Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

Großer Wurf oder Luftnummer? Die Strategische Agenda des Europäischen Rates für 2019-2024

Damian Patting

Am 20. und 21. Juni 2019 hat der Europäische Rat die Strategische Agenda für die neue Legislaturperiode im Zeitraum von 2019 bis 2024 beschlossen. Vier Themen sollen schwerpunktmäßig verfolgt werden: Erstens der Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Freiheiten, zweitens die Entwicklung der wirtschaftlichen Basis, drittens die Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas, viertens die Förderung der Interessen und Werte Europas in der Welt. Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit sollen durch die Europäische Union (EU) gesichert werden. Die EU sei Garant für den Schutz dieser Werte. Im Rahmen einer umfassend gestalteten Migrationspolitik stünden die Kontrolle der Außengrenzen, eine Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern, ein Konsens für die Dublin-Reform sowie ein funktionierender Schengen-Raum im Mittelpunkt. In innenpolitischer Hinsicht stünden im Übrigen der Kampf gegen Terrorismus, Kooperation und Informationsaustausch, Cyberaktivitäten sowie der Umgang mit hybriden Bedrohungen und Desinformation im Fokus.
Die wirtschaftliche Entwicklung benötige eine solide Basis, um Aufwärtskonvergenzen zu verwirklichen. In finanzpolitischer Hinsicht müsse der Euro widerstandsfähiger gemacht und seine Rolle in der Welt gestärkt werden, die Wirtschafts- und Währungsunion vertieft sowie die Banken- und Kapitalmarktunion vollendet werden. Dies erfordere eine übergreifende Einbeziehung von Politikbereichen. Auch bedürfe es einer stärker koordinierten Industriepolitik. Der digitale Wandel und die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz müssten unter Wahrung digitaler Datensouveränität erfolgen. Unternehmertum und Innovation bedürften der Förderung auch für den Mittelstand. Unter Vermeidung von Fragmentierungen müssten gleiche Wettbewerbsbedingungen und an technologische und weltweite Marktentwicklungen angepasste Wettbewerbsrahmen bereitgestellt werden.
Der Klimawandel als existenzielle Bedrohung bedürfe umfassender Maßnahmen zur Bewältigung. Die EU müsse eine Führungsrolle für eine Klimawende im Einklang mit dem Pariser Klima-Abkommen übernehmen. Der Übergang zu erneuerbaren Energien müsse beschleunigt werden. Die Europäische Säule sozialer Rechte bedürfe weiterer Implementierung, wobei die jeweiligen nationalen Zuständigkeiten gebührend zu achten seien. Gleichstellung bringe auch wirtschaftlichen Nutzen. Verbesserungen in den Bereichen Sozialschutz, inklusiver Arbeitsmärkte und Verbraucherschutz würden dazu beitragen, den aktuellen Lebensstil zu bewahren. Geplant seien auch Investitionen in die Kultur und das kulturelle Erbe, die den Kern der europäischen Identität ausmachten.
Die Autonomie der EU sei zu steigern, damit Interessen gewahrt werden und der Lebensstil erhalten bleibe. Die EU müsse sich als treibende Kraft des Multilateralismus engagieren. Sie müsse ihren Einfluss zur Bekämpfung des Klimawandels nutzen; dazu gehöre auch die Umsetzung der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung. Kooperationen mit Partnerländern seien auch im Bereich der Migration nötig. Die beschlossene Partnerschaft mit Afrika sei umzusetzen. Interessen und Werte sollten selbstbewusst und entschlossen vertreten werden. Den europäischen wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Interessen sei deutlichere Priorität einzuräumen. Ressourcen müssten besser gebündelt werden. Eine ehrgeizige und robuste Handelspolitik auf multilateraler Ebene und in einer reformierten WTO sei von zentraler Bedeutung. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als deren Bestandteil, müssten besser mit übrigen Fragen der Außenbeziehungen verbunden werden. Die EU müsse für die eigene Sicherheit und Verteidigung mehr Verantwortung übernehmen. Sie werde weiter eng mit der NATO zusammenarbeiten. Die Beziehungen zu strategischen Partnern, einschließlich transatlantischer Partner, seien zentraler Bestandteil einer robusten Außenpolitik. Eine ressourceneffiziente Synergienutzung sei notwendig, um auf Augenhöhe mit anderen globalen Mächten zu agieren.
Es fällt auf, dass die Strategische Agenda die Festlegung einer klaren Richtschnur mit konkreten Vorgaben und Zielen für die nächsten fünf Jahre vermeidet. Dies erweckt den Eindruck, dass die Staats- und Regierungschefs der Agenda keinen allzu großen Stellenwert beimessen. Darin ist einerseits ein Nachteil zu sehen, da die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit, sich auf konkrete Ziele auf Ratsebene zu einigen, symptomatisch für die zu erwartende Arbeit der EU sein könnte. Darin liegt andererseits aber auch ein Vorteil, indem die in der vagen formulierten Agenda belassenen Spielräume der künftigen Europäischen Kommission ein breiteres Handlungsfeld eröffnen. In inhaltlicher Hinsicht fällt auf, dass der Klimaschutz eine zentrale Rolle spielen soll, da er erstens als eines der Hauptthemen („klimaneutrales und grünes Europa“) definiert wird und zweitens auch zu den zentralen „Interessen und Werten Europas in der Welt“ gezählt wird. Gleich an zwei Stellen ist in der Strategischen Agenda von der Notwendigkeit, dass Europa seinen „Lebensstil“ bewahrt und erhält, die Rede. Damit wird deutlich, dass es eher um ein Bewahren von Standards geht, als darum, die Europäische Union umfassend umzugestalten. Auffällig in Bezug auf die Implementierung der Europäischen Säule ist zudem, dass die sozialen Rechte lediglich unter gebührender Achtung der jeweiligen nationalen Zuständigkeiten umgesetzt werden sollen. Damit ist dem Grunde nach aber lediglich die geltende Rechtslage gemäß Art. 5 Abs. 1 und 3 EU-Vertrag wiedergegeben. Die letztlich abgestimmte Formulierung bestätigt aber den Eindruck von Vorbehalten einiger Mitgliedstaaten im Bereich der tieferen Integration im Bereich der Sozialpolitik.
Dass die Strategische Agenda ein bloßes Lippenbekenntnis sein könnte, deutet sich bereits mit einem Blick in die Schlussfolgerungen zu Fragen der Klimaneutralität des Europäischen Rates vom 20. Juni 2019 an. Dort „unterstreicht [der Rat], wie wichtig der Klimagipfel des Generalsekretärs der Vereinten Nationen im September […] ist“. Weiter heißt es, der Rat „begrüßt die aktive Beteiligung der Mitgliedstaaten und der Kommission an den Vorbereitungen“. Außerdem sollen der Ministerrat und die EU-Kommission „die Beratungen über die zu schaffenden Voraussetzungen, Anreize und günstigen Rahmenbedingungen“ voranbringen, um „[…] den „Übergang zu einer klimaneutralen EU“ zu verwirklichen. Ein entschiedenes Bekenntnis zur Treibhausgasneutralität sieht anders aus. Ein unerfreuliches und bemerkenswertes Novum hinsichtlich der Probleme bei der Einigkeit stellt in diesem Zusammenhang die Tatsache dar, dass es Estland, Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn gelungen ist, das Zieljahr 2050 nicht in die Schlussfolgerungen aufzunehmen. Vielmehr ist in einer Fußnote vermerkt, dass „[f]ür eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden [muss].“ Hier wird ein textstilistisches Mittel zum Sinnbild des fehlenden Zusammenhalts unter den Mitgliedstaaten in dieser Frage.
Die Strategische Agenda enthält also insgesamt zunächst wenig Neues und lässt noch keine konkrete Marschrichtung für den Zeitraum von 2019 bis 2024 erkennen.
Eine Erneuerung des europäischen Gedankens? Die Prioritäten des finnischen Ratsvorsitzes
Damian Patting
Zum dritten Mal nach 1999 und 2006 übernimmt für den Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis zum 31. Dezember 2019 Finnland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union (Ratspräsidentschaft). Die finnische Regierung hat ein Programm unter dem Titel „Sustainable Europe – Sustainable Future“ ausgearbeitet und am 26. Juni 2019 veröffentlicht. Nach dem Programm der finnischen Ratspräsidentschaft soll der Fokus insbesondere auf die Themen Klimaschutz, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Verteidigung sowie Migration gelegt werden. Begrüßenswert ist es, dass die Präsidentschaft Verbindungen zwischen den einzelnen Politikfeldern aufzeigt und damit die Kohärenz des politischen Agierens steigert. Die finnische Regierung betont schon in der Einleitung ihrer Programmagenda, dass die europäische Erfolgsgeschichte ihre Verankerung in demokratischen
Einen Link zur Strategischen Agenda finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_ZdE-3
Einen Link zu den Schlussfolgerungen des Rates finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_ZdE-4Ob die Strategische Agenda damit also tatsächlich als großer Wurf oder doch eher als Luftnummer einzuordnen ist, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob sich die Staats- und Regierungschefs auf diejenigen Fähigkeiten, die in der europäischen Diplomatie für den bisherigen Einigungsprozess fortschrittsprägend waren, zurückbesinnen können: Solidarität und die Bereitschaft zum Kompromiss.

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