Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

EU-Erweiterung Türkei: äußerst bedenkliche Rückschritte hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten

Julia Maria Eichler

Der Rat für Allgemeine Angelegenheiten hat sich am 18. Juni 2019 mit den von der Europäischen Kommission am 29. Mai 2019 vorgelegten Fortschrittsberichten zur EU-Erweiterung befasst. Die jährlichen Berichte legen die Entwicklungen der Beitrittskandidaten, die Fort- oder Rückschritte bei der Umsetzung wichtiger politischer und wirtschaftlicher Reformen dar und sprechen Empfehlungen aus. Anhand von einzelnen Verhandlungskapiteln wird dabei die vollständige Übernahme des rechtlichen Besitzstandes der EU überprüft. Der Fortschrittsbericht der Türkei zeichnet ein überwiegend negatives Bild der Lage im Land. Die Türkei bewege sich immer weiter von der Europäischen Union weg, so EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. An der im Juni 2018 durch den Rat einstimmig getroffenen Feststellung, dass die Beitrittsverhandlungen praktisch zum Stillstand gekommen seien, habe sich nichts geändert. Die EU-Minister schlossen sich am 18. Juni 2019 diesem Votum an und äußerten ihre Besorgnis angesichts der bedenklichen Rückschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte. Sie betonen, dass die „anhaltende Verschlechterung in Bezug auf die Unabhängigkeit und die Arbeitsweise der Justiz nicht hingenommen werden“ könnte, „genauso wenig wie die fortgesetzten Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten“. Die Türkei müsse diese negativen Entwicklungen und die zahlreichen weiteren im Kommissionsbericht ermittelten ernsthaften Mängel und offenen Fragen dringend und effektiv angehen.
Die Türkei wies die Kritik des Fortschrittsberichts als unfair und unverhältnismäßig von sich. So werde der Reformprozess, den die Türkei nach dem Ende des staatlichen Notstands eingeleitet habe, nicht ausreichend gewürdigt, sagte der stellvertretende Außenminister Faruk Kaymakci. Der Bericht spiegele die „eigene Existenzkrise“ der EU wider.
Der Fortschrittsbericht betont die Bedeutung der Türkei als strategischen Partner, mit dem die EU in wichtigen Bereichen von gemeinsamem Interesse eine enge Zusammenarbeit pflege. Insbesondere wird die von der Türkei gewährte humanitäre Hilfe und Unterstützung für 3,6 Millionen registrierter syrischer und 370.000 registrierter Flüchtlinge aus anderen Ländern gelobt. Auch die EU-Türkei-Erklärung werde weiterhin umgesetzt.
Deutliche Rückschritte seien in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sowie bei dem Prinzip der Gewaltenteilung zu verzeichnen. Der nach dem Putsch verhängte Notstand habe zwar im Juni 2018 geendet, allerdings ohne zu konkreten Verbesserungen bei der Einhaltung der Menschenrechte zu führen. Nach Ende des Notstandes seien Gesetze erlassen worden, die die wesentlichen Elemente der Notstandsgesetzgebung aufrechterhalten würden, etwa hinsichtlich der Entlassung von Beamten, der Verlängerung der Haftdauer sowie der Beschränkung von öffentlichen Versammlungen.
Kritik gibt es auch an der Gewährung eines effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelfes, weil mehrere Gerichtsentscheidungen zugunsten bekannter Menschenrechtsverteidiger z.T. nach Äußerungen der Exekutive aufgehoben worden waren. Viele Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten der Zivilgesellschaft, Journalisten, Akademiker und Anwälte wären nach wie vor inhaftiert, z.T. ohne bisherige Anklageerhebung, und seien Verleumdungskampagnen durch Medien oder hochranginge Politiker ausgesetzt. Nach dem Stand im Dezember 2018 belaufe sich die Anzahl der Menschen, die sich ohne Anklage oder ohne anhängiges Verfahren im Gefängnis befindet, auf 57.000 und damit 20 % der Gefängnisinsassen.
Der Raum für zivilgesellschaftliches Engagement im Bereich Menschenrechte und Freiheit sei weiter geschrumpft, z.B. durch die weitere Einführung von administrativen Hürden. Seit Oktober 2018 seien zudem Organisationen der Zivilgesellschaft vom Konsultationsprozess zu Gesetzgebungsverfahren in den Parlamentsausschüssen ausgeschlossen.
Sowohl die Präsidentschaftswahl im Juni 2018 als auch die Kommunalwahlen im März 2019 seien 22
von hohen Wahlbeteiligungen gekennzeichnet gewesen. Die Wähler hätten dabei eine echte Wahl zwischen verschiedenen Parteien gehabt, trotz der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für die Kandidaten, etwa hinsichtlich der Medienpräsenz. Deutliche Kritik findet der Bericht hinsichtlich des nachträglichen Ausschlusses von vier gewählten Bürgermeistern und Stadtratsmitgliedern im Südosten der Türkei, obwohl deren Kandidatur vor der Wahl bestätigt worden war, der Vergabe des Bürgermeisteramtes an Zweitplatzierte sowie der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul im Juni 2019. Dieses Vorgehen würde dem Kernziel eines demokratischen Wahlprozesses zuwiderlaufen – nämlich abzusichern, dass der Volkswille sich durchsetze. Die Entscheidungen traf der Oberste Wahlrat. An dessen Unabhängigkeit von politischem Druck gibt es dementsprechend Zweifel.
Das Präsidialsystem, insbesondere die Abschaffung der Position des Premierministers und der Unterstaatssekretäre in Ministerien, habe zu einer größeren Politisierung in der öffentlichen Verwaltung geführt. Es werde weiterhin politischer Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt und eine große Anzahl dieser entgegen deren Willen versetzt. Dies beeinflusse die Unabhängigkeit und die Qualität und Effektivität der Justiz insgesamt.
Besondere Sorgen bereite die Situation in den Bereichen der Menschen- und Grundrechte. Obwohl der rechtliche Rahmen allgemeine Garantien der Menschen- und Grundrechte beinhalte, müsse er nach wie vor in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebracht werden. Ernsthafte Rückschritte gebe es im Bereich der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Die Rechtsdurchsetzung werde durch die Fragmentierung und begrenzte Unabhängigkeit der zuständigen öffentlichen Institutionen ebenso wie durch die fehlende Unabhängigkeit der Justiz behindert. Gewerkschaften stünden weiterhin unter erheblichem Druck.
Die freie Religionsausübung werde im Allgemeinen respektiert. Viele Feststellungen und Kritikpunkte fanden sich bereits in den letzten Berichten: So müssten immer noch die Empfehlungen der Venedig-Kommission zu dem Status von Religionsgemeinschaften in der Türkei umgesetzt werden. Dies betreffe insbesondere das Recht des Orthodoxen Patriarchen den Titel „ökumenisch“ zu benutzen. Anfragen von christlichen Gemeinden, Gebetsstätten zu eröffnen und Lehrpläne für Priester anzunehmen, wurden noch nicht beschieden. Hassreden und Verbrechen aus Hass gegen Christen und Juden würden nach wie vor berichtet. Auch die Nutzung der Hagia Sophia für religiöse Feiern sei nach wie vor Gegenstand von Kontroversen. Der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum verpflichtenden Religions- und Ethikunterricht, der Angabe der Religionszugehörigkeit im Ausweis und zu den Gebetshäusern von Aleviten müsse angemessene Beachtung geschenkt werden. Keine Fortschritte seien auch bei der Wiedereröffnung des griechisch-orthodoxen Chalki-Seminars zu verzeichnen.
Ferner sei die Situation für Minderheiten nach wie vor schwierig. Hassreden und Bedrohungen stellten, auch in den Medien, ein ernsthaftes Problem dar. Staatliche Zuschüsse für Minderheitenschulen seien gesunken. Allerdings fände nach wie vor ein Dialog zwischen Vertretern der Regierung und der Minderheiten statt. Weiterhin fehle eine neue Regelung bezüglich des Wahlverfahrens für nicht-muslimische Stiftungen. Die letzten waren 2013 aufgehoben worden. Dies führe dazu, dass diese Minderheitenstiftungen nicht in der Lage seien, neue Vorstandsmitglieder zu wählen. Der volle Respekt und Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten von Minderheiten in Übereinstimmung mit europäischen Standards sei noch nicht erreicht. Auch die Fragen des Eigentumsrechts von nicht-muslimischen Minderheiten seien nach wie vor offen.
Die Situation von Religions- und Glaubensgemeinschaften scheint sich kaum verändert zu haben. Die bestehenden Probleme etwa hinsichtlich des Wahlverfahrens, Eigentums oder Anfeindungen bleiben bestehen. Große Aufmerksamkeit erhielt daher Staatschef Erdogan, als er am 3. August 2019 in Istanbul den Spatenstich für den Neubau einer christlichen Kirche – der ersten seit Gründung der türkischen Republik 1923 – vollzog. In seiner Ansprache bezeichnete er es als Pflicht des Staates allen Bürgern zu dienen, egal welcher Religion sie angehörten. Kritik gibt es aus dem Ausland. Erdogan nutze die Grundsteinlegung zu Propagandazwecken, so Dikran Ego, Chefredakteur des unabhängigen assyrischen Satellitenfernsehsenders Assyrian TV aus Schweden.

Den Fortschrittsbericht finden Sie auf Englisch hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_EUE-1
Die Schlussfolgerungen des Rates finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_EUE-2

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