Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

Justiz und Inneres: Mehr als nur ein bloßer Pyrrhussieg? Das EuGH-Urteil gegen Polen als objektiver Rahmen für einen faireren Rechtsstaatsmechanismus

Damian Patting

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 24. Juni 2019 in der Rechtssache C-619/18 entschieden, dass die polnischen Rechtsvorschriften über die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts im Widerspruch zum Unionsrecht stehen.
Bereits ein Jahr vor der nun ergangenen Entscheidung hatte der stellvertretende polnische Premierminister Jarosław Gowin keinen Zweifel daran gelassen, dass die polnische Regierung im Notfall bereit sei, einen Präzedenzfall zu schaffen und die Entscheidungen des EuGH als „gegen den Vertrag von Lissabon und den gesamten Geist der europäischen Integration“ zu begreifen und deshalb zu ignorieren. Zur Beseitigung der Altlasten des Sozialismus – so die polnische Regierung – sei die Reform des Justizsystems notwendig. Es ist also nicht auszuschließen, dass die polnische Regierung durch eine Fortsetzung der Reformen über die nun höchstrichterlich judizierte Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit als Verletzung der EU-Verträge schlicht hinweggehen könnte.
In der nun ausgeurteilten Hauptsache bestätigt das Luxemburger Gericht nun die bereits im Oktober letzten Jahres einer summarischen Prüfung unterworfene Rechtsfrage. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2018, Az. C-619/18 R, hatte der EuGH im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden, dass Polen unverzüglich die Anwendung der Art. 37 Abs. 1 bis 4 und Art. 111 Abs. 1 und 1a des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof vom 8. Dezember 2017 zur Senkung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof auszusetzen hat (siehe EKD Europa-Informationen Nr. 160). Der EuGH entsprach damit einem Antrag der Kommission, welche in Ergänzung zu der am 2. Oktober 2018 in der Hauptsache eingereichten Vertragsverletzungsklage eine Dringlichkeitsentscheidung beantragt hatte. Nach den streitgegenständlichen polnischen Vorschriften mussten Richter am Sąd Najwyższy (Obersten Gerichtshof), die das 65. Lebensjahr vor Inkrafttreten dieses Gesetzes bis spätestens zum 3. Juli 2018 vollendet haben, am 4. Juli 2018 in den Ruhestand treten, es sei denn, sie hatten zuvor bis zum 3. Mai 2018 eine Verlängerung des Richterdienstes unter den folgenden drei Voraussetzungen beantragt: erstens eine Erklärung, das Amt weiter auszuüben zu wollen, zweitens ein Gesundheits-Attest und drittens eine nach freiem Ermessen und ohne richterliche Kontrolle erteilte Verlängerungsgenehmigung durch den polnischen Präsidenten. Zudem räumen die Vorschriften dem Präsidenten das Recht ein, nach freiem Ermessen über eine Richterzahlerhöhung zu entscheiden.
Gerügt wurde erstens die Herabsetzung des Ruhestandsalters und zweitens die Befugnis des Präsidenten, die Verlängerung zu genehmigen oder abzulehnen. Dafür legen die Luxemburger Richter zunächst den Maßstab fest: Nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sei der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dies bedeute, dass die nationalen Gerichte im Außenverhältnis autonom sein müssen. Im Innenverhältnis müssten Richter unparteilich, sachlich und ohne Interesse am Ausgang des Rechtsstreits entscheiden. Die Grenzen der Spielräume für die nationale Ausgestaltung der richterlichen Unabhängigkeit seien jedoch überschritten, sobald Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle eingesetzt werden. Grundsätzlich könnten zwar Ziele der Beschäftigungspolitik für eine ausgewogene Altersstruktur Maßnahmen rechtfertigen, hier sei dies aber zweifelhaft. Denn nach den streitgegenständlichen Vorschriften des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof könne der Präsident der Republik frei bestimmen, die verkürzte Amtszeit eines Richters zu verlängern. Eine solche Regelung wecke Zweifel an der Plausibilität des Ziels einer Optimierung der Altersstruktur. Die polnischen Rechtsvorschriften, die plötzlich und erheblich das Ruhestandsalter senken, seien nach diesen Maßstäben nicht verhältnismäßig.
Die zweite Rüge betrifft die Regelung zur Verlängerung der Dienstzeit durch die Entscheidung des Präsidenten. In Anwendung der streitgegenständlichen Regelungen würden 15 von 27 Mitgliedern des Landesjustizrates nicht mehr wie bislang von der Richterschaft, sondern vom polnischen Parlament, dem Sejm, gewählt, was Zweifel an der Unabhängigkeit wecke. Problematisch sei zudem, dass keine Frist bestimmt sei, binnen derer der Präsident der Republik die Stellungnahme des Landesjustizrats einholen müsse. Nur vollständig autonome Gerichte seien vor Interventionen oder Druck von außen geschützt, welche die Unabhängigkeit des Urteils gefährden könnten. Nationale gesetzliche Bestimmungen zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit müssten – so die Vorgaben aus Luxemburg – so beschaffen sein, dass sie jeden Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen ausräumen. Diesen Anforderungen würden die polnischen Regelungen nicht gerecht.
Die dem Präsidenten der Republik eingeräumte Befugnis, nach freiem Ermessen zu entscheiden, ob er einem Richter eines obersten nationalen Gerichts wie dem Obersten Gerichtshof im Alter zwischen 65 und 71 Jahren zweimal für jeweils drei Jahre die weitere Ausübung seines Richteramts genehmigt, sei geeignet, Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.
Die qua Gesetz im letzten Jahr abgesetzten Richter sind nun zunächst wieder in ihre Funktionen zurückgekehrt. Im Oktober 2019 finden Parlamentswahlen in Polen statt. Diese dürften wohl richtungsentscheidend dafür sein, ob sich Polen den Vorgaben des EuGH nachhaltig fügt – ohne weitere Untergrabung rechtsstaatlicher Grundsätze – oder sich über den Richterspruch aus Luxemburg letztlich doch hinwegsetzt und den Kurs unbeeindruckt fortsetzt.
Zunehmend unterminieren Entwicklungen nicht nur in Polen, sondern auch in Ungarn, Rumänien und Malta das in Art. 2 EUV festgelegte Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Die Rechtsprechung des EuGH stellt ein wichtiges Reaktions-Instrument dar. Doch der juristische Sieg scheint teuer erkauft zu sein, zweifeln doch die an den Pranger gestellten Staaten häufig an der Objektivität der Entscheidungen des EuGH.
Das scheint auch die EU-Kommission erkannt zu haben. So hat die „Hüterin der Verträge“ in Entsprechung eines Initiativ-Berichts des Europäischen Parlaments vom November 2018 am 17. Juli 2019 konkrete Initiativen mit drei Handlungsschwerpunkten vorgeschlagen. Zuvor hatte sich die designierte Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, für eine Ergänzung der bestehenden Mechanismen ausgesprochen. Es gehe erstens um die Förderung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit. Dafür sei die Stärkung der Zusammenarbeit mit dem EU-Parlament und den nationalen Parlamenten sowie mit justiziellen Netzen genauso essenziell, wie der Ausbau der Kooperation mit dem Europarat und anderen internationalen Organisationen. Zweitens müsse Rechtsstaatlichkeits-Defiziten vorgebeugt werden. Dies könne ein Überprüfungszyklus gewährleisten, der einen jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in sämtlichen Mitgliedstaaten umfasst. Auch das EU-Justizbarometer soll zu diesem Zweck weiterentwickelt werden. Dabei sollen die Unabhängigkeit der Gerichte genauso wie die Achtung der Gewaltenteilung, die Fähigkeit zur Korruptionsbekämpfung oder die Wahrung von Medienpluralität auf den Prüfstand kommen. Hierbei muss eine klare Definition von Rechtsstaatlichkeit bestimmt werden, um zu verhindern, dass massive Rechtsstaatsverstöße gegen weniger gravierende Mängel aufgerechnet werden. Kriterien der Rechtsstaatlichkeit müssen also in transparenter Weise qualifizierbar und quantifizierbar gemacht werden. Einen dritten Handlungsschwerpunkt sollen wirkungsvolle Gegenmaßnahmen im Falle von Verstößen darstellen. Als Referenz sollten Entscheidungen des EuGH – wie die oben skizzierte – herangezogen werden, da diese die Eingriffe in die Rechtsstaatlichkeit als Verletzung des EU-Rechts unmissverständlich aufzeigen.
Die benannten ergänzenden Verfahren würden Problembehandlungen in einem frühen Stadium ermöglichen und könnten einen wichtigen Beitrag dafür leisten, den bisweilen formulierten Vorwurf der Stigmatisierung einzelner EU-Mitgliedstaaten zu entkräften. Dann würde es nicht bei einem Pyrrhussieg für die Rechtsstaatlichkeit bleiben, sondern die Entscheidungen des EuGH könnten einen objektiven Rahmen bilden, der die Herrschaft des Rechts zu einem – aus Sicht aller Mitgliedstaaten, einschließlich der nach eigenem Selbstverständnis „illiberalen Demokratien“ – unbestrittenen Kernbestand des EU-Rechts machen würde.

Das Urteil des EuGH finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_JuI-1
Die Mitteilung der EU-Kommission vom 17. Juli 2019 finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_JuI-2

 

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