Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

4.1 Bestehende Institutionen der Global Governance

Im Bericht der von den Vereinten Nationen 1995 eingesetzten "Governance-Kommission" mit dem Titel "Nachbarn in einer Welt" wird "Governance" definiert als "die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse und unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann. [...] Es gibt weder ein einziges Modell oder eine einzige Form der Weltordnungspolitik, noch existiert eine einzige Ordnungsstruktur oder eine Gruppe solcher Strukturen. Es handelt sich um einen breit angelegten, dynamischen und komplexen Prozess interaktiver Entscheidungsfindung, der sich ständig weiterentwickelt und sich anderen Bedingungen anpasst." [69]

Diese Definition kann aus heutiger Sicht, siebzehn Jahre später, in ihren deskriptiven Teilen als zutreffend und in ihren normativen Teilen als zu positiv bewertet werden. Die heutige Global Governance-Architektur stellt sich als vielfältiges System dar, das von vielfältigen Akteuren, ihren Allianzen und unterschiedlichen Verhandlungskonstellationen bestimmt wird, die auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Intensität miteinander kommunizieren (vgl. Tabelle 3). Inwiefern dabei jedoch tatsächlich ein Interessensausgleich stattfindet und es zu wirksamem kooperativem Handeln kommt, ist umstritten. Positive Beispiele können gefunden werden, wie das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht. Aber insgesamt ist deutlich, dass effektive Problemlösungen im Sinne zielgenauer Vereinbarungen, schneller Umsetzung und ausreichender Ressourcenmobilisierung nicht den Regelfall globaler Kooperation bilden. Reformen der Global Governance-Architektur und ihrer Mechanismen sind zwingend notwendig, um nachhaltige Entwicklung weltweit zu verwirklichen.

Tabelle 3:

Beispiele für verschiedene Kooperationstypen in der Global Governance-Architektur [70]

Institutionalisierter
Multilateralismus
Selektiver
Multilateralismus
Club-
Governance
Vereinte Nationen und ihre Organisationen Multilaterale Konventionen (z. B. Klimarahmenkonvention) G8 und G20; G77/China
Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank, IWF) und WTO Supranationale Strukturen (z. B. internationaler Strafgerichtshof) OECD; IBSA; BRICS; BASIC
Regionale Organisationen (EU, ASEAN) Global Funds to Combat AIDS, Tuberculosis and Malaria Financial Action Task Force
Kirchen, internationale Kirchenbünde wie der Ökumenische Rat der Kirchen, der Lutherische Weltbund, die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen; die römisch-katholische Kirche als Weltkirche, die Anglikanische Kirche etc. NRO-Unternehmensvereinbarungen zu sozialen und ökologischen Standards  
International Standard Organisation (ISO) Extractive Industries Transparency Initiative  
International Chamber of Commerce Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)  
Internationale NRO-Verbünde
Internationaler Gewerkschaftsbund
Internationaler Dachverband der Arbeitgeber

Die gegenwärtige Institutionalisierung von Global Governance zeigt ein Nebeneinander von drei Governance-Typen: (1) institutionalisiertem, formalisiertem Multilateralismus, (2) selektivem Multilateralismus und (3) Club-Governance (vgl. Tabelle 3) [71]. Hinzu kommen informelle und ad hoc-Kooperationen, die sich nur sehr schwer typisieren lassen. Die Methoden der Kooperation und die Bindungskraft der Ergebnisse sind höchst unterschiedlich: Sie reichen von Foren zum Meinungsaustausch ohne messbare Ergebnisse, über informelle Absprachen über das Verhalten in internationalen Organisationen, gemeinsame Willensbekundungen, koordinierte oder gemeinsame Aktionen, freiwillige Kodices bis hin zu institutionalisierten Verhandlungen, regelgebundenen Abstimmungen und (völker-)rechtlich verbindlichen Beschlüssen.

  • Typ (1): Institutionalisierter formalisierter Multilateralismus: Der erste Typ wird im zwischenstaatlichen Bereich im Wesentlichen durch das VN-System repräsentiert. Halbstaatliche, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche einschließlich kirchliche Organisationen und Institutionen sind teils ebenfalls auf multilateraler Ebene formal institutionalisiert und nehmen Einfluss auf globale Prozesse wie etwa in den Vereinten Nationen. Zum System der Vereinten Nationen zählen seine Regional- und Sonderorganisationen und prinzipiell auch die Bretton-Woods-Organisationen (Weltbankgruppe und Internationaler Währungsfonds). Hinzu kommen die mit den Vereinten Nationen verbundene Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), die Welthandelsorganisation (WTO), die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und einige andere. Die Kooperation von Staaten orientiert sich hier an einer inklusiven Mitgliederstruktur, geregelten Verfahren und de facto meist an konsensorientierten Entscheidungsprozessen. Die Statuten sehen indes durchaus Beschlussfindungen ohne Konsens vor, wobei in den meisten Organisationen jedes Land formal eine Stimme hat. Eine Ausnahme bilden hier die von den Vereinten Nationen de facto unabhängigen Bretton-Woods-Institutionen, in denen die Höhe der jeweiligen Kapitaleinlage und die Wirtschaftskraft wesentlichen Einfluss auf die Höhe des Stimmrechts haben. Die Europäische Union ist als eine Organisation sui generis anzusehen. Durch ihren supranationalen Charakter hebt sie sich von den anderen Organisationen des ersten Typs ab. Die Mitgliedstaaten haben nationale Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen. Mehrheitsentscheidungen binden alle Mitgliedstaaten, wobei eine Gewichtung der Stimmen im Wesentlichen nach Bevölkerungsstärke stattfindet. Die Europäische Union hat eine eigene Rechtspersönlichkeit, so dass sie selbst Vertragspartei von internationalen Übereinkommen und Mitglied in internationalen Organisationen werden kann. Der Kreis der EU-Mitgliedstaaten ist geografisch beschränkt auf in Europa gelegene Staaten.
  • Typ (2): Selektiver Multilateralismus: Der zweite Typ orientiert sich am "Zusammenschluss Gleichgesinnter, die bestimmte Interessen (oder auch Werte) verfolgen (‚Koalition der Willigen‘), oftmals fokussiert auf die Bearbeitung konkreter Probleme. Diese Form des Regierens ist sowohl selektiv mit Blick auf die Teilnehmer als auch mit Blick auf die Agenda." [72] In diese Kategorie gehören Zusammenschlüsse von Staaten und/oder nicht-staatlichen Organisationen, die Probleme in ausgewählten Politikfeldern bearbeiten wollen, z. B. im Bereich globaler Umweltveränderungen oder der Strafbarkeit von Verbrechen an der Menschheit. In der Selektivität der Kooperation spiegeln sich sowohl unterschiedliche Grade der Betroffenheit einzelner Staaten durch das zu bearbeitende Problem wider als auch unterschiedliche politische Sichtweisen auf die Art der Problembearbeitung und den Nutzen, der mit der Kooperation verbunden ist. Hinzu kommen im zweiten Typus viele Initiativen, in denen Regierungen, private Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen kooperieren (z. B. Extractive Industries Transparency Initiative, EITI). Diese innovative Form der Zusammenarbeit nahm insbesondere in den letzten Jahren zu – nicht allein, aber auch und gerade aufgrund der Defizite des institutionalisierten Multilateralismus.
  • Typ (3): Club Governance: Der dritte Typ schließlich bezieht sich auf "Staatengruppen (teilweise unter Beteiligung internationaler Organisationen), die explizit oder implizit den Anspruch erheben, in einem oder mehreren Politikfeldern Governance-Leistungen über den engen Kreis der ‚Club‘-Mitglieder hinaus zu erbringen" [73]. D. h. es sind Foren mit einer zwar sehr selektiven Mitgliederstruktur, die aber beabsichtigen oder dies zumindest vorgeben, sich am Gemeinwohl orientieren zu wollen. Auswahlkriterium für die Mitgliedschaft ist dabei weniger die politische Übereinstimmung, sondern die wirtschaftliche Bedeutung und Macht der Beteiligten bzw. ihre Relevanz für die Problembewältigung.

Diese drei Typen des globalen Regierens stehen weitgehend nebeneinander – sie können sich zwar grundsätzlich konzeptionell ergänzen, in der politischen Praxis konkurrieren sie jedoch um politische Aufmerksamkeit, um Konzepte und Ressourcen. Zusammenfassend können selektive Formate, die sich auf bestimmte Problemlagen beziehen, den institutionalisierten Multilateralismus ergänzen und befördern. Zugleich bedürfen sie des institutionalisierten Multilateralismus, um Inkohärenzen zwischen den selektiven Formaten zu minimieren und deren globale Durchsetzbarkeit zu erhöhen.

Club-Governance ist hingegen wesentlich ambivalenter zu beurteilen: Zum einen bergen sie die Tendenz, Nicht-Mitglieder zu marginalisieren oder zumindest zu bevormunden, zum anderen leben in den G20-Staaten (einschließlich der gesamten EU) immerhin ca. 65 Prozent der Weltbevölkerung und es werden rund 85 Prozent der Weltproduktion dort erwirtschaftet. Allerdings tun auch sie sich schwer, notwendige Regulierungen zu entscheiden. Andererseits könnten sie zielführende Initiativen auf den Weg bringen, das Durchsetzbare und das somit Machbare aufzeigen und damit die notwendigen globalen Verhandlungen für globale Nachhaltigkeit beschleunigen. Die lediglich partielle Repräsentanz und die Intransparenz, die mit Club Governance notwendiger Weise einhergehen, lassen es jedoch weder legitim noch zielführend erscheinen, das VN-System durch sie zu ersetzen. Damit würden die Stimmen von mehr als einem Drittel der Menschen – darunter viele der Ärmsten – völlig ausgeblendet, und der überwiegenden Mehrheit der Staaten würde das formale Mitspracherecht letztlich verwehrt.

Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit es einer multilateral institutionalisierten Global Governance gelingen kann, die aktive Unterstützung aller einschließlich der wirtschaftlich oder politisch mächtigeren Nationalregierungen zu gewinnen. Oder gerade weil die Geschichte zeigt, dass dies kaum gelingen wird, stellt sich die – im 3. Kapitel bereits angerissene – noch grundsätzlichere Frage, wie viel Souveränitätsverzicht und Rechteverzicht ein effektives Global Governance-System voraussetzt, wie viel Macht der multilateralen (oder gar supranationalen?) Ebene zu übertragen ist und welche Mittel ihr zur Durchsetzung an die Hand zu geben sind. Diese Fragen werden im Anschluss an die Darstellung bestehender Global Governance-Strukturen und ihrer Schwächen (Kap. 4.2) aufgegriffen (Kap. 5).

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