Europa - Informationen Nr. 160

Digitalisierung Folgt auf online nun „onlife?“ Das „süße Gift“ der vernetzten Welt als Gefahr für die Datensouveränität

Damian Patting

Unter dem Titel „Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter – Wunschdenken oder Wirklichkeit?“ hat am 19. März 2019 eine hochkarätig besetzte Vortragsdiskussion im Haus der EKD in Brüssel stattgefunden. Dazu referierte Prof. Dr. Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates und Professor für systemische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Die Leiterin des EKD-Büros Katrin Hatzinger merkte in ihrem Grußwort an, dass die Wahrung der Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter gerade angesichts der Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) keine Selbstverständlichkeit mehr sei. Datensouveränität müsse vielmehr zunehmend errungen und verteidigt werden. Frau Hatzinger wies am Beispiel des seitens der EU-Kommission in Mitteilungsform im April 2018 publizierten Ansatzes für eine „Artificial Intelligence for Europe“ auf die besondere Aktualität des Themas hin. Die Initiative der EU-Kommission sehe neben technischen Anpassungen, Aufstockungen des Forschungsbudgets und einer Vorbereitung auf sozioökonomische Veränderungen auch einen angemessenen ethischen und rechtlichen Rahmen vor. Dennoch müsse von allen Seiten viel Arbeit geleistet werden, um den Spagat zwischen Konkurrenzfähigkeit und Regulierungswillen sowie zwischen Innovationsdrang und ethischer Verantwortung zu bewältigen. In diesem Sinne habe sich auch das Brüsseler EKD-Büro Anfang des Jahres kritisch vorab in die Konsultationsprozesse zu den nun im April veröffentlichten „ethischen Richtlinien für einen vertrauensvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz“ eingebracht (siehe vorangehender Artikel). Angesichts der besonderen Grundrechtsrelevanz in Fragen der rasant fortschreitenden Entwicklungen um KI sei eine tiefgreifende Debatte dringend notwendig.
Prof. Dr. Dabrock leitete seinen Vortrag mit der Bemerkung ein, dass er den Versuch unternehmen wolle, das Thema von theologisch-philosophischer Seite zu beleuchten. Zunächst stellte er die These auf, dass „onlife“ gesellschaftliche Realität sei. Es könne nicht mehr – wie früher noch üblich – zwischen online und offline unterschieden werden, da inzwischen die Prozesse der Digitalisierung derart verdichtet auf unser Leben einwirkten, dass ein Abschalten kaum mehr möglich sei. Ein Beispiel aus dem praktischen Leben lieferten etwa Heizkörper, die inzwischen aus der Ferne vom Versorger abgelesen werden könnten. Wir lebten in einer Welt umfassender Datenerfassung. Die Analyse dieser Daten erfolge aber – anders als früher noch – nicht mehr durch eine Vielzahl von Programmierern, sondern vielmehr durch KI-gesteuerte Systeme, die spezifische Fähigkeiten auf gewonnene Datenmassen anwendeten. Google, Amazon, Facebook und Apple (GAFA) hätten inzwischen eine bislang nicht dagewesene und kaum mehr zu bändigende Marktmacht entwickelt. Bemerkenswert sei auch die Rezeption dieser Entwicklungen durch die betroffenen Menschen in den verschiedenen Erdteilen. Misstrauen in diese Entwicklungen sei nicht selbstverständlich. Die chinesische Bevölkerung etwa begegne den Entwicklungen von KI und dem berüchtigten sozialen Bewertungssystem im Reich der Mitte mit wenig Kritik. Dort festzustellende Entwicklungen und „Fortschritte“ im Bereich der KI seien für eine Gesellschaft, die vor etwa 40 Jahren wirtschaftlich noch am Boden gelegen habe, aber schlicht erstaunlich. Nach dieser anschaulichen Einführung in die Thematik gliederte Prof. Dr. Dabrock seinen weiteren Vortrag in drei Teile. Zunächst gelte es überhaupt zu klären, was Selbstbestimmung bedeute. Sodann müsse erörtert werden, in welcher Weise Freiheit und Datensouveränität gefährdet seien. Zuletzt sollten Reaktionen und Handlungsweisen erörtert werden, um den genannten Gefahren zu begegnen.
Was ist Selbstbestimmung? Prof. Dr. Dabrock gab zunächst Definitionen an die Hand: „Selbstbestimmung sei das Praktischwerden von Freiheit“ (so der Philosoph Volker Gerhardt). Eine präzisiere Definition liefere Immanuel Kant: Nach dem Philosophen der Aufklärung seien Handlungsurheberschaft und die Fähigkeit, Gründe für die jeweils getroffenen Handlungsentscheidungen geben zu können, entscheidende Kriterien. Allein die Existenz einer Alternative sei gerade nicht ausreichend. Die Definition von Kant sei treffender und präziser, da nur diese Abgrenzung es etwa vermöge, Diktaturen als Orte, die Raum für Selbstbestimmung bieten, überzeugend auszuschließen. Einen weiteren Ansatz für die Definition von Selbstbestimmung liefere der Utilitarist John Stuart Mill. Nach diesem sei ein Raum zur Selbstgestaltung von Handlungen notwendig. Freiheit sei verloren, sobald ein Raum zu eng zum Atmen sei. Individualität, Authentizität, Originalität und Wohlbefinden seien daher entscheidende Kriterien für Selbstbestimmung. Selbstbestimmung setze leibliche Existenz voraus. Das Wesen des Menschen habe schon immer darin bestanden, dass er technische Instrumentarien benutze. Technik werde seit jeher als das Mittel zur Überwindung der Selbstbegrenztheit verstanden. Die Einwirkung des Selbst sei im wahrsten Sinne des Wortes leiblich durchdrungen. Prof. Dr. Dabrock betonte ausdrücklich, dass er nicht davon ausgehe, dass in Zukunft die Entwicklung einer Super-KI zu befürchten sei. Das Wesen der KI bestehe nämlich bloß in der Nachahmung von einzelnen Spezialfähigkeiten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diese könnte aber auch im Falle der Vernetzung einzelner zahlreicher Spezialfähigkeiten niemals den Grad menschlicher ratio erreichen. Sehr wohl bestünde aber die Gefahr, dass sich Spezialfähigkeiten derart verdichten, dass sie uns unsere Freiheit rauben. Elementare Fähigkeiten der Vernunft könnten durch den Verlust notwendiger Distanz gegenüber Technikentwicklungen und Digitalisierungsprozessen gefährdet werden.
Wie wird diese Freiheit gefährdet? Die individuelle Lebensausrichtung werde uns auf eine gefällige, süße und verlockende Art vermittelt. Vorschläge aufgrund ermittelter Algorithmen von google seien für Nutzer oftmals zunächst hilfreich, würden aber mit der Zeit immer stärker kanalisiert und einseitig ausgerichtet. Die vier marktbeherrschenden Konzerne (Google, Amazon, Facebook und Apple - GAFA) richteten sich dabei an unsere innersten menschlichen Seiten: Google beanspruche für sich göttliche Attribute wie etwa die Allwissenheit, Facebook appelliere an das Herz, Amazon an den Bauch und Apple sei aufgrund der gezielten Symbolkraft der Marke, die seit jeher auf Design und Exklusivität abziele, der Attraktivitätsbediener. Durch soziale Medien werde zudem der klassische Öffentlichkeitsbegriff unterlaufen und durch emotionale Aufmerksamkeit ersetzt. Aufmerksamkeitsspannen würden zunehmend verkürzt. Die Selbstbestimmung werde auch durch die von Digitalisierung zunehmend geprägte Arbeitswelt in Frage gestellt. Zwar seien die im anfänglichen Diskurs genannten hohen Zahlen für den Wegfall von Arbeitsplätzen inzwischen widerlegt. Dennoch stelle die Industrie 4.0 die Koordinierung der künftigen Arbeitswelt zweifelsohne vor große Herausforderungen.
Wie können zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure auf die Herausforderungen reagieren? Nach Prof. Dr. Dabrock setze eine angemessene Reaktion zunächst voraus, dass ein Bewusstsein für die Herausforderungen bestehe. Aus-, Fort-, und Weiterbildung seien daher elementare Schritte. Auch das Weißbuch der Bundesregierung zur Arbeit 4.0 enthalte sehr solide technische Überlegungen. Klassische Bildung sei jedoch zeitlos und könne Kompetenzen fördern, die unabhängig von einer kurzen Halbwertzeit von Fachwissen zunehmend in der technologischen Welt von Bedeutung seien. Die zwei wesentlichen Fähigkeiten, die es auf diesem Wege zu erhalten und zu fördern gelte, seien Differenzfähigkeit und Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Zweideutigkeiten zu erkennen und zuzulassen. Diese Fähigkeiten seien unabdingbar, um die Datensouveränität zu bewahren. Das soeben in der Theorie Beschriebene sei aber in der Praxis gar nicht so leicht umzusetzen. Der Umgang mit den praktischen Auswirkungen der Datenschutzgrundverordnung lieferte ein ernüchterndes Beispiel für ein klassisches Dilemma: Die jeweils unkritisch erteilte – und vielmehr bloß als lästig empfundene – Erklärung unseres Einverständnisses zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten sei geradezu exemplarisch für unsere eigene Machtlosigkeit gegenüber dem süßen Gift der „onlife“-Welt. Diesen gefährlichen Entwicklungen könne kein einzelner Mitgliedstaat begegnen. Auch der Rechtsrahmen der Europäischen Union sei dafür längst nicht mehr ausreichend. Die Regulierung dieser Tendenzen könne allenfalls in einem globalen Rahmen erfolgen, der zumindest eine Verständigung auf G20-Ebene voraussetze. Selbstbestimmung könne nämlich keinesfalls allein individuell, sondern nur im Kontext der Gemeinschaft realisiert werden. Allein die „religiöse Keule“ zu schwingen, sei aber ebenfalls keine Lösung. Die christliche Religionskultur transportiere aber – so viel sei sicher – einen Schatz an Ressourcen für die Deutung und Gestaltung des Lebens, die elementar für den Umgang mit den genannten Gefahren seien. Unterschiedliche Ansätze seien nötig, um die Datensouveränität zu erhalten oder – wo bereits verloren – zurückzuerlangen.
Prof. Dr. Dabrock schloss mit dem nüchternen Fazit, dass er hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch sei, was die Behauptung der Datensouveränität gegenüber dem süßen Gift der „onlife“-Welt betreffe. Die Veranstaltung machte damit auf eine sehr gelungene Weise die Bedeutung der Behauptung von Datensouveränität und die Voraussetzungen für eine (Zurück-) Gewinnung der Selbstbestimmung angesichts der Digitalisierungsprozesse deutlich und zeigte auch die zentrale Rolle für die ethische Orientierung von Religion in diesem Kontext auf.

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