Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

2.3 Globale Umweltveränderungen und ihre Risiken

Eine weitere offensichtliche Welle des globalen Wandels wird durch die Klimaveränderung und die krisenhaften Tendenzen hinsichtlich anderer existentieller globaler Umweltmedien (z. B. Störung der Stickstoff- und Phosphorzyklen, Verlust an Biodiversität, Abnahme der naturbelassenen Gebiete) ausgelöst [36]. Die zunehmende Flächenversiegelung und die fortschreitende Erosion insbesondere bei landwirtschaftlich wertvollen Nutzflächen sowie die absehbare Knappheit bei einer Reihe von nicht erneuerbaren Ressourcen müssen als wichtige Ursachen für Konflikte der nächsten Jahren und Jahrzehnte angesehen werden. Die Hinweise auf eine für den Menschen bedrohliche Schädigung des Erdökosystems lassen sich nicht mehr wissenschaftlich fundiert leugnen. Die Erderwärmung und die anhaltenden Biodiversitätsverluste nehmen unter den globalen Umweltrisiken eine Sonderrolle ein, da sie besonders stark auf andere Lebensgrundlagen und Ökosubsysteme negativ ausstrahlen und bestehende negative Trends wie etwa die Desertifikation (fortschreitende Wüstenbildung) massiv verstärken können. Außerdem kann insbesondere die Erderwärmung zu Veränderungsprozessen wie das Schmelzen des Grönlandeisschildes führen, die – einmal ausgelöst – unumkehrbar sind. Deren langfristige Folgen wiederum betreffen zukünftige Generationen bis ins nächste Jahrtausend und möglicher Weise darüber hinaus. Dies ist ein Zeithorizont, der für individuelle und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse bisher schlichtweg irrelevant war. Hinzu kommt, dass die Dauer eines solch langen Zeitraums für den Einzelnen und die Einzelne schwer vorstellbar ist und dass Empathie oder sogar Solidarität mit den dann Lebenden geradezu abstrakt bleiben muss.

Bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Trends der Treibhausgasemissionen wird es nicht gelingen, eine gefährliche Klimaveränderung zu verhindern. Ganz im Gegenteil: Selbst wenn der Trend sich umkehren würde, dürfte es kaum mehr gelingen, eine Erhöhung der globalen mittleren Temperatur von unter 2 Grad Celsius zu erreichen – eine Erwärmung, die gerade noch als handhabbar gilt. Die vorliegenden Selbstverpflichtungen der großen Treibhausgasemittenten sind zu gering, und es ist zu erwarten, dass die Erderwärmung bis Ende des 21. Jahrhunderts deutlich über 3 oder sogar 5 Grad liegen wird. Nur eine massive Trendumkehr bei den globalen Emissionen könnte unkalkulierbare Gefahren für das Ökosystem, für zukünftige Generationen und für die internationale Sicherheit noch verhindern. Viele Menschen in den ärmeren Regionen unseres Planeten werden allerdings selbst von den Folgen eines "moderaten" Klimawandels überfordert sein. Damit sind außer Emissionsvermeidungsstrategien auch umfassende Schutzstrategien ("Anpassungsmaßnahmen") zwingend geboten, will man die Schwächsten vor den für sie andernfalls lebensbedrohlichen Umweltveränderungen schützen.

Daher müssen weit reichende globale Veränderungsprozesse initiiert werden, wie beispielsweise der Aufbau einer treibhausgasarmen Weltenergieversorgung und einer nicht-fossilen Chemiewirtschaft. Vor allem muss das Ziel einer Reduzierung der CO2-Emissionen auf 1-2 t CO2 pro Kopf der Bevölkerung mit allen Möglichkeiten weltweit angesteuert werden. Gleiches gilt für die Finanzierung und Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen an den unvermeidlichen Klimawandel, die sich gerade die Gesellschaften nicht leisten können, die vom Wandel voraussichtlich am härtesten betroffen und zugleich für ihn am wenigsten verantwortlich sind.

Der Klimaschutz führt wie kaum ein anderes Politikfeld vor Augen, dass internationale Regelungen zwingend notwendig sind. Obwohl die großen dynamischen Schwellenländer (BRICS) nach wie vor mit erheblichen Armutsproblemen zu kämpfen haben, sind sie aufgrund ihrer Wirtschaftsleistung nicht nur zu mächtigen politischen Akteuren, sondern in absoluten Zahlen auch zu Großemittenten geworden (s. unten Tabellen 1 und 2). Mit Ausnahme Russlands und Chinas liegen die energiebedingten Pro-Kopf-Emissionen von Treibhausgasen zwar nach wie vor unter 2 t CO2 [37]. Sie sind somit deutlich niedriger als in den reichen Ölstaaten (15-44 t) und den Industrieländern (5-22 t), aber insgesamt emittieren die fünf Länder mittlerweile über ein Drittel der globalen Treibhausgas-Emissionen. Die EU, USA und BRICS könnten die Trendwende mit einem Emissionsanteil von über 70 Prozent gemeinsam schaffen. Damit würden sie auch ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen in den Ländern gerecht, die aufgrund ihrer extremen (Energie)Armut auch auf absehbare Zeit allenfalls marginal zur Erderwärmung beitragen. Nur über globale Kooperationen kann erreicht werden, dass die Klimaveränderungen begrenzt werden und die Staatengemeinschaft die ärmsten Länder mit der Anpassungsnotwendigkeit an den Klimawandel nicht allein lässt.

Die Entwicklung der CO2-Emissionen ausgewählter Staaten

Tabelle 1: CO2-Emissionen (Gt) verschiedener Ländergruppen: 1992-2009

Quelle: http://databank.worldbank.org [15.10.2013]. Die Emissionen sind in CO2-Äquivalenten angegeben und enthalten keine Emissionen durch Landnutzungsänderungen (die etwa in Brasilien und Indonesien relativ hoch sind) (1 Gigatonne = 1 Mrd. t).

Tabelle 2: Durchschnittliche CO2-Emissionen (t) pro Kopf: 1990-2009

  1990 1995 2000 2005 2007 2009
Welt 4,21 4,07 4,06 4,57 4,72 4,70
Indien 0,79 0,95 1,13 1,24 1,37 1,64
Brasilien 1,40 1,60 1,88 1,87 1,91 1,90
Indonesien 0,81 1,13 1,23 1,50 1,62 1,90
Schweiz 6,38 5,57 5,44 5,56 5,03 5,37
China 2,17 2,76 2,70 4,44 5,15 5,77
EU 8,66 8,37 8,05 8,17 8,02 7,22
Deutschland ... 10,60 10,12 9,82 9,57 8,97
Südafrika 9,47 9,04 8,38 8,39 9,19 10,12
Südkorea 5,76 8,31 9,52 9,62 10,20 10,36
Russland ... 11,22 10,65 11,29 11,74 11,09
USA 19,55 19,67 20,25 19,72 19,35 17,28

Quelle: http://databank.worldbank.org [15.10.2013]. Die Emissionen sind in CO2-Äquivalenten angegeben und enthalten keine Emissionen durch Landnutzungsänderungen (die etwa in Brasilien und Indonesien relativ hoch sind) (1 Gigatonne = 1 Mrd. t).

Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik sind eng miteinander verschränkt und damit ist der Klimaschutz auch und gerade eine Herausforderung an die internationale Wirtschaftspolitik: Fossile Energieträger müssen durch erneuerbare Energien ersetzt werden; gleichzeitig muss die Energieeffizienz erhöht und der Energieverbrauch insgesamt gesenkt werden. Dies hat Folgen für den Konsum, aber noch mehr für private und staatliche Investitionen, für die Kostenstrukturen und damit auch für die Wettbewerbsfähigkeit von Standorten. Innovation eröffnet stets zugleich Chancen für Beschäftigung und internationalen Handel, aber nicht alle Bereiche einer Ökonomie werden im Zuge einer klimafreundlichen Transformation bestehen bleiben. Unsere Volkswirtschaften durchliefen und durchlaufen eine Fülle von Strukturwandlungen, seien sie nachfrage-, technologie- oder angebotsbedingt. Dass sich der existenzielle Schutz des Klimas so viel schwerer durchsetzt als viele andere Veränderungen, könnte zu einem der folgenreichsten Politikversagen des 21. Jahrhunderts werden.

Eine Umkehrung der negativen Umwelttrends erfordert tief greifende Veränderungen unserer allgemeinen Produktions- und Konsummuster. Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten ist bisher nahezu zwangsläufig mit einem Umweltverbrauch einhergegangen, der im globalen Maßstab nicht nachhaltig ist. Ein Maß zur Darstellung des Umweltverbrauchs einer Gesellschaft ist der "ökologische Fußabdruck" (s. Kasten 4).

Kasten 4: Der ökologische Fußabdruck

Der ökologische Fußabdruck ist eine Maßeinheit, mit der abgebildet werden soll, inwieweit der ökologische Verbrauch menschlicher Gesellschaften innerhalb der Kapazitätsgrenzen der Biosphäre und anderer Ökosystemdienstleistungen und Umweltressourcen bleibt. Die Berechnungen beruhen auf der Umrechnung von Ressourcen- und Abfallströmen in biologisch produktive Flächen (in Hektar), die benötigt werden, um diese Ressourcen zu produzieren bzw. Abfälle aufzunehmen. Der Fußabdruck einer Bevölkerung ist die gesamte Fläche an biologisch produktivem Land und Wasser, die benötigt wird, um die Ressourcen zu produzieren, die die Bevölkerung konsumiert, und um den Abfall aufzunehmen, den sie generiert, unter gegebenen technologischen Bedingungen. Importe und der damit verbundene Flächen- bzw. Ressourcenverbrauch werden der importierenden Gesellschaft zugerechnet.

Bei der Berechnung werden folgende Flächennutzungen erfasst, die sich gegenseitig ausschließen: Ackerland, Weideflächen und Ackerland für Viehfutter; Fischgründe (Salz- und Süßwasser); Wälder; Land für die Aufnahme von Kohlendioxidemissionen und Fläche für Gebäude und Infrastruktur. Um die Daten international vergleichbar zu machen und global zusammenrechnen zu können, werden sie in eine gemeinsame Maßeinheit ("globale Hektar”) umgerechnet, die dem Weltdurchschnitt an Flächenproduktivität entspricht.

Die Annahme, dass diese Umrechnung und Aufsummierung methodisch möglich ist, ist fundamental für den ökologischen Fußabdruck, wird aber auch kritisiert:

  • So werden verschiedene Kategorien (wie die Nutzung erneuerbarer Rohstoffe, Energie- und Landverbrauch sowie CO2-Emissionen) mittels einer Vielzahl an Rechenfaktoren in oft nicht ausreichend transparenter Weise in einem hochaggregierten Indikator zusammengeführt;
  • dabei werden die realen Flächennutzungen und -verbräuche in "globale Hektar” umgerechnet (um die Länder vergleichbar zu machen); dieser ist jedoch eine konstruierte Einheit, die mit der Realität nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht;
  • nicht-erneuerbare Ressourcen werden nur indirekt einbezogen;
  • der Umweltverbrauch von eingeführten Gütern wird den Endverbrauchern angelastet, unabhängig davon, ob sie über Wissen über die Ressourcenintensität der Produktion der importierten Güter verfügen oder diese beeinflussen können.

Hauptkritikpunkt ist, "dass der Fußabdruck vorgibt, die Grenze eines nachhaltigen Nutzungsniveaus auszuweisen und eine Übernutzung des vorhandenen Naturkapitals quantifizieren zu können, diese Berechnungen jedoch auf einer Vielzahl von (zum Teil stark kritisierten) Annahmen basieren” (S. Giljum et al. 2007, S. 3). Denn der globale Fußabdruck erfordert, von den konkreten Produktivitätsniveaus verschiedener Flächenkategorien und Länder zu abstrahieren und sie in universell genormte Flächeneinheiten umzurechnen. Im Unterschied zu früheren Berechnungen gehen inzwischen nationale Produktivitätsniveaus in die Kalkulation ein und werden mit dem Weltdurchschnitt der jeweiligen Flächenproduktivität in Bezug gesetzt. Ein zweiter Abstraktionsschritt ist aber unerlässlich: die Umrechnung verschiedener Flächen in einheitliche globale Hektar mithilfe so genannter Äquivalenzfaktoren, die unterschiedliche Flächenproduktivitäten (z. B. zwischen Acker- und Weideland) miteinander vergleicht und dafür auf globale Durchschnitte zurückgreift.

Insgesamt ist damit klar, dass der globale Fußabdruck Ungenauigkeiten enthalten muss, um berechnet zu werden. Dies ist der Preis für seine Stärke, nämlich "hochkomplexe Zusammenhänge der Wechselwirkungen zwischen Produktions- bzw. Konsumaktivitäten und der Belastung der Ökosysteme in einfacher und verständlicher Form" (S. Giljum et al. 2007, S. 3) darstellen zu können und dadurch sehr gut für Bildungszwecke und die Vermittlung von Nachhaltigkeitsproblemen geeignet zu sein. Hinzu kommt, dass er Vergleichsdaten für alle Länder weltweit in einer Zeitreihe bereitstellt.

Quellen: M. Borucke / D. Moore / G. Cranston / K. Gracey / K. Iha / J. Larson / E. Lazarus / J. C. Morales / M. Wackernagel / A. Galli (o. J.): "Accounting for demand and supply of the Biosphere’s regenerative capacity: the National Footprint Accounts’ underlying methodology and framework", Global Footprint Network und S. Giljum, / M. Hammer / A. Stocker / M. Lackner / A. Best / D. Blobel / W. Ingwersen / S. Naumann / A. Neubauer / C. Simmons / K. Lewis / S. Shmelev (2007): "Wissenschaftliche Untersuchung und Bewertung des Indikators ‚Ökologischer Fußabdruck‘", Dessau: Umweltbundesamt.

Betrachtet man die Länder nach ihrem Umweltverbrauch (ausgedrückt im ökologischen Fußabdruck) und ihrem menschlichen Entwicklungsstand (wie im Human Development Index, HDI, gemessen), zeigt sich, dass der ökologische Fußabdruck der einzelnen Länder im Jahr 2011 sehr unterschiedlich ausfällt [38]: In Europa schwankt das Niveau menschlicher Entwicklung zwischen Werten von 0,7 (Bulgarien und Rumänien) und 0,9 (Niederlande, Irland, Deutschland und Schweden). Der damit verbundene ökologische Fußabdruck weicht stark voneinander ab und bewegt sich zwischen 2,8 bis 8,3 Hektar [39]. Den größten Fußabdruck in Europa haben Dänemark, Belgien und die Niederlande. Schweden, Finnland, Lettland und Estland haben wegen ihrer großen Waldflächen und Fischgründe einen "Überschuss", das heißt ihr hoher Fußabdruck wird durch große Reserven überkompensiert. Der ökologische Fußabdruck der meisten europäischen Länder liegt zwei bis dreimal so hoch wie das global durchschnittlich nachhaltige Maß pro Kopf. Bulgarien und Rumänien haben die kleinsten Fußabdrücke, aber zugleich die niedrigsten Werte für die menschliche Entwicklung in Europa.

Insgesamt wird zweierlei deutlich: Länder mit einem sehr hohen menschlichen Entwicklungsniveau (Werte zwischen 0,8 und 1) weisen sehr unterschiedliche, aber insgesamt nicht nachhaltige Umweltverbräuche auf. Herkömmliche Industrialisierungs- und Modernisierungsstrategien sind fast zwangsläufig mit großer Umweltzerstörung verbunden. Denn alle Länder, deren aggregierter Umweltverbrauch sich im Rahmen des ökologisch Möglichen bewegt, sind – gemessen am HDI – arm. Ihre Bevölkerung hat mehrheitlich keinen Zugang zu Bildung und Gesundheit, verfügt über ein extrem niedriges Einkommen und konsumiert kaum. Es gibt kein Land, das einen hohen menschlichen Entwicklungsstand in Verbindung mit einem ökologischen Fußabdruck im Rahmen des Zulässigen erreicht. Obgleich der ökologische Fußabdruck nur ein grober Indikator für den tatsächlichen Umweltverbrauch ist und der HDI nur einen Teil der Indikatoren für Wohlergehen und Zufriedenheit abbildet, kann aus den Statistiken geschlossen werden: Will man globale Gerechtigkeit erreichen und zugleich den nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, die Teil Gottes Schöpfung sind, erreichen, sind materielle Einschnitte zulasten der Reichen und zu Gunsten der Armen unserer Erde geradezu unausweichlich.

Insgesamt und somit global betrachtet war Wirtschaftswachstum mit der absoluten Zunahme des Verbrauchs an (überwiegend fossiler) Energie und natürlichen Ressourcen verknüpft [40]. Moderne Technologien und Verfahren haben es in Industrieländern zwar ermöglicht, die Energie- und Ressourceneffizienz zu steigern. Dies hat aber nur zu einer relativen Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch geführt, nicht jedoch zu einer Senkung des absoluten Verbrauchs. Denn energie- und materialeffiziente Elektrogeräte werden billiger und damit wird es möglich, dass ein Haushalt mehrere von ihnen besitzt: statt einen Fernseher im Wohnzimmer mehrere in den verschiedenen Räumen des Hauses, statt eines Telefons für die Familie ein schnurloses Telefon oder Handy für jedes Familienmitglied. Ähnliche Muster werden sich in den aufstrebenden Entwicklungs- und Schwellenländern duplizieren und globale Umweltprobleme nochmals erheblich verschärfen, soweit nicht solidarisch und kreativ zugleich in allen Ländern der Erde gegengesteuert wird.

Festzuhalten bleibt, dass der menschliche Umweltverbrauch ein derart großes Ausmaß erreicht hat, dass verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das gegenwärtige Erdzeitalter als "Anthropozän" bezeichnen. Damit ist gemeint, dass die aggregierten Folgen menschlichen Handelns (und nicht mehr natürliche Prozesse) die weitere geologische Entwicklung der Erde bleibend bestimmen werden. Eine gerechte Verteilung der endlichen Ressourcen dieser Erde kann nur durch ein akzeptiertes System der Global Governance erreicht werden, denn: Was geschieht, wenn immer mehr Entwicklungsländer wirtschaftlich aufsteigen und dann diesem industriegesellschaftlichen Konsum- und Produktionsmuster folgen? Heute haben weltweit etwa 1,3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Strom [41], ca. 870 Millionen sind unterernährt [42] und 783 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser [43]. Wirtschaftswachstum wird ohne Zweifel wichtig sein, um diesen Menschen würdigere Lebensumstände zu verschaffen. Wird ein Land reicher, steigt aber auch sein Umweltverbrauch. Dies hat verschiedene Gründe: Generell wird außerhalb der OECD-Länder auf einem deutlich niedrigeren Effizienzniveau produziert. Am niedrigsten ist dieses in den Ländern Subsahara-Afrikas und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Mit zunehmendem Wohlstand verändern sich aber auch die Konsummuster: Es steigt zunächst die Nachfrage nach Fleisch, tierischen Fetten und Fisch, Obst und Gemüse, strombetriebenen Haushaltsgeräten, Telekommunikation und Motorisierung; es werden außerdem mehr Materialien und mehr Energie für den Bau und Betrieb von Gebäuden, Infrastruktur etc. gebraucht.

Beispiel Fleisch: Schätzungen zufolge wird sich der weltweite Fleischkonsum pro Kopf bis 2050 fast verdoppeln; in Asien wird er sich sogar verdreifachen. Dies hat zur Folge, dass mehr Flächen für den Anbau von Tierfutter benötigt werden und dass ein wachsender Teil des angebauten Getreides dafür verwendet wird [44]. Dadurch steigt der Einsatz von Land, Wasser und Energie in der Landwirtschaft. Insgesamt wird geschätzt, dass durch steigende Einkommen und das Bevölkerungswachstum die Nachfrage nach dem heute vielerorts bereits knappen Süßwasser bis 2050 um 50 Prozent steigen wird [45]. Die zunehmende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln wird unter anderem durch die Erhöhung der weltweiten Agrarproduktivität aufgefangen werden müssen. Offen ist dabei, wie sich das Produktivitätswachstum entwickeln wird. Derzeit ist angesichts der seit 2008 enorm gestiegenen Agrarpreise ein Investitionsboom in der Landwirtschaft feststellbar. In Subsahara-Afrika und Lateinamerika kommt es zugleich zur Ausdehnung von Agrarflächen und zu einer Zunahme der Intensivlandwirtschaft. Sichtbares Zeichen für die wachsenden Investitionen in ländlichen Regionen sind die steigenden Käufe großer Landflächen durch in- und ausländische Investoren [46]. Produktivitätssteigerungen erfordern keineswegs eine Konzentration der Besitzverhältnisse, vielmehr ist das Potenzial für Produktivitätssteigerungen auf den Flächen von Kleinbauern sehr hoch, gerade in sog. geographischen "Ungunstgebieten" [47].

Derzeit ist eine Verschärfung der Landnutzungskonflikte vorprogrammiert: zwischen Kleinbauern und kommerziellen Großbetrieben, zwischen Agrarnutzung und Biodiversitäts-/Klimaschutz, zwischen dem Anbau von Futter- und Nahrungsmitteln, zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln und "Bioenergie".

Festzuhalten ist, dass Nahrungsmittelknappheit von vielen Faktoren bestimmt wird. Im Agrarsektor gehen fast 30 Prozent der Ernten durch fehlende oder falsche Lagerhaltung und mangelnde finanzielle und infrastrukturelle Ausstattung ländlicher Räume verloren. In den Industrieländern werden ca. 30 Prozent der verarbeiteten Lebensmittel kurz vor oder nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums weggeworfen, auch wenn sie genießbar sind. Knappheiten auf den Weltmärkten sind also nicht immer mit "physischen Knappheiten" gleichzusetzen, sondern grundsätzlich vermeidbare Lager- und Transportverluste sowie gedankenloses und verschwenderisches Konsumverhalten tragen das Ihrige bei.

Vor diesem Hintergrund stehen Entwicklungs- und Industrieländer vor der dringenden Herausforderung, ihre Produktions- und Konsummuster insgesamt umwelt- und sozialverträglich zu gestalten. Eine ganz zentrale Herausforderung der nachhaltigen Entwicklung ist heute, den Trend zu mehr globalem Wohlstand so zu gestalten, dass keine Menschen ausgeschlossen werden und dass die breite Bevölkerung nicht nur in naher Zukunft, sondern auch auf lange Sicht über bessere Lebensbedingungen verfügen kann. Die reichen Länder sollten dabei die Verantwortung übernehmen und vorangehen: weil sie nach wie vor den im Durchschnitt höchsten konsumbedingten Ressourcenverbrauch aufweisen, weil sie historisch gesehen den absolut höchsten Verbrauch haben, weil es schwer vermittelbar ist, dass anderen Gesellschaften das verwehrt würde, was hiesige Gesellschaften seit Jahrzehnten beansprucht haben, und schließlich, weil ihnen nach wie vor eine gewisse Vorbildfunktion zugeschrieben wird.

Kaum einer der negativen Umwelttrends kann von der nationalen Politik allein gestoppt werden, sondern dazu bedarf es in den meisten Fällen der Rahmung und Unterstützung durch globale Prozesse und multilateral vereinbarte Regelwerke. Die genannten negativen Umwelttrends sind Ergebnis sowohl lokaler, regionaler als auch globaler Prozesse. Zugleich haben sie ubiquitäre Wirkungen. Dass das Ausmaß der Verursachung und der Folgewirkungen territorial auseinander fallen, ist nicht nur für den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust kennzeichnend. Vielmehr gilt dies angesichts des ökonomischen Globalisierungsprozesses mittlerweile für sehr viele Umweltprobleme.

Die Herausforderung liegt also darin, außer den lokalen bzw. regionalen Produktions- und Konsummustern, auch den internationalen Handel und die Zusammenarbeit – sowohl die staatliche als auch die privatwirtschaftliche – so zu gestalten, dass sie ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeitserfordernissen einschließlich der Erfordernisse der Ernährungssicherung gerecht werden.

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