Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

4. Institutionen der globalen Kooperation und ausgewählte Reformvorschläge

Die Analyse der Dimensionen von Globalisierung (Kap. 2) in Zusammenschau mit den theologisch abgeleiteten Prinzipien (Kap. 3) zeigt zumindest viererlei:

  • Rückschläge und Fortschritte auf dem Weg zu "Global Economic Governance": Die ökonomische Globalisierung hat zu einer Vielzahl sich überkreuzender transnationaler Strukturen und Beziehungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren geführt, wodurch die Unterscheidung zwischen innen- und außenpolitischen Problemlagen diffus wird. Grenzüberschreitender Handel, transnationale Unternehmen, liberalisierte Finanzmärkte und eine nie dagewesene physische und virtuelle Mobilität erzeugen Herausforderungen, die auf nationalstaatlicher Ebene allein nicht gelöst werden können. Ein wachsender Teil der ökonomischen und sozialen Beziehungen entziehen sich immer mehr der nationalstaatlichen Politik. In der Folge kam es zu einer Internationalisierung von Politik: Problemlösungen wurden auf die internationale Ebene verlagert, wenn nicht manchmal sogar abgeschoben, private Initiativen, aus der Wirtschaft und der (übrigen) Zivilgesellschaft für Nachhaltigkeit wurden begrüßt. Aber insgesamt erwiesen sich diese Reaktionen als bei weitem nicht effektiv genug für die erfolgreiche Bewältigung globaler Herausforderungen – seien sie ökonomischer, sozialer, ökologischer oder friedenspolitischer Art. Kritiker könnten anmerken, dass es der globalen Zusammenarbeit bislang noch nicht einmal gelungen ist, die Problematik der Loslösung finanzieller Ströme von der Realwirtschaft zu revidieren. Und dies, obgleich dieses Problem grundsätzlich reversibel ist und im Vergleich zu den Umweltkrisen keineswegs eine langfristige Bedrohung der Schöpfung darstellt. Auf der anderen Seite gibt zwar nicht der Umgang mit den Krisenursachen, aber mit den Folgen der Krise ein wenig Hoffnung. So gingen z. B. fast alle G20-Staaten mehr oder weniger koordiniert vor, und innerhalb der Europäischen Union ist es zumindest bisher einigermaßen gelungen, einzelne Mitgliedstaaten nicht gänzlich fallen zu lassen. Ein Hoffnungszeichen ist auch, dass sich die Staatengemeinschaft an den bisherigen Lasten der "Eurokrise" beteiligte. Allerdings mag dies weniger christlichen Überzeugungen als dem Bewusstsein erheblicher gegenseitiger Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt geschuldet sein. Wie auch immer motiviert: Die Bereitschaft zu Global Governance ist – wenigstens hinsichtlich ökonomischer Sphären – prinzipiell gestiegen.
  • Soziale und ökonomische Gerechtigkeit: Gleichzeitig hat unter anderem die ökonomische Globalisierung Wachstumsprozesse in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern mitbefördert, allen voran in den großen bevölkerungsreichen Ländern China, Indien, Brasilien und Indonesien. Einkommensungleichheit hat zwar international und vielerorts auch intranational zugenommen, aber zugleich ist extreme absolute Armut in vielen Ländern spürbar zurückgegangen, wenn auch nicht in allen Ländern gleichermaßen und vereinzelt gar nicht. Ob Wirtschaftswachstum armutsreduzierend und ungleichheitsmindernd wirkt, hängt wesentlich davon ab, ob die wirtschaftlichen Spielräume für Sozial- und Umverteilungspolitiken, Bildungs- und breitenwirksame Infrastrukturmaßnahmen genutzt werden. Ob sich Wachstum für breite Bevölkerungsgruppen Einkommen steigernd auswirkt, ist vorrangig eine Frage nationalstaatlicher Entscheidungen und Prozesse. Angesichts der extremen und zugleich zunehmenden internationalen Einkommensungleichheit, die jedes Ausmaß innergesellschaftlicher Ungleichheit sprengt, wird indes zugleich deutlich, dass die nationale Ebene allein unzureichend ist, um den in Kapitel 3 rekapitulierten Anforderungen an ein gerechtes Miteinander auch nur annähernd zu genügen. Insoweit ist die Staatengemeinschaft – allen voran die wirtschaftlich weiter entwickelten Staaten – unabhängig von Schuldzuweisungen auch hier weiterhin gefordert, ihr Engagement auszudehnen.
  • Ressourcenverbrauch und Schutz der Schwächsten: Die wirtschaftlichen Erfolge mehrerer Entwicklungs- und Schwellenländer haben zugleich die Globalisierung der Produktions- und Konsummuster der "modernen" Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft beschleunigt. Damit hat der Umweltverbrauch stark zugenommen. Zwar besteht auch hier ein gewisser Spielraum für nationale Maßnahmen, aber gerade aufgrund des globalen Charakters vieler drängender Umweltprobleme, als auch der immer stärkeren internationalen ökonomischen Verflechtungen lassen sich die meisten Umweltprobleme und damit die Bewahrung der Schöpfung und der Schutz der Schwächsten nicht (mehr) im nationalen Alleingang bewältigen.
  • Weltwirtschaftliche und geopolitische Machtverschiebungen: Der wirtschaftliche Aufstieg verschiedener großer Entwicklungs- und Schwellenländer hat zu geopolitischen Machtverschiebungen geführt. Diese Entwicklung ist positiv zu beurteilen, da mehr Menschen nicht nur wirtschaftlich besser gestellt sind, sondern grundsätzlich auch mehr Gehör finden. Gleichwohl hat es Prozesse der Global Governance insoweit erschwert, als zum einen mehr Akteure einzubinden sind, um wirksame Regelungen zu erreichen, und sich zum anderen die Gemengelage im Blick auf die Verantwortung und Verursachungen globaler Krisen kompliziert hat. Z. B. lässt sich die Klimakrise ohne erhebliche zukünftige Anstrengungen der aufstrebenden Volkswirtschaften nicht mehr bewältigen. Zugleich weisen diese aber aus nachvollziehbaren Gründen auf den noch höheren materiellen Wohlstand und die historische Verantwortung der klassischen Industrieländer hin. Global Governance wird somit einerseits schwieriger, andererseits noch dringlicher.

Als Zwischenfazit muss daher festgehalten werden: Die derzeitige Global Governance-Architektur hat durchaus Erfolge zu verzeichnen, ist aber bislang ungenügend, um die genannten und darüber hinausgehenden Herausforderungen zu bewältigen. Entsprechend gibt es eine Reihe von Reformvorschlägen, um Global Governance gerechter, solidarischer, transparenter und effektiver zu machen und damit reale Beiträge zur Verbesserung der Lebensbedingungen weltweit zu leisten. Das folgende Kapitel befasst sich mit den existierenden Prozessen und Strukturen sowie mit jüngeren prominenten Reformvorschlägen.

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