Europa - Informationen Nr. 160

EuGH: Keine Überstellung bei menschen-unwürdigen Aufnahmebedingungen

Julia Maria Eichler, Damian Patting

Bereits 2011 hatten die Luxemburger Richter in der Rechtssache N.S. entschieden (C-411/10), dass ein Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der „Dublin II-Verordnung“ überstellt werden darf, wenn der Antragssteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens in diesem Mitgliedstaat Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Dies würde gegen Artikel 4 der Grundrechte-Charta (GRCh) (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) verstoßen. Der Fall betraf damals die katastrophalen Zustände für Flüchtlinge in Griechenland. Nun musste sich der Europäische Gerichthof (EuGH) wieder mit der Frage befassen, wie menschenunwürdig die Lebensverhältnisse vor Ort sein müssen, damit eine Überstellung in den normalerweise für die Bearbeitung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat nicht erfolgen darf, und hat dazu am 19. März 2019 ein Urteil gefällt.
In der Rechtssache „Jawo“ (C-163/17) war der Kläger im ursprünglichen Verfahren aus Gambia über Italien nach Deutschland gereist und hatte sowohl in Italien als auch in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Deutschland lehnte den Asylantrag als unzulässig ab und wollte den Kläger nach Italien überstellen.
Im Unterschied zu der Entscheidung von 2011 stellte sich die Frage, ob auch aufgrund der Lebensverhältnisse, denen die betroffene Person nach Zuerkennung des internationalen Schutzes ausgesetzt wäre, keine Überstellung erfolgen darf. Berichten u.a. der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zufolge, könnten Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, „einem Risiko ausgesetzt sein, bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden“. Das unzureichend entwickelte Sozialsystem Italiens werde für die eigene Bevölkerung durch familiäre Solidarität aufgewogen. Dieses System fehle bei Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt werde.
Ausgangsbasis war für die Richter der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen Mitgliedstaaten, der auf der Prämisse aufbaue, dass alle Mitgliedsstaaten gemeinsame Werte teilen. Der Grundsatz verlange von jedem Mitgliedsstaat, dass er davon ausgehe, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die dort anerkannten Grundrechte beachten. Dementsprechend gelte im Gemeinsamen Europäischen Asylverfahren die Vermutung, dass die Behandlung der Antragssteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit der Grundrechte-Charta stehe. Diese Vermutung könne allerdings widerlegt werden. Ein Mitgliedstaat dürfe daher einen Asylbewerber nicht überstellen, wenn ihm nicht unbekannt sein könne, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragssteller tatsächlich der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
Das N.S.-Urteil von 2011 habe zwar nur die Situation während des Asylverfahrens betroffen, der absolute Charakter von Art. 4 der GRCh schließe aber ein Überstellen in jeder Situation aus, in denen ein solches Risiko bestehe. Es könne daher keinen Unterschied machen, ob das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung während des Asylverfahrens oder nach Abschluss bestehe.
Damit ein solches Risiko vorliege, müssten jedoch die systematischen Schwachstellen eine „besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit“ erreichen. Dies wäre gegeben, wenn eine „vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen“. Zudem müsste diese materielle Not ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder die Person in einen Zustand der Verelendung versetzen, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Unter den elementarsten Bedürfnissen würden u.a. die Möglichkeiten, sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, erfasst.
Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person allein seien jedoch nicht ausreichend. Auch der Umstand, dass das familiäre Netz, welches die Unzulänglichkeiten des Sozialsystems kompensiere, fehle, genüge nicht. Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten oder günstigere Lebensverhältnisse im Aufenthaltsmitgliedstaat als im zuständigen Mitgliedstaat seien ebenfalls ungenügend. Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, dass eine Person nachweisen könne, dass eine Verelendung drohe. Diese könnte sich etwa aufgrund der besonderen Verletzbarkeit der Person ergeben.
Diese Ausführungen seien nicht nur auf Überstellungen in den zuständigen Asylstaat anwendbar, sondern auch für die Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig, wenn bereits ein anderer Mitgliedsstaat einen Schutzstatus gewährt habe. Diese Konstellation lag den mit Jawo verbundenen Rechtssachen zu Grunde (C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17). Den Betroffenen war in Bulgarien bzw. Polen subsidiärer Schutz zugesprochen worden. Aufgrund der prekären Lebensbedingungen dort waren sie aber nach Deutschland weitergereist und hatten hier erneut einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt.
Das deutsche Asylrecht legt fest, dass Asylanträge stets als unzulässig abzulehnen sind, wenn in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz (Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Schutz), gewährt wurde. Eine inhaltliche Prüfung erfolgt nicht mehr. Das Unionsrecht verbiete eine solche Handhabung nicht. Sie fände aber ihre Grenze, wenn es erwiesen sei, dass der Antragsteller sich in dem anderen Mitgliedstaat unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.
Der Gerichtshof beantwortete ebenfalls die Frage, wann jemand flüchtig im Sinne der Dublin III-Verordnung ist, denn die Überstellung des Klägers in der Rechtssache Jawo aus Deutschland nach Italien war daran gescheitert, dass der Kläger nicht in seiner Gemeinschaftsunterkunft anzutreffen war, sondern nach eigenen Angaben einen Freund besucht habe. Über eine Pflicht, jede Abwesenheit anzeigen zu müssen, sei er nicht informiert worden.
Die Frage ist u.a. deshalb relevant, weil die Dublin III-Verordnung in ihrem Artikel 29 Absatz 2 festlegt, dass eine Person innerhalb von sechs Monaten in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden muss. Danach geht automatisch die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem sich der Asylbewerber aufhält. Eine Ausnahme ergibt sich jedoch, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Die Frist wird dann auf bis zu 18 Monate verlängert.
Der EuGH musste demnach klären, ob flüchtig sein voraussetzt, dass man sich bewusst und gezielt dem Zugriff entzieht oder ob die Abwesenheit in Verbindung mit der fehlenden Information der Behörden genügt.
Die Richter stellen insoweit fest, dass die Dublin III-Verordnung, die hier Anwendung findet, selbst keine Definition enthalte. Aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Flucht“ ergebe sich aber, dass der Wille vorhanden sein müsse, sich jemandem zu entziehen oder zu entkommen. Allerdings würde dann den Behörden die Pflicht auferlegt, beweisen zu müssen, dass sich jemand entziehe, um die Überstellung zu vereiteln. die Behandlung der Antragssteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit der Grundrechte-Charta stehe. Diese Vermutung könne allerdings widerlegt werden. Ein Mitgliedstaat dürfe daher einen Asylbewerber nicht überstellen, wenn ihm nicht unbekannt sein könne, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragssteller tatsächlich der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
Das N.S.-Urteil von 2011 habe zwar nur die Situation während des Asylverfahrens betroffen, der absolute Charakter von Art. 4 der GRCh schließe aber ein Überstellen in jeder Situation aus, in denen ein solches Risiko bestehe. Es könne daher keinen Unterschied machen, ob das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung während des Asylverfahrens oder nach Abschluss bestehe.
Damit ein solches Risiko vorliege, müssten jedoch die systematischen Schwachstellen eine „besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit“ erreichen. Dies wäre gegeben, wenn eine „vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen“. Zudem müsste diese materielle Not ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder die Person in einen Zustand der Verelendung versetzen, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Unter den elementarsten Bedürfnissen würden u.a. die Möglichkeiten, sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, erfasst.
Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person allein seien jedoch nicht ausreichend. Auch der Umstand, dass das familiäre Netz, welches die Unzulänglichkeiten des Sozialsystems kompensiere, fehle, genüge nicht. Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten oder günstigere Lebensverhältnisse im Aufenthaltsmitgliedstaat als im zuständigen Mitgliedstaat seien ebenfalls ungenügend. Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, dass eine Person nachweisen könne, dass eine Verelendung drohe. Diese könnte sich etwa aufgrund der besonderen Verletzbarkeit der Person ergeben.
Diese Ausführungen seien nicht nur auf Überstellungen in den zuständigen Asylstaat anwendbar, sondern auch für die Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig, wenn bereits ein anderer Mitgliedsstaat einen Schutzstatus gewährt habe. Diese Konstellation lag den mit Jawo verbundenen Rechtssachen zu Grunde (C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17). Den Betroffenen war in Bulgarien bzw. Polen subsidiärer Schutz zugesprochen worden. Aufgrund der prekären Lebensbedingungen dort waren sie aber nach Deutschland weitergereist und hatten hier erneut einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt.
Das deutsche Asylrecht legt fest, dass Asylanträge stets als unzulässig abzulehnen sind, wenn in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz (Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Schutz), gewährt wurde. Eine inhaltliche Prüfung erfolgt nicht mehr. Das Unionsrecht verbiete eine solche Handhabung nicht. Sie fände aber ihre Grenze, wenn es erwiesen sei, dass der Antragsteller sich in dem anderen Mitgliedstaat unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.
Der Gerichtshof beantwortete ebenfalls die Frage, wann jemand flüchtig im Sinne der Dublin III-Verordnung ist, denn die Überstellung des Klägers in der Rechtssache Jawo aus Deutschland nach Italien war daran gescheitert, dass der Kläger nicht in seiner Gemeinschaftsunterkunft anzutreffen war, sondern nach eigenen Angaben einen Freund besucht habe. Über eine Pflicht, jede Abwesenheit anzeigen zu müssen, sei er nicht informiert worden.
Die Frage ist u.a. deshalb relevant, weil die Dublin III-Verordnung in ihrem Artikel 29 Absatz 2 festlegt, dass eine Person innerhalb von sechs Monaten in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden muss. Danach geht automatisch die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem sich der Asylbewerber aufhält. Eine Ausnahme ergibt sich jedoch, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Die Frist wird dann auf bis zu 18 Monate verlängert.
Der EuGH musste demnach klären, ob flüchtig sein voraussetzt, dass man sich bewusst und gezielt dem Zugriff entzieht oder ob die Abwesenheit in Verbindung mit der fehlenden Information der Behörden genügt.
Die Richter stellen insoweit fest, dass die Dublin III-Verordnung, die hier Anwendung findet, selbst keine Definition enthalte. Aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Flucht“ ergebe sich aber, dass der Wille vorhanden sein müsse, sich jemandem zu entziehen oder zu entkommen. Allerdings würde dann den Behörden die Pflicht auferlegt, beweisen zu müssen, dass sich jemand entziehe, um die Überstellung zu vereiteln. Die Dublin-Verordnung diene aber der zügigen Bestimmung des für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaates. Auch die SechsMonatsfrist solle gewährleisten, dass der Asylbewerber so „rasch wie möglich an den für die Prüfung ihres Antrags (…) zuständigen Mitgliedstaaten überstellt“ wird. Um ein effektives Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, dürften Behörden bei einer Person, die ihre zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die Behörden hierüber zu informieren, davon ausgehen, dass die Person sich entziehen will, um die Überstellung zu vereiteln. Voraussetzung sei, dass die Person über die Pflicht, die Behörden zu informieren, aufgeklärt worden ist. Dem Antragssteller stehe zudem die Möglichkeit offen, den Nachweis zu erbringen, dass er sich nicht den Behörden entziehen wollte.
Der EuGH verweist im Übrigen auf sein sogenanntes Shiri-Urteil (C-201/16), in dem er 2017 festgestellt hat, dass das Ablaufen der Überstellungsfrist von einem Antragssteller im Rahmen des Verfahrens gegen die Überstellungsentscheidung geltend gemacht werden kann.
Zudem stellen die Richter klar, dass für die Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedsstaat den zuständigen Staat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist und die neue Überstellungsfrist mitteilt. Es bedürfe keiner Abstimmung zwischen diesen beiden Staaten hinsichtlich der Überstellungsfristen.


Die Urteile des EuGH finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-160_AuM-6
und hier: http://bit.ly/ekd-NL-160_AuM-7

 

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