Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

2.2 Der Aufstieg einiger Entwicklungs- und Schwellenländer: ökonomische und politische Machtverschiebungen

Eine weitere Welle der Globalisierung hängt mit den Machtverschiebungen zusammen, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg einzelner großer Entwicklungs- und Schwellenländer einhergehen. Deren Aufstieg zeigt zugleich die Abschwächung des Einflusses "westlicher Industrieländer" an. Das Wachstum großer Entwicklungsökonomien erhöht deren politisches Gewicht auf globaler Ebene, vergrößert ihre Handlungsspielräume und die Abhängigkeit anderer Länder von diesen Ökonomien. Auch dies hat die Finanzkrise und in noch stärkerem Maße die Eurokrise verdeutlicht. Die Verschiebungen zeigen sich sowohl am sinkenden Anteil der OECD-Länder am Weltbruttoinlandsprodukt als auch darin, dass Europa im Nachgang der Finanzkrise weniger auf die US-amerikanische Wirtschaft, sondern auf Asien und Lateinamerika setzte, um die schlimmsten Beschäftigungseinbrüche durch Exporte abzufedern. Schließlich manifestiert sich die wirtschaftliche und vor allem wachsende politische Bedeutung dieser Entwicklungs- und Schwellenländer darin, dass die G8 bei dem Versuch, die Finanzkrise zu bewältigen, faktisch von der G20 abgelöst wurde.

Der Anteil der Nicht-OECD-Staaten am globalen Bruttoinlandsprodukt ist von ca. 40 Prozent im Jahr 2000 auf fast 50 Prozent im Jahr 2010 gestiegen. Für das Jahr 2030 wird erwartet, dass diese Länder an die 60 Prozent erwirtschaften werden [24].

Gleichzeitig hat die Gruppe der Entwicklungsländer, die vom Weltmarkt zeitweise nahezu abgekoppelt waren, ihren Weltmarktanteil am Handel erheblich steigern können. Entwicklungs- und Schwellenländer haben mittlerweile einen Anteil von ca. 40 Prozent am internationalen Warenhandel und von ca. 30 Prozent am Dienstleistungshandel (2010) [25]. Gleiche Steigerungen gelten für den Bereich der Auslandsdirektinvestitionen: 45 Prozent der Investitionen fließen in diese Länder, 22 Prozent stammen aus diesen Ländern [26]. Ein dominanter Akteur ist China mit einem Anteil von etwa 10 Prozent sowohl am Welthandel als auch an den eingehenden Direktinvestitionen.

Durch diese Verschiebungen im weltwirtschaftlichen Gefüge stieg nicht nur die Abhängigkeit der westlichen Industrieländer von den Entwicklungs- und Schwellenländern, sondern zugleich konnten diese ihre ökonomische Abhängigkeit von den klassischen Industrieländern zumindest in relativer Hinsicht schmälern, da der Süd-Süd-Handel enorm gewachsen ist: Er hat sich zwischen 1990-2008 verzehnfacht, während sich der gesamte Welthandel in derselben Zeit vervierfacht hat. Derzeit findet bereits die Hälfte des Handels der Entwicklungs- und Schwellenländer innerhalb der eigenen Ländergruppe statt [27].

Parallel zu dieser Dynamik hat die Zahl der extrem Armen weltweit erheblich abgenommen: seit den 1990er Jahren weltweit um etwa 620 Millionen Menschen (510 Millionen davon in China). In China waren 1981 mehr als 80 Prozent der Bevölkerung extrem arm, 2005 waren es weniger als 20 Prozent. In Indien war der Trend wesentlich schwächer ausgeprägt: Der Anteil der extrem Armen sank von 60 Prozent im Jahr 1980 auf ca. 40 Prozent. Gleichzeitig hat jedoch in vielen Entwicklungsländern, allen voran in China, die Einkommensungleichheit zugenommen. Leichte Verbesserungen gibt es aber auch, beispielsweise in Indonesien oder in Brasilien, einem Land, das lange Zeit durch eine extrem hohe Einkommenskonzentration geprägt war. In Subsahara-Afrika blieb der Anteil der Armen in den meisten Ländern seit 1990 unverändert hoch oder stieg sogar an.

Bereits heute lebt die Hälfte der Menschen, die zur globalen Mittelschicht mit einen Einkommen zwischen 10 und 100 US-Dollar pro Tag gezählt werden, in Entwicklungsländern: Nach Berechnungen von Homi Kharas sind dies eine Milliarde Menschen. Er zählt diejenigen Haushalte zur Mittelschicht, die täglich 10 bis 100 US-Dollar ausgeben. Bis 2030 erwartet Kharas, dass die globale Mittelschicht auf 4,8 Milliarden Menschen anwächst, und dass diese Menschen zu fast achtzig Prozent in Entwicklungsländern leben werden. Die Weltbank hingegen hat in einer Studie von 2007 Werte verwendet, die den westlichen Einkommensverhältnissen viel näher kommen, und zwar jährliche Haushaltseinkommen von 16.000 bis 68.000 US-Dollar. Diese Studie zählte 2007 global 400 Millionen Menschen zur Mittelschicht und erwartet ein Anwachsen auf 1,2 Milliarden Menschen bis 2030, von denen mindestens die Hälfte in Asien leben wird [28]. Der relativen Verschiebung der Produktionsaktivitäten nach Asien folgen damit nun auch die konsumtiven Aktivitäten [29].

Kasten 3: Relative und absolute Definitionen von Mittelschicht

Das Ausmaß des Wachstums der globalen Mittelschicht schwankt je nachdem, wie die Zugehörigkeit zur Mittelschicht definiert wird. Gemeinsamer Bezugspunkt aller Definitionen ist das Einkommen; manche verwenden einen relativen Maßstab, andere einen absoluten. Relativen Definitionen zufolge zählt zur Mittelschicht, wer innerhalb einer gewissen Bandbreite der Gesamteinkommensverteilung der Bevölkerung liegt. Für Nancy Birdsall et al. (2000, S. 3) zählen diejenigen zur Mittelschicht, die 75 bis 125 Prozent des mittleren Einkommens in einem Land erwirtschaften. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung verwendet eine Definition, die von 70 bis 150 Prozent des mittleren Einkommens ausgeht.

Jüngere Untersuchungen verwenden absolute Definitionen, die zumeist auf Armutsgrenzen basieren. Diese Definitionen gehen zumeist von den Ausgaben der Individuen oder Haushalte aus, da hierzu genauere Daten als zu den Einkommen vorliegen. Homi Kharas (2010) zählt diejenigen Haushalte zur Mittelschicht, die täglich 10 bis 100 US-Dollar ausgeben. Martin Ravallion von der Weltbank (2009) verfolgt einen Mischansatz, dem zufolge die Mittelschicht irgendwo zwischen 2 US-Dollar Haushaltsausgaben pro Kopf und Tag (der mittleren Armutslinie von 70 Ländern) und 13 US-Dollar (der Armutsgrenze der Vereinigten Staaten) angesiedelt ist. Andere Studien legen die Messlatte etwas höher. In einem Bericht der Weltbank von 2007 werden Werte verwendet, die den tatsächlichen westlichen Verhältnissen viel näher kommen: jährliche Haushaltseinkommen von 16.000 bis 68.000 US-Dollar (World Bank 2007).

In einem Punkt stimmen die meisten der genannten ökonomischen Definitionen überein: Das Einkommen der neuen Mittelschichten unterscheidet sich quantitativ von dem der Mittelschichten westlicher Industriegesellschaften. Die neuen Mittelschichten haben die Armutsgrenze größtenteils nur knapp überschritten, und die Grenze zwischen den beiden Einkommensgruppen ist manchmal nur hauchdünn und auch instabil. Im Falle einer Wirtschaftskrise laufen große Bevölkerungsgruppen Gefahr, aus der Mittelschicht heraus und wieder zurück in die Armut zu rutschen.

Quelle: A. Guarin / M. Furness / I. Scholz / S. Weinlich (2013): "Wiederholt sich die Geschichte? Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Auswirkungen des globalen Aufstiegs neuer Mittelschichten", Bonn: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik.

Diese Veränderungen werfen eine Reihe von Fragen auf: Was bedeutet das hohe Wirtschaftswachstum für die weitere soziale und politische Entwicklung der Länder Asiens, Lateinamerikas und Afrikas? Werden die zunehmenden Spielräume für eine Sozial- und Umverteilungspolitik genutzt werden, um Armut zu verringern? Werden die wachsenden Mittelschichten eine breitenwirksame Verbesserung der sozialen Sicherung einfordern oder eher Privilegien erringen wollen? Werden sich ihre politischen Präferenzen und Konsummuster denen der heutigen Industrieländer angleichen? Welche Bedeutung werden diese aufstrebenden Länder und ihre an Macht gewinnenden Mittelschichten Zielen wie Friedenssicherung, Armutsbekämpfung, Welthandel, Finanzmarktregulierung und Umweltschutz beimessen, die heute auf globalen Arenen verhandelt werden?

China, Indien, Brasilien und Südafrika – das sind die vier Länder, die üblicherweise genannt werden, wenn über Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik nachgedacht wird. Andere Länder rücken jedoch ebenfalls näher an das Einkommen der wirtschaftlich wohlhabenden Länder auf. So ist nach Angaben der OECD die Zahl der konvergierenden Länder, also derjenigen mit einem mindestens doppelt so hohen Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum wie der OECD-Durchschnitt, im letzten Jahrzehnt von 12 auf 65 gestiegen [30].

Der Ökonom Arvind Subramanian stellt diesen Trend in den Kontext einer Analyse, die von dem Ende der Dominanz der OECD und dem dauerhaften wirtschaftlichen Aufstieg zahlreicher Entwicklungsländer ausgeht. Aus der Analyse langer Zeitreihen über das Wirtschaftswachstum seit 1870 schließt er, dass sich die Weltwirtschaft in einer neuen Konvergenzphase befindet, mit der die "große Divergenz" an gesellschaftlichem Reichtum, Wirtschaftswachstum und Handelsmacht überwunden werden könne, die durch die industrielle Revolution zwischen die Länder gekommen war [31]. Subramanian prognostiziert, dass in einem Konvergenzszenario zwischen 2010 und 2030 fast siebzig Prozent des globalen Wachstums in Entwicklungsländern generiert werden wird. Hier wird der Motor der Weltwirtschaft liegen. Gemessen in Kaufkraftparitäten werden drei der sechs größten Volkswirtschaften der Welt Länder des Südens sein: China hat die USA bereits 2010 vom ersten Platz verdrängt, Indien wird Japan 2013 vom dritten Platz verdrängen und Brasilien den fünften Platz einnehmen [32].

Sollte dieses Konvergenzszenario tatsächlich Realität werden, entstünde ein ungeheurer Druck, die Koordination von Wirtschafts- und Umweltpolitiken zu verbessern, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene. Denn die ökonomischen Abhängigkeiten würden noch größer, und vor allem würde der Nutzungsdruck auf Erdatmosphäre, Land, Wasser und andere natürliche Ressourcen im Zuge eines anhaltend hohen Wirtschaftswachstums – teilweise noch weiter beschleunigt durch den demographischen Faktor – so rasant zunehmen, dass die negativen sozialen und ökonomischen Folgen unkoordinierter Politiken noch schneller und extremer spürbar würden. Es ist davon auszugehen, dass auch der gesellschaftliche Druck für aktive Umverteilungs- und Sozialpolitiken steigen. Denn Wirtschaftswachstum allein ist keine hinreichende Bedingung für Armutsreduzierung und Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt, wie nicht zuletzt auch die Geschichte der Industrieländer zeigt. Notwendig sind Sozialpolitiken, die einen breiten Zugang zu guten Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen eröffnen, für mehr Chancengerechtigkeit sorgen sowie gegen Altersarmut und Risiken wie Erwerbslosigkeit und Krankheit absichern. Diese Bedingungen sind zwar auch heute nicht in allen Industrieländern hinreichend gegeben, aber noch weniger in den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern, wie die regional sehr ungleichen Fortschritte bei der Armutsverringerung belegen [33]. In Ost- und Südostasien wurde die Einkommensarmut erheblich verringert, in Afrika und Lateinamerika deutlich weniger. In Zentralasien und im Nahen Osten hat die Armut seit 1990 sogar zugenommen. Insgesamt ist es besser gelungen, die Einkommensarmut zu verringern, als den Zugang zu Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherheit zu verbessern. Während in der Vergangenheit die Einkommensarmut ein brauchbarer Indikator war, um Armut auch in nicht-monetären Dimensionen zu erfassen, gilt dies heute nicht mehr. Eine weltweit wachsende Anzahl von Menschen, die nicht als einkommensarm gelten, hat keinen Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen oder "moderner" Energie [34]. In vielen Ländern haben die Menschen zudem kein Organisationsrecht, und damit fehlen freie Gewerkschaften, die angemessene Löhne und Gehälter aushandeln und zu einer gerechten Verteilung des Wirtschaftswachstums beitragen könnten. Außerdem fehlt es vielerorts an den politischen Freiheiten, die Voraussetzung sind, um soziale und der Umwelt förderliche Politiken einzufordern.

Obwohl die aufstrebenden großen Entwicklungs- und Schwellenländer Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika nach wie vor mit erheblichen Armutsproblemen zu kämpfen haben, sind sie aufgrund ihrer gewachsenen ökonomischen Bedeutung zu mächtigen politischen Akteuren geworden. Sie sind dabei, ihre außenpolitischen Beziehungen an ihre neugewonnene Rolle anzupassen, Prioritäten zu definieren und mit neuen Formaten zu experimentieren. In den internationalen Finanzorganisationen (IWF, Weltbank) haben sie sich mit Erfolg für höhere Stimmenanteile eingesetzt. In der G20 gehören sie mit Mexiko, Argentinien und der Türkei zu den wichtigsten Partnern der Industrieländer. Darüber hinaus kooperieren sie in unterschiedlichen losen politischen Gruppierungen mal mit den einen, mal mit anderen Staaten, je nach Thematik [35]:

  • Das "IBSA Dialogue Forum" der drei Demokratien Indien, Brasilien und Südafrika entstand 2003 auf Initiative des brasilianischen Außenministers, der zu einem Treffen einlud, um gemeinsam eine Reform der Vereinten Nationen und insbesondere des Sicherheitsrats anzumahnen, die dem gewachsenen Gewicht der Entwicklungsländer Rechnung tragen müsse. Seither hat sich das IBSA Forum thematisch erweitert und umfasst nun Fragen der Handels-, Verteidigungs- und Klimapolitik. Auf den regelmäßigen Treffen des IBSA Forums versammeln sich nicht nur Regierungsvertreterinnen und Regierungsvertreter, sondern auch Forschungseinrichtungen und (andere) nichtstaatliche Organisationen aus den drei Ländern.
  • Auf russische Initiative entstand 2008 die BRICS-Gruppe, die sich seit 2009 jährlich trifft und zu der Brasilien, Russland, Indien und China gehören; seit 2010 auch Südafrika. Die BRICS-Gruppe verhandelt sowohl interne Angelegenheiten (vor allem des Handels zwischen den Ländern) als auch gemeinsame Positionierungen in Fragen, die in den Vereinten Nationen verhandelt werden.
  • In der Klimapolitik kooperieren China, Indien, Brasilien und Südafrika seit 2009 in der BASIC-Gruppe. Die für Klimapolitik verantwortlichen Minister haben sich vierteljährlich getroffen, um gemeinsame Positionen zu erarbeiten (Verlängerung des Kyoto-Protokolls) und um die Anliegen der G77 zu vertreten.

Es gibt heute also wirtschaftlich mächtigere, aber immer noch arme und intra- wie international sehr ungleiche Entwicklungsländer, an deren internationale Politik angesichts ihrer wachsenden internationalen Bedeutung und gestiegener Kapazitäten auch erhöhte Anforderungen im Blick auf nationale und globale Politikziele zu stellen sind. Allerdings ist bei allen Bestrebungen nach einer konsistenten und effektiven Global Governance zu berücksichtigen, dass diese Länder nach bisheriger Wahrnehmung nicht bereit sind, den Souveränitätsgewinn, der ihnen in den vergangenen Jahrzehnten zugewachsen ist, sofort wieder zugunsten globaler Regime aufzugeben. Sie ziehen es vor, durch freiwillige nationale Politik auf globale Gefahren zu reagieren und sich lose zu koordinieren. Gleichzeitig sind sie bestrebt, ihre Führungsrolle in der Gruppe der G77 zu behalten und ihre Macht gegenüber den westlichen Industrieländern auszubauen, gerade und vor allem im Rahmen der G20.

Bei allen Unterschieden der politischen Institutionen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten haben die meisten wirtschaftlich erfolgreichen Entwicklungsländer gemeinsam, dass sie sich im Wesentlichen an der herkömmlichen Industrialisierungs- und Modernisierungsstrategie orientieren, die bereits den traditionellen Industrieländern zu hohem materiellen Wohlstand verholfen hat. Dieser war und ist mit erheblichen Umweltbelastungen verbunden. Bleibt es beim Business as usual, dann käme das Konvergenzszenario einer Globalisierung des Entwicklungspfads der klassischen Industrieländer gleich. Und diese ginge unweigerlich mit einem enormen Anstieg der ohnehin hohen Umweltbelastungen und -zerstörungen einher.

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