7 Prozent) auf 1,0 Prozent (2,0 Prozent). In dem nennenswerten relativen Verlust der Reichsten in den 2000er Jahren bei gleichzeitig geringem Wiederaufholen der Ärmsten spiegelt sich letztlich wider, dass der globale Rückgang der Ungleichverteilung im Wesentlichen auf Gewinne der "Mittelschicht" – gemeint ist hier das zweit- und drittreichste Fünftel der Menschen, wobei das Einkommen des zweitreichsten Fünftels der Menschen besonders stark anstieg – zurückgeführt werden kann (vgl. hierzu auch Kasten 3). Die Einkommensrelationen zwischen "Superreichen" und den Armen blieb erschreckend: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung – ca. 70 Mio. Menschen – verfügt über das 10-15fache des gesamten Einkommens der ärmsten 20 Prozent – ca. 1.400 Mio. Menschen (Milanovic 2011).

Es bleibt festzuhalten, dass die globale Verteilung der Einkommen in jeder Hinsicht extrem ungleich ist. Während der Gini-Koeffizient in den meisten Industrieländern zwischen 30 und 40 Prozent liegt, erreicht er auf globaler Ebene rund 70 Prozent. Sogar Brasiliens oder Südafrikas Einkommensverteilung ist mit einem Koeffizient von fast 60 bzw. 65 Prozent weniger ungleich als die globale Verteilung. Noch Besorgnis erregender ist indes, dass dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung nur 1-2 Prozent des Welteinkommens zukommen und der Anteil nicht nennenswert anstieg. Die Bedürftigsten haben, mit anderen Worten, nicht überproportional vom globalen Wirtschaftswachstum profitieren können – in mehreren Ländern dürften die Ärmsten sogar weniger als der Durchschnitt der Bevölkerung am Einkommenswachstum partizipiert haben.

Die zugrunde liegende Studie (OECD 2011) stellt nicht nur die Entwicklung der Einkommensverteilung dezidiert dar, sondern versucht auch, die Ursachen herauszuarbeiten. Dabei kommt der zunehmenden Spreizung der Löhne und Gehälter größte Bedeutung zu. Aus ihren statistischen Analysen ziehen die Autorinnen und Autoren den Schluss, dass außenwirtschaftliche Liberalisierung und die Globalisierung des Handels keinen direkten Einfluss auf die Lohnungleichheit und Einkommensverteilung hatten. Vielmehr hätten der technologische Wandel und die binnenwirtschaftlichen Reformen insbesondere auf den Arbeitsmärkten, bei den sozialen Sicherungssystemen und in der Einkommensbesteuerung die Zunahme der Ungleichverteilung im Wesentlichen herbeigeführt. Im Zuge des technologischen Wandels stieg die Nachfrage nach gut qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und entsprechend ihre Markteinkommen, während die Markteinkommen gering Qualifizierter relativ und teils absolut sanken. Zudem hätte die zunehmende Transnationalisierung von Unternehmen die Ungleichheit zwischen Gutverdienenden erhöht. Zugleich stieg das Kapitaleinkommen überproportional.

Die Spreizung der Lohneinkommen in den OECD-Staaten resultiert unter anderem aus der Polarisierung innerhalb des expandierenden Dienstleistungssektors. Finanz- und produktionsbezogene Dienstleistungen werden recht gut bezahlt, während die meisten Arbeitsplätze in den sozialen, personen- und haushaltsorientierten Dienstleistungssektoren schlecht bezahlt werden [18]. Arbeitsmarkt- und Sozialreformen haben die Aufnahme solch prekärer Beschäftigungsverhältnisse wiederum gefördert, wobei durchaus auch andere Arbeitsplätze neu entstanden sind. Alle in der OECD-Studie als wesentlich erachteten Ursachen für steigende Einkommensungleichheit können letztlich nicht vom Globalisierungsprozess getrennt gesehen werden, sind sie doch sowohl Beschleuniger als auch (wirtschafts- und sozialpolitisch herbeigeführte) Implikationen der Globalisierung. Außerdem ist die Welt mittlerweile wirtschaftlich, technisch und sozial so eng verflochten, dass ökonomische und technische Entwicklungen in einer Gruppe von Ländern nahezu immer Rückwirkungen auf die Einkommensentwicklung in anderen Ländern haben.

In den BRICS-Staaten ist die Einkommensungleichheit seit Anfang der 1990er Jahre mit Ausnahme Brasiliens ebenfalls angestiegen, auch wenn China ebenso wie Brasilien den Anteil absolut Armer an der Bevölkerung drastisch reduzieren konnte. Die Verteilung ist in allen BRICS-Staaten nach wie vor deutlich ungleicher als in Industrieländern [19]. Eine bemerkenswerte Entwicklung fand in Indonesien statt: Hier sanken sowohl die absolute Armut als auch die Einkommensungleichheit erheblich. Gemessen am Gini-Koeffizient sind die indonesischen Einkommen inzwischen weniger ungleich verteilt als in vielen OECD-Staaten (OECD 2011). Die sich wechselseitig verstärkende Mischung aus Wirtschaftswachstum und breitenwirksamer Bildungspolitik gilt als der zentrale Motor dieser Entwicklung [20].

Im Allgemeinen ist es jedoch kaum möglich, die vielen Ursachen zu- oder abnehmender Ungleichverteilung auf globaler Ebene empirisch voneinander zu trennen. Nach Auffassung der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung ist es jedoch sekundär, für welchen Anteil der Entwicklung die Globalisierung direkt oder indirekt ursächlich ist, denn das sich ergebende Bild zeugt von einer erschreckend hohen Ungleichverteilung, deren Korrektur unter sozialen Nachhaltigkeitsaspekten dringend geboten ist – und zwar unabhängig ihrer Ursachen: (1) Das reichste Prozent der Weltbevölkerung gibt ein Vielfaches von dem aus, was die ärmsten 20 Prozent zusammen als Einkommen haben. (2) In keinem Land der Erde – außer Namibia – sind die Einkommensunterschiede annähernd so groß wie auf globaler Ebene. (3) Von der zu beobachtenden Abnahme der globalen Ungleichverteilung während des letzten Jahrzehnts profitierten vor allem die zweitreichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung, die Ärmsten hingegen so gut wie gar nicht.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es irreführend wäre, die Globalisierung als ursächlich für all diese Entwicklungen zu erklären. Es wäre aber ebenso verkehrt, zu behaupten, dass die Globalisierung mit den Fehlentwicklungen nichts zu tun habe. Vielmehr ist auch Globalisierung ein Prozess, der in Zusammenschau mit den ihn begleitenden und ihn forcierenden oder bremsenden Entwicklungen – sei es z. B. technischer, politischer oder wirtschaftspolitischer Art – Chancen und Risiken für die Schwachen und für den Erhalt der Umwelt birgt. So haben einige Länder die einkommenssteigernden Potenziale der Globalisierung und des technologischen Wandels genutzt und sind zugleich der wachsenden Einkommenskluft durch Umverteilungsmaßnahmen begegnet. Andere haben durch eine aktive und breitenwirksame Gesundheits- und Bildungspolitik den Prozess genutzt, um Armut und Ungleichheit zu mildern. Manche jedoch haben unter dem Deckmantel der "Globalisierungszwänge" Umverteilungsmaßnahmen zurückgefahren und damit Ungleichheit zusätzlich befördert. Kurzum: Entscheidend ist, zu welchen Handlungen die Politik und der Einzelne durch den Globalisierungsprozess bewegt und welche ethischen Kriterien und rechtlichen Normen dem Handeln zu Grunde gelegt werden.

Die Finanzmarktkrise 2008 und die Zuspitzung der Ernährungskrise 2007/2008 aufgrund fehlender internationaler Regulierungen machen dagegen die enormen Risiken deutlich, die mit einem Global Governance-Vakuum in einer entgrenzten und international stark verzahnten Ökonomie einhergehen.

Kasten 2: Die Welternährungskrise 2007/2008

Die Zahlen der Vereinten Nationen über Hunger und Unterernährung sind seit vielen Jahren stabil und nicht rückläufig. Vergleicht man die Angaben während der letzten drei Welternährungsgipfel 1996, 2002 und 2009, so wurden stets mehr als 850 Millionen Menschen als chronisch und akut unterernährt eingestuft. Zum Begriff "Welternährungskrise" kam es 2007 und 2008, weil die Weltmarktpreise für wichtige Grundnahrungsmittel in kurzer Zeit enorm anstiegen und dieser rapide Anstieg weitere ca. 150 Millionen Menschen zu Hungernden machte. In über 40 Ländern kam es in der Folge zu "Hungeraufständen".

Fast 80 Prozent aller Hungernden lebt nach wie vor in ländlichen Regionen. Die Hälfte davon lebt in Kleinbauernfamilien, weitere gut 20 Prozent als landlose Landarbeiter. Die Persistenz der hohen Zahl von Hungernden ist vor allem dadurch zu erklären, dass diese Personengruppen keine ausreichenden Einkommen erzielen können und in vielen Ländern von der nationalen und internationalen Politik lange Zeit marginalisiert und übersehen wurden.

Die Vernachlässigung ländlicher Regionen ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die Weltagrarmarktpreise aufgrund des Dumpings der Industrieländer lange Jahre so niedrig waren, dass insbesondere Kleinbauern auf Märkten in Entwicklungsländern, die oft handelspolitisch weit geöffnet worden waren, keine ausreichenden Einkommen erzielen konnten. Die Nahrungsmittelproduktion ist in vielen Entwicklungsländern dementsprechend über Jahre zurückgegangen, mehr und mehr Länder wurden von Nahrungsmittelimporten abhängig. Zur Krise kam es 2007/2008, als viele Länder aufgrund der hohen Preise ihre Importe nicht mehr finanzieren konnten und parallel einige Exportnationen den Export ihrer Überschüssen einstellten, woraufhin Nahrungsmittelimporte schwieriger wurden und die Weltmarktpreise noch stärker anstiegen. Nicht zuletzt im Zuge der Finanzkrise drängten viele anlageorientierte Akteure auf die Agrarrohstoffmärkte. Die stark ansteigenden Spekulationsgeschäfte beeinflussten die ohnehin steigenden und grundsätzlich volatilen Preise zusätzlich, wobei empirische Studien bisher kein belastbares eindeutiges Ergebnis über die Stärke des Einflusses auf die Agrarpreise zulassen.

Die internationale Reaktion auf die Welternährungskrise war sehr schleppend. Aufgrund unzureichender Datenlagen haben viele Exportländer ihre Exporte gestoppt und dadurch die Krise verschärft. Nur durch die Intervention des VN-Generalsekretärs, der eine hochrangige Expertengruppe einsetzte, wurden wenigstens die Aktionen des VN-Systems koordiniert. In der Folge der Krise und der fehlerhaften und späten Politikkoordination wurde 2009 der existierende Welternährungsausschuss (Committee on World Food Security, CFS) mit neuem Mandat wiedereingesetzt. Er soll zukünftig Politikkoordination ermöglichen und Initiativen starten, um eine vergleichbare Zuspitzung der Situation wie 2007/2008 zu vermeiden.

Bis jetzt ist dieser Koordinationsmechanismus noch nicht als das verbindliche Klärungsgremium akzeptiert. Leider wird jetzt schon deutlich, dass die G20 parallel zum CFS Initiativen zusammen mit der Agrarindustrie startet, während viele ärmere Entwicklungsländer auf dem CFS als einer Institution des Multilateralismus (ein Land, eine Stimme) bestehen, da sie selbst nur so gehört und beteiligt werden. Die Zivilgesellschaft hat im neuen CFS einen neuen innovativen Beteiligungsmechanismus (Civil Society Mechanism, CSM) erhalten, der langfristig für das gesamte VN-System beispielgebend werden könnte. Die Zivilgesellschaft hat in diesem Rahmen ein eigenes Koordinierungsgremium, dessen Autonomie vom CFS geachtet und das gleichzeitig vom CFS als zivilgesellschaftliches Gegenüber akzeptiert wird, weitgehende Beteiligungsrechte hat und regelmäßig um Stellungnahmen gebeten wird. Innerhalb des CSM wählen zivilgesellschaftliche Segmente Vertreter in ein Steuerungsgremium, in dem Nichtregierungsorganisationen und besonders soziale Bewegungen, die im Themenfeld Agrar- und Ernährungspolitik eine große Bedeutung haben, repräsentiert sind. Dies sind z. B. Vertreter und Vertreterinnen der Bauern, Fischer, Gras- und Buschlandbewirtschafter (insbesondere Pastoralisten), Indigener. Diese bekommen vom CFS in der Regel auch finanzielle Unterstützung, um bei Sitzungen und Beratungen teilnehmen zu können. Internationale Nichtregierungsorganisationen sind auch vertreten, müssen sich aber einen gemeinsamen Sitz teilen und sind dadurch nicht in der einflussreichen Position, die sie in vielen Governance-Kontexten oft aufgrund ihrer besseren finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme an Sitzungen haben.

Das Beispiel macht deutlich, wie nötig eine systematische Koordination der verschiedenen Politikakteure in diesem Politikfeld wäre. Dennoch gibt es immer wieder Versuche der einflussreichen und mächtigen Akteure, politische Foren zu finden und zu unterstützen, in denen partikulare Interessen leichter durchzusetzen sind.

In der Folge der Welternährungskrise haben seit 2009 die Investitionen in die Landwirtschaft und die Ressource Land enorm zugenommen. Allein in den letzten Jahren haben mehrere Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche den Besitzer gewechselt (Stichwort "Landgrabbing"). Auch für diesen Themenbereich gibt es bereits wieder konkurrierende Politikvorschläge zwischen dem CFS und den G20. Eine gelingende Koordination der internationalen Politik wäre bei diesem zentralen Problem sehr wünschenswert.

Der grenzüberschreitende Agrarhandel zählt ebenso wie die Zusammenarbeit bei der Forschung und der Anwendung von Agrartechnologien zu den notwendigen Bedingungen und Bestandteilen global wirksamer Nachhaltigkeitsstrategien. Mehr und mehr Länder sind in den letzten Jahren von Nahrungsmittelimporten abhängig geworden. Zum größten Teil ist dies darauf zurückzuführen, dass Länder in der Zeit, als die Agrarpreise weltweit sehr niedrig waren, den Anbau von Nahrungsmitteln gesenkt und stattdessen andere Agrarprodukte für den Export angebaut sowie Nahrungsmittel vermehrt importiert haben. Zu Zeiten niedriger Preise (bis 2007/2008) wurde eine solche handelsbasierte Ernährungssicherungsstrategie von der Weltbank sogar ausdrücklich empfohlen. Seit der Welternährungskrise sind die Preise substantiell gestiegen und fast alle Nahrungsmittel importierenden Länder überdenken derzeit ihre alte Strategie. Da sich die landwirtschaftlichen Anbaubedingungen im Zuge der Erderwärmung künftig in den meisten Regionen spürbar verändern und in vielen Entwicklungsländern verschlechtern werden, ist effektives Handeln einschließlich landwirtschafts- und nahrungspolitischer Anpassungsmaßnahmen noch mehr geboten. Ansonsten wird die ohnehin unerträglich hohe Zahl der Hungernden mittelfristig erheblich ansteigen.

Häufig wird die Globalisierung angeführt, um den Rückzug des Staates aus dem wirtschaftlichen Geschehen und der Ordnung des Marktes zu rechtfertigen. Denn, so die Argumentation, durch die Globalisierung hätte die nationalstaatliche Politik ihre Steuerungs- und Handlungsfähigkeit weitestgehend verloren. Aber nicht in allen Politikfeldern ist der Aufbau globaler Regelwerke die entscheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit nationaler Politiken: Nach wie vor bestehen nationale Handlungsspielräume z. B. für Umverteilungsmaßnahmen, für die Schaffung von mehr Chancengerechtigkeit und für die soziale Absicherung der Schwächsten der Gesellschaft sowie für die Ernährungssicherheit. Das oftmals vorgetragene Argument, die Staaten seien durch die Globalisierung zum Steuersenkungswettlauf und Sozialabbau gezwungen, ist empirisch völlig unzureichend fundiert. Muss es den politischen Entscheidungsträgern, die vermeintlich ohnmächtig den Zwängen der Globalisierung und des Wettbewerbs ausgesetzt sind, nicht auch zu denken geben, wenn US-amerikanische und europäische Einkommensmillionäre höhere Steuern fordern? [21]

Nationales Handeln allein reicht sicherlich nicht aus, auch wenn vor allem in sozial-, arbeitsmarkt-, gesundheits- und bildungspolitischen Bereichen erhebliche nationale Spielräume bestehen. Gerade die Finanzkrise zeigt wieder eindringlich, wie wichtig global verbindliche Regeln sind. Dabei geht es vor allem darum, die globale Wirtschaft sozial- und umweltverträglich zu gestalten sowie darum, dass die Entkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft rückgängig gemacht wird und Spekulationsgeschäfte angemessen reguliert werden. Das Zusammenwirken ungezügelter Finanzströme und die enorme Zunahme spekulativer Finanzprodukte verursachen erhebliche soziale Probleme und können ganze Volkswirtschaften destabilisieren. Hier sind vor allem Regeln und Mechanismen erforderlich, um zu verhindern, dass (markt-)mächtige Akteure regelmäßig die Kosten ihres Handelns der Allgemeinheit und damit besonders den Schwächeren aufbürden. Müssten sie selbst haften, würden viele riskante Geschäfte erst gar nicht eingegangen.

Die Etablierung einer funktionierenden Global Governance ist in "normalen" Phasen des Wirtschaftsgeschehens notwendig, um mit globalen Krisen besser umgehen zu können. Durch den intensiven Handel mit Waren, Dienstleistungen, Rohstoffen und Abfällen klaffen die Orte des Abbaus von Rohstoffen, der Erzeugungsstufen, des Verbrauchs und der Entsorgung von Produkten immer mehr auseinander. Verantwortlichkeiten können kaum mehr einem einzigen Land (z. B. Importland oder Exportland?), Unternehmen oder Verbraucherinnen und Verbrauchern eindeutig zugewiesen werden, sondern der Weg vieler Produkte "von der Wiege bis zur Bahre" führt durch immer mehr Länder und Unternehmen. Diese Zunahme an Komplexität in den Wertschöpfungsketten und an ungeklärten Verantwortlichkeiten wird durch die Transnationalisierung der Unternehmen, sprich die Globalisierung der Eigentumsverhältnisse erhöht: Rund 100.000 transnationale Unternehmen verfügen über knapp 1 Mio. Produktionsstätten oder Beteiligungsunternehmen im Ausland [22]. Dies betrifft unter anderem die Arbeitsbedingungen, Korruption, Missbrauch von Marktmacht, Kinderarbeit, Gewerkschaftsrechte und Menschenrechte bis hin zu den Rechten der Menschen bei Zwangsumsiedlungen etwa für die Rohstoffgewinnung. Ganz besonders sichtbar wird die Komplexität der Wertschöpfungskette und der Verantwortlichkeiten bei internationalen Umweltproblemen.

Die enorme Internationalisierung und zunehmende Intransparenz von Wertschöpfungsaktivitäten und Verantwortlichkeiten erfordern innovative Instrumente, die Nationalstaaten und Unternehmen verpflichten und zwar über ihr Territorium bzw. über ihren Heimatstandort und eigene Produktionsstätten hinaus. Gerade wegen der Exterritorialität bedürfen solche Instrumente jedoch zwingend der internationalen Vereinbarung. Ein Beispiel für einen solchen neuen Konsens sind die Leitprinzipien der Vereinten Nationen zum Thema Wirtschaft und Menschenrechte. Der Text, der im Juni 2011 im Menschenrechtsrat einstimmig angenommen wurde, beschreibt, wozu Staaten in der Steuerung und Kontrolle internationaler privater Wirtschaftsakteure verpflichtet sind und welche Verantwortung diesen Akteuren entlang der gesamten Wertschöpfungskette zukommt [23].

Einfach ist es in vielen Politikfeldern nicht, einen weltweiten Konsens für akzeptierte Regeln globalen Regierens zu erreichen. Wichtig sind deshalb in vielen Themenfeldern internationale Reformbündnisse, um der Vetomacht starker Länder etwas entgegenzusetzen, die sich der Reform oder Einrichtung von globalen Regimen widersetzen. Die anhaltenden transatlantischen und innereuropäischen Auseinandersetzungen um das Ausmaß und die Art der Banken- und Finanzmarktregulierung nach der Finanzkrise und um den angemessenen Umgang mit der Verschuldung der öffentlichen Haushalte zeigen dabei viererlei: Erstens, wie schwierig es ist, sich auf ein gemeinsames Normen- und Regelsystem zu einigen, das die Global Economic Governance zukünftig bestimmen sollte. Zweitens, dass Wissen und Erfahrung mit der Bewältigung derart komplexer globaler Problemlagen fehlen, auf denen handlungswillige Akteure aufbauen könnten. Drittens, dass es gut organisierten Akteuren gelingt, ihre privaten Interessen auf Kosten des Gemeinwohls durchzusetzen und Regulierungen und weitgehende Haftungsregeln zu verhindern. Und viertens, dass politische Entscheidungsprozesse in Demokratien viel Zeit benötigen, um zu durchdachten und legitimierten Ergebnissen zu gelangen, und dass die Funktionsweise und die Auswirkungen entfesselter Finanzmärkte der Politik diese Zeit und den Raum für ausreichende Diskussionen nicht lassen. Also ist eine international abgestimmte Regulierung und Entschleunigung der Finanzmärkte außer zur Vermeidung von ökonomischen Krisen auch zur Sicherung demokratisch legitimierter politischer Gestaltungsräume und zur Prävention von Wirtschaftskrisen geboten.

Die Globalisierung ist kein Prozess, der zwangsläufig zu politischer Ohnmacht führt oder auf völlige Deregulierung hinausläuft. Zeitgleich geht die Globalisierung nämlich mit der verstärkten Ausbildung internationaler Normsetzungsprozesse auf der multilateralen Ebene einher, die wiederum nationalstaatliches Handeln herausfordern bzw. verlangen. Die Menschenrechtspakte, die ILO-Kernarbeitsnormen und die Klimarahmenkonvention sind Beispiele für internationale Normen und Vereinbarungen, die die Umsetzung in nationales Recht erfordern und vielfach höhere Anforderungen an Regulationsregime stellen, als sie in vielen Staaten erfüllt werden. Insbesondere ist der funktionierende Rechtsstaat eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung von an Menschenrechten und an Nachhaltigkeit orientierten Politiken.

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