Europa - Informationen Nr. 160

Leitartikel: Demokratie stärken – auch ein Thema für die Kirche

OKR´in Katrin Hatzinger

Die Europäische Union (EU) ist ein Erfolgsprojekt: Sie garantiert ihren rund 512 Millionen Bürge­rinnen und Bürgern Frieden, Stabi­lität und Sicherheit in einer immer volatileren Weltlage. Sie steht für Rechtstaatlichkeit, den Schutz von Minderheiten, Freizügigkeit und einen barrierefreien Binnenmarkt, der Arbeitsplätze und Wohlstand generiert. Sie engagiert sich für Multilateralismus, Nachhaltigkeit, soziale Mindeststandards und bleibt die größte Geberin von Ent­wicklungshilfe weltweit. Doch sie befindet sich weiterhin im Krisen­modus: die Ungewissheit über den Brexit, der Streit um die Aufnah­me und Verteilung von Flüchtlin­gen, der schwelende Handelsstreit mit den USA sowie erodierender Wertekonsens stellen den Zusam­menhalt auf die Probe.

Sowohl zwischen den Mitgliedstaa­ten der EU auf der einen als auch zwischen den Bürgern und den na­tionalen politischen Institutionen auf der anderen Seite ist ein gro­ßes Misstrauen gewachsen, so dass Beobachter schon seit Längerem von einer „Krise der repräsentati­ven Demokratie“ sprechen. Da die EU-Institutionen als noch weiter vom Bürger entfernt empfunden werden als die nationale politische Entscheidungsebene, eignet sich die EU hervorragend als Zielschei­be für polemische Angriffe. Sicht­barster Ausdruck der aktuellen Legitimations- und Integrations­krise der EU ist der „Brexit“.

Richtungswahl im Mai

Die neunte Direktwahl zum Eu­ropäischen Parlament, die vom 23. bis zum 26. Mai 2019 in der EU stattfindet, ist daher mehr als je zuvor eine Richtungswahl: Wollen wir ein demokratisches, werteba­siertes und weltoffenes oder ein nationalistisches, autoritäres und undemokratisches Europa?

Was wir brauchen, ist eine starke und geeinte EU, die sich auf das Vertrauen und die Zustimmung ih­rer Bürgerinnen und Bürger stüt­zen kann.

(Kirchen-)Räume für Dialog und Begegnung

In diesen Zeiten sind auch die Kir­chen in der EU mehr denn je in der Verantwortung, Räume für Dialog und Begegnung zu schaffen. Viele der Spannungen und gegenseitigen Entfremdungen, die sich auf der politischen Bühne abspielen, spie­geln sich auch im kirchlichen Raum wider. Diese Beobachtung sollte Grund genug sein, noch intensiver und gezielter als bisher ökumeni­sche Partnerschaften und ökume­nische Netzwerke zu aktivieren, um miteinander im Gespräch zu bleiben oder in einen Dialog zu

treten. Ferner können Kirchen und ihre Gemeinden einen Beitrag dazu leisten, Bürgerinnen und Bür­gern eine Stimme zu geben.

In Zeiten eines schrumpfenden Raums für zivilgesellschaftliches Engagement, wie er aktuell etwa durch restriktive Gesetze und Ein­schränkungen der Förderung von NGOs in Ungarn zu beobachten ist, können Kirchen zudem zivil­gesellschaftlichen Akteuren Foren bieten, sich auszudrücken, und wieder ein Stück des öffentlichen Raums zurückzuerlangen. Dabei ist die Debatte um die Zukunft der EU durchaus auch ein Thema für die Kirche selbst. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bei­spielsweise positioniert sich pro-europäisch und begleitet die Ent­wicklung der EU-Gesetzgebung konstruktiv-kritisch. 2016 war die Zukunft der EU das Schwerpunkt­thema der EKD-Synode. Sie ruft gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz traditionell zur Teilnahme an den Europawahlen auf und hat über das Brüsseler Büro eine Handreichung zu den Europawahlen veröffentlicht. Dar­in findet sich ein Überblick über die Funktionsweise des Europäischen Parlaments. Auch die Spitzenkan­didaten und Wahlprogramme der deutschen Parteien werden kurz vorgestellt. Ausgewählte Beispiele aus der vergangenen Legislaturpe­riode zeigen, wie wichtig die Arbeit des Europäischen Parlaments auch für die Themenfelder ist, für die sich viele evangelische Christinnen und Christen interessieren und engagieren. Zahlreiche Landeskir­chen planen zudem Wahlaufrufe (teilweise mit ihren europäischen Partnerkirchen gemeinsam) und greifen das Thema auf Landessyn­oden, durch Veranstaltungen oder in Gemeindebriefen auf. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchen­tag (DEKT) gehören Podienreihen zu EU-Themen heute zum selbst­verständlichen Programmteil.

Im Vorfeld der Europawahlen will sich die Kirche aber auch dadurch einbringen, dass sie Bürgerdialo­ge über die Zukunft der EU ver­anstaltet. Das mag auf den ersten Blick überraschen oder befrem­den. Doch die EU kann nur gelin­gen, wenn Europa erfahrbar und vor Ort in den Mitgliedstaaten gelebt wird und wenn die vereng­te Perspektive des „wir hier“ und „die da in Brüssel“ überwunden werden kann. Warum sollten sich nicht auch die Kirchen neben Ak­teuren aus der Zivilgesellschaft und den politischen Parteien hier einbringen?

Unter den Gliedkirchen der EKD hat sich die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) als erste auf das Experiment eingelassen, im Jahr der Europawahl „Bürgerdialo­ge zur Zukunft der EU“ in Bran­denburg, in Frankfurt (Oder) und in Wittstock abzuhalten. Ziel war es, über die Bedeutung der Wahl aufzuklären, aber eben auch eu­ropäisches Engagement vor Ort sicht- und hörbar zu machen. In der Auftaktveranstaltung in Frank­furt (Oder) stand am 3. Februar 2019 naturgemäß die deutsch-polnische Kooperation im Mittel­punkt der Veranstaltung, an der neben einigen Kandidatinnen und Kandidaten zur Europawahl auch der Bürgermeister, der Leiter der Europaabteilung im Landesminis­terium sowie eine Studentin und die Präsidentin der Viadrina teil­nahmen. Rund 100 Menschen wa­ren der Einladung in die St. Ger­traud-Kirche gefolgt und nahmen mit Fragen und Anmerkungen von der Europäischen Asylpolitik bis hin zur Rolle von Lobbyisten in der europäischen Gesetzgebung rege Anteil an der Diskussion. Dabei wurde deutlich, dass gerade durch die Begegnung mit dem Land Polen und seiner Bevölkerung ein starkes europäisches Gefühl geprägt wor­den ist und Europa plötzlich ganz nah und präsent ist, eben nicht nur in Form von Fördergeldern oder Gesetzgebung.

 

Zukunft der EU – Vertrauen in die Demokratie

 

Ein Jahrzehnt nach dem Erschei­nen des Gemeinsamen Wortes „Demokratie braucht Tugenden“ haben die Deutsche Bischofskon­ferenz und der Rat der EKD am 11. April 2019 ein neues Gemein­sames Wort „Vertrauen in die De­mokratie stärken“ veröffentlicht. Darin bekennen sich die Kirchen ausdrücklich zur Mitverantwor­tung für unsere „Demokratie als politische Lebensform der Frei­heit“ und zu einem Europa, das „gleichermaßen auf der Demokra­tie und der Herrschaft des Rechts“ gründet.

In dem ökumenischen Papier heißt es u.a.: „Um mehr demokratische Partizipation in Europa zu gewähr­leisten, bräuchte es aber auch mehr Aufmerksamkeit der eu­ropäischen Öffentlichkeit für die Vorgänge auf der Ebene der Euro­päischen Union.“

Angesichts der Erosion in der Parteienlandschaft, der abnehmen­den Parteienbindung, der schwin­denden Wahlbeteiligung auf allen Ebenen und dem zunehmenden Misstrauen gegenüber den „Eli­ten“ sind Dialogforen wie etwa die „grand débat“ in Frankreich oder die „Citizens‘ Assemblies“ in Irland zukunftsweisend, um die Demokratie in den Mitgliedstaaten der EU aus der Krise zu führen.

Die von der Bürgerbewegung „Pulse for Europe“ angeregten eu­ropäischen Hausparlamente sind eine niedrigschwellige und gerade deshalb reizvolle Idee, im privaten Rahmen eine europäische Öffent­lichkeit herzustellen, ohne Vorga­ben EU-Themen zu diskutieren, die Ergebnisse an die EU-Politik zurückzuspielen und so die Kluft zwischen der EU-Politik und den Bürgerinnen und Bürgern zu über­winden.

Im Hinblick auf die Zukunft der Demokratie könnten Formate wie die „Citizens‘ Assemblies“ oder die „grand débat“ oder auch die europäischen Hausparlamente durchaus Vorbildcharakter haben und sollten weiterentwickelt wer­den. Nicht als Konkurrenz oder Ersatz zum bestehenden und be­währten System der repräsen­tativen Demokratie, sondern als wichtige Ergänzung, als Chance zur Rückbindung und um Vertrau­en zurückzugewinnen. Wichtig ist, auch im Vorfeld die Erwartungen hinsichtlich der konkreten Ein­flussmöglichkeiten nicht zu hoch zu schrauben und ein ehrliches Interesse an dem Austausch abzu­bilden.

So kann selbst eine schlichte Di­alogveranstaltung, in der sich Menschen mit ihrer Meinung zu Wort melden können und ernst genommen fühlen, ein wichtiger Baustein sein, um neue Zugänge zu demokratischen Prozessen zu schaffen und die Glaubwürdigkeit von Politik und gesellschaftlichen Institutionen wiederherzustellen bzw. zu erhalten. Aber auch um die Vernetzung zivilgesellschaftlicher (und kirchlicher) Akteure vor Ort zu stärken und neue Bündnisse entstehen zu lassen. Die Erfah­rungen aus Frankfurt (Oder) und Neuruppin laden jedenfalls zur Fortsetzung ein.

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