Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

Der anti-europäische „Tsunami“ ist ausgeblieben – Zum Ergebnis der Europawahlen

Katrin Hatzinger

Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) in den (noch) 28 EU-Mitgliedstaaten statt. Erfreulich war die im Gegensatz zu den Wahlen von 2014 wesentlich höhere Wahlbeteiligung. Nicht nur in Deutschland (61,4% im Vergleich zu 48,1% im Jahr 2014), sondern auch EU-weit (50,95% im Vergleich zu 42,61%).
Damit dürfte das Narrativ des Desinteresses der EU-Bürgerinnen und -bürger an der Europapolitik widerlegt sein und das neue gewählte Parlament hat einen gehörigen Legitimationsschub erhalten.
Der befürchtete „Tsunami“ der Europafeinde und Rechtsextremisten ist ausgeblieben. Sie haben ihren Stimmanteil EU-weit insgesamt nur unwesentlich ausbauen können. Allerdings fällt der starke Zuspruch auf, den die PiS in Polen, Fidesz in Ungarn, die Rassemblement National in Frankreich und die Lega in Italien erhalten haben. In Deutschland blieb die AfD hinter den Erwartungen zurück und lag bei 11 % (vier Prozentpunkte mehr als 2014). Sie zieht damit mit 11 Abgeordneten ins EP ein.
Die beiden großen Parteienfamilien, die Europäische Volkspartei (EVP) und die europäischen Sozialisten und Demokraten (S&D), haben jeweils verloren und stellen erstmals gemeinsam keine Mehrheit mehr. Die EVP hat 179 und damit 37 Sitze weniger als in der letzten Legislaturperiode. Die S&D-Fraktion hält nun 153 Sitze von 751 und damit 38 weniger als noch 2014. Dabei fallen die Verluste der deutschen Sozialdemokraten besonders dramatisch aus: Von 27,3 % bei den Wahlen 2014 sind sie auf 15,8% zurückgefallen und damit nur drittstärkste Kraft hinter den GRÜNEN.
Europaweit zählen die Liberalen und die GRÜNEN zu den großen Gewinnern der Wahl, wobei die GRÜNEN v.a. im Westen der EU gewonnen haben. Die liberale ALDE-Fraktion hat auch dank Macrons Bewegung „La République en marche“ 37 Stimmen dazu gewonnen und liegt bei 106 Sitzen. Damit ist der inzwischen unter dem Namen „Renew Europe“ firmierende liberale Zusammenschluss die drittstärkste Fraktion. Die FDP gewann bei den Wahlen zwei Prozentpunkte dazu und konnte ihr Abschneiden bei der Europawahl in Deutschland auf 5,4% verbessern. Viertstärkste Fraktion werden wohl die GRÜNEN. Sie gewinnen 22 Sitze dazu und haben insgesamt 75 Sitze inne. Besonders überzeugend war das Abschneiden von Bündnis90/Die GRÜNEN in Deutschland (20,5%).
Die europäische Linke musste insgesamt herbe Verluste hinnehmen. Die Fraktion GUE/NGL verlor 14 Sitze und liegt nun bei 38. Auch die deutsche Partei „Die Linke“ musste Verluste bei den Wahlen in Deutschland verkraften. Sie lag nur bei mageren 5,5%, ein Minus von 1,9% im Vergleich zu 2014. Die endgültige Anzahl der Sitze der einzelnen Fraktionen kann sich noch verändern, weil mitunter gerade bei kleineren und neuen Parteien noch unklar ist, ob und welcher der Fraktionen sie sich anschließen werden.
Deutschland hat insgesamt 96 Sitze.
Die Zeiten der großen Koalition sind im Europäischen Parlament passé. Für die Mehrheit der Stimmen ist künftig ein Zusammenschluss mehrerer Parteien notwendig. Dabei kommen die pro-europäischen Parteien auf ca. zwei Drittel der Abgeordneten.
Die vom italienischen Lega-Innenminister Salvini angestrebte große rechte Fraktion mit dreistelligen Abgeordnetenzahlen wird es in dieser Form nicht geben. Die neue Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) umfasst insgesamt neun Parteien, darunter die italienische Lega, die französische Rassemblement National, die AfD und die FPÖ. Das Werben um die Regierungsparteien aus Ungarn, Fidesz, die weiterhin der EVP angehören wird, und aus Polen, PiS, die der eurokritischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) angehört, war erfolglos. Die ID-Fraktion dürfte mit 73 Sitzen die fünftstärkste hinter den GRÜNEN werden.
Die Briten haben trotz des drohenden Brexits mitabgestimmt. Stärkste Kraft wurde die Brexit-Partei von Nigel Farage mit 31,6%. Aber auch die Liberaldemokraten mit ihrem „Remain“-Kurs schnitten erfolgreich ab, während Labour und die Tories dramatische Verluste erlitten. Für das EP bedeuten diese Ergebnisse, dass alle Fraktionen zunächst Verstärkung aus Großbritannien erhalten (bis auf die EVP). Mit dem Austritt der Briten Ende Oktober wird dann die jeweilige Fraktionsgröße teilweise wieder erheblich schrumpfen.
Insgesamt lässt sich eine größere Fragmentierung der Parteienlandschaft national und europäisch beobachten. Es wird je nach Thema immer wieder die Notwendigkeit bestehen, neue Allianzen zu schmieden. Für die Zukunft der EU lässt das Wahlergebnis auf eine lebendige demokratische Debattenkultur im EP hoffen, in der sich die (ehemals) „Großen“ nicht automatisch durchsetzen. Es bleibt abzuwarten, wie insbesondere die GRÜNEN mit ihrer neuen Rolle als Teil der pro-europäischen „Mehrheit“ umgehen werden. Das neue gewählte EP hat sich am 2. Juli 2019 konstituiert.

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