Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

2. Evangelische Maßstäbe ethischer Verantwortung in der Arbeit

2.1 Die Würdigung der Arbeit in biblischer Perspektive

Grundthesen Kapitel 2.1:

In biblischer Sicht gehört Arbeit wesentlich zum Menschsein. Arbeit hat Teil an der Weltgestaltung Gottes, sie bedeutet Teilhabe an der gemeinsamen Weltverantwortung. Arbeit braucht Begrenzung: Dies wird sichtbar in der Ruhe des Sabbats nach einer erfüllten Arbeitswoche. Arbeit kann sinnvoll nur als Gemeinschaftswerk verstanden werden, in das alle ihre Begabungen und Berufungen einbringen. Deshalb ist Arbeit auf Kooperation und Solidarität angewiesen.

Arbeit gehört zum Menschsein. In der Arbeit wird der Mensch zum Mitgestalter seiner Welt. In biblischer Sicht sind alle menschlichen Tätigkeiten, die im Dienst des Lebens stehen, Ausdruck des göttlichen Auftrags, dass der Mensch die Erde bebauen und bewahren soll (vgl. Gen 2,15). Dieser Schöpfungsauftrag gilt unabhängig von menschlichen Aufträgen, von Einkommen und Hierarchien. Deshalb sind in theologischer Perspektive alle Formen der Arbeit in gleicher Weise zu würdigen: Haus- und Familienarbeit wie Erwerbsarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit wie politisches Engagement, Naturschutz wie selbstständiges Unternehmertum oder Handwerk.

Gleichwohl strukturiert heute die Erwerbsarbeit die Lebensführung für die Mehrzahl der arbeitsfähigen Erwachsenen wie für die Gesellschaft insgesamt. Wer von einer Teilhabe an der Arbeitswelt ausgeschlossen ist, erlebt das als gravierendes Defizit. Für die anderen entscheidet die Art und Weise, wie sich ihr Erwerbsleben gestaltet, wesentlich über die Qualität ihrer Lebensführung. Die grundlegende Bedeutung von Arbeit wie die zentrale Rolle von Erwerbsarbeit für die moderne Gesellschaft fordern die Kirche heraus, theologisch wie soziologisch und politisch über Würde und Wert der Arbeit wie über die Zukunft der Arbeitswelt nachzudenken und in evangelischer Verantwortung Stellung zu beziehen.

Neben der Würde der menschlichen Arbeit ist aber auch die Grenze der menschlichen Arbeit zu betonen. Biblisch findet sie bereits im Sabbatgebot ihre Konkretion. Arbeit und Ruhe bilden in dieser Perspektive eine Einheit: Indem Gott am siebenten Schöpfungstag von der Arbeit ruhte, vollendete er seine Werke (Gen 2,2). Seitdem die Christenheit den Sonntag als Ruhetag feiert (321 n. Chr.), ist der Auferstehungstag Jesu der Arbeitswoche vorangestellt, beginnt der Mensch seine Arbeit im Bewusstsein seiner Würde als von Gott befreiter Mensch. Arbeit und Muße ergänzen sich. Die Ruhe kann hier im Sinn des Sabbats als Abschluss und im Sinn des Sonntags als Ermutigung und Stärkung zur Arbeit bezeichnet werden. Arbeit kommt, im evangelischen Sinn, aus der Muße, aus dem Zuspruch Gottes, dass der Mensch sich mit seinen begrenzten Kräften für die Zukunft der Welt einsetzen kann - trotz ihrer Gebrochenheit und Unversöhntheit. Aus dem Hören kommt das Handeln, aus der Muße die Kraft zu tätigem und kreativem Dasein. Deswegen setzen sich die Kirchen immer wieder für den Schutz der Sonn- und Feiertage ein, weil diese Unterbrechungen des Arbeitsrhythmus Raum geben für die Erfahrung, dass der Mensch mehr ist als seine Arbeit, dass aber auch die Arbeit durch den Sonntag »Maß und Ordnung« findet. (vgl. Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 115). Angesichts neuer Formen der Arbeitsorganisation und der Beschleunigung und Intensivierung vieler Arbeitsprozesse ist nach neuen Wegen zu fragen, wie der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung von Arbeit sinnvoll zu begegnen ist. Es braucht gemeinsame Anstrengungen von Politik, Kirche und Gewerkschaften, um gegen alle Individualisierungstendenzen, trotz Globalisierung und technischer Kapazitäten das Bewusstsein für den kulturellen Wert gemeinsamer Ruhe- und Feiertage wach zu halten.

In biblischer Perspektive ist Arbeit wesentlich eine Gemeinschaftsleistung der Menschen. Die Sicherung des Lebens ist nur als gemeinsames Werk, durch Kooperation und Arbeitsteilung zu bewerkstelligen. Dies geschah in vorindustriellen Gesellschaften vorrangig im Rahmen des Sozialverbandes des »Hauses« (gr. »Oikos«, vgl. die »oikonomischen« Schriften der Antike und die daran anknüpfende ntl. Haustafeltradition) und ist in der Moderne durch differenziertere Formen der Arbeitsteilung erweitert worden. In diesem Sinn ist der arbeitende Mensch immer ein zusammenarbeitender Mensch, er ist in eine soziale Struktur eingebunden. Die soziale Struktur der Arbeit umfasst sowohl die Leistungen der aufeinander folgenden Generationen wie auch die Kooperationen bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen. Auf Grund der gerade in hochspezialisierten Gesellschaften notwendigen Arbeitsteilung, welche deren Leistungsmöglichkeiten erheblich steigert, bedarf jeder des Leistungsbeitrages anderer, um sein Leben angemessen führen zu können. Niemand lebt als Robinson Crusoe. Arbeit in diesem Sinn ist soziales Handeln und wesentlich auf den Mitmenschen als Austausch- und Kooperationspartner angelegt. In der Arbeitswelt erfahren Menschen ihre wechselseitige Angewiesenheit und Abhängigkeit voneinander.

Ein Ausdruck dieser kooperativen Struktur menschlicher Arbeit ist die Haltung der Solidarität. Sie entsteht aus der Erfahrung der Zusammenarbeit und des Aufeinander-Angewiesenseins in der Arbeitswelt und in der gemeinsamen Lebenswelt. Solidarität lässt Menschen füreinander einstehen und bewährt sich gerade in Notlagen. Konkrete Hilfe darf dabei insbesondere derjenige erwarten, der einer Solidargemeinschaft angehört, der also selbst mit seinem Einsatz zum Wohl aller beiträgt, und der durch Krankheit, Unfall oder Wegfall seines Arbeitsplatzes in eine unvorhergesehene Notlage gerät, die er allein nicht bewältigen kann. In diesem Sinn kann jeder auf Solidarität angewiesen sein, gerade deswegen kann Solidarität auch von jedem gefordert werden. Im biblischen Kontext entsprach dieser Erfahrung die ethische Forderung der »Gemeinschaftstreue« (hebr. »Zedaka«, oft mit »Gerechtigkeit« übersetzt). Seit dem Spätmittelalter ist diese Haltung in einem System vielfältiger Unterstützungskassen konkretisiert worden. Beispielhaft seien hier die Zünfte und das Knappschaftswesen genannt. Auf solchen Erfahrungen fußt auch die neuzeitliche Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Über die traditionellen sozialen Hilfsmaßnahmen hinaus bewährt sich die gewerkschaftliche Solidarität im Einsatz für verbesserte Arbeits- und Lohnbedingungen, wozu auch eine gegenseitige Unterstützung im Fall von Arbeitskämpfen gehört. Diese Solidarität beruht im Kern auf gemeinsamen Interessen, sie wächst aber regelmäßig über sich hinaus, wo Fragen der internationalen Solidarität und ökologischen Nachhaltigkeit oder auch der Chancengleichheit aller am Arbeitsmarkt (gerade auch der Menschen mit Beeinträchtigungen) berührt sind oder wo es insgesamt um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geht. Das macht Gewerkschaften und Kirchen immer wieder zu Kooperationspartnern beim Einsatz für eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung.

2.2 Die Wiederentdeckung der biblischen Wertschätzung der Arbeit in der Reformationszeit

Grundthesen Kapitel 2.2:

Die Reformation stellt die aktive Tätigkeit in der Welt und an der Welt in den Mittelpunkt. Die berufliche Arbeit kann als Gottesdienst im Alltag der Welt gewürdigt werden. Das ist die entscheidende Erkenntnis, die zur Ausbildung der protestantischen Arbeitsethik wie auch zur wirtschaftlichen Dynamik geführt hat. Deswegen ist die Gestaltung der Arbeit ein besonderes Anliegen für eine der Reformation verpflichtete Kirche.

Die Reformation hat das aktive Leben im Dienst für den Nächsten und in Verantwortung vor Gott als die dem Menschen angemessene Haltung herausgestellt. Gegenüber der antiken und mittelalterlichen Vorordnung der vita contemplativa rückt sie die positive biblische Bewertung der Arbeit in den Mittelpunkt. Im Hintergrund steht hier die grundlegende Entdeckung Luthers, dass alle Christen »wahrhaft geistlichen Standes« (WA 6, 407), da durch die Taufe prinzipiell gleichgestellt sind. So wie Geistliche oder Mönche zuvor ihre Tätigkeit in besonderer Weise als Gottesdienst verstanden, so können und dürfen nach Luther nun alle Menschen ihre jeweilige Tätigkeit, gerade auch die weltlichen Tätigkeiten, als Gottesdienst, als ihre geistliche Berufung, ihren »Beruf« betrachten: »Wir sollen mit fröhlichem Gewissen in unserem Berufe bleiben und wissen, dass durch solche Werke mehr ausgerichtet wird, als wenn jemand alle Klöster gestiftet und alle Orden gehalten hätte; und ob es gleich die allergeringste Hausarbeit sei.« (WA 29, 566)

Arbeit bzw. das tätige Leben, die vita activa, gilt nach Luther als Gebot Gottes für alle Menschen, wobei - vor dem Hintergrund der damaligen feudalen Gesellschaftsordnung gedacht - jeder in seinem Stand eine spezifische Aufgabe zu erfüllen hat. Der Beruf wird damit zum konkreten Ort der Verantwortungsübemahme für alle Christen. Jede und jeder hat die geschenkten Gaben, seine Charismen, in der konkreten Gestaltung der eigenen Arbeit am jeweiligen Ort zu entfalten.

Luthers große Leistung ist darin zu sehen, dass er den Berufsbegriff von der ursprünglichen Beziehung auf das Ordensleben gelöst und auf die weltlichen Tätigkeiten übertragen hat. Gerade in seiner Polemik gegen das einsame, von der Familie und dem Leben in der Welt getrennte Mönchsleben hat er die Berufung der Menschen zum tätigen Leben herausgestellt. Der Berufsbegriff bezeichnet in diesem Sinn alle menschlichen Tätigkeiten, die im Dienst der Mitmenschen stehen und stehen sollen. Der Fürst, der Schuster, die Mutter, der Vater, die Stallmagd - alle dürfen ihre Arbeit als Gottesdienst im Alltag der Welt begreifen: »Wenn ein jeder seinem Nächsten diente, dann wäre die ganze Welt voll Gottesdienst. Ein Knecht im Stall wie der Knabe in der Schule dienen Gott. Wenn so die Magd und die Herrin fromm sind, so heißt das Gott gedient. So wären alle Häuser voll Gottesdienst und aus unseren Häusern würden eitel Kirchen, weil dort Gott gedienet wurde.« (WA 36, 340) Während das Mönchsleben als selbst gewählte Existenz sich der alltäglichen Sorgen zu entledigen trachtet, wird gerade die pflichtgemäße Berufsarbeit von Luther als das von den Christen zu tragende Kreuz interpretiert, wobei er in besonderer Weise die mit jedem Beruf verbundenen Schwierigkeiten als Beweis dieser Deutung heranzieht. In diesem Sinn bekämpft die mit dem jeweiligen Beruf gegebene Verantwortung das selbstsüchtige Wesen des Menschen.

Die konservativ-ständisch geprägte Tradition, in der Luther steht, hat sich etwa im Blick auf die Herausbildung eines protestantisch geprägten, loyalen und in der Pflichterfüllung zuverlässigen Beamtenethos als außerordentlich wirksam erwiesen. Mobilität und Dynamik, die seit der Neuzeit das Berufsleben prägen, sind mit einer solchen Wirklichkeitsdeutung schwerer zu vereinbaren und wurden in der weiteren Entwicklung vorrangig durch das calvinistische Ethos vermittelt, das die eigene Arbeit auf die Ehre Gottes bezogen hat und in diesem Sinn eine Dynamik wirtschaftlichen Handelns entfalten konnte. In der Linie des lutherischen Berufsethos, der calvinistischen Weiterführung dieser Tradition und in letzter Zuspitzung unter dem Einfluss puritanischer Deutungen, die auf eine Haltung innerweltlicher Askese mit einer streng kontrollierten Lebensführung zielten, hat sich eine starke Begründung der Berufsarbeit herausgebildet. Sie hat den neuzeitlichen Kapitalismus entscheidend gefördert, wie Max Weber in seiner berühmten Studie zur Wahlverwandtschaft von »Protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus« aufgezeigt hat. So ist das tätige Leben zum zentralen Ort der Bewährung des christlichen Glaubens geworden. Der christliche Glaube in seiner evangelischen Ausprägung wertet die alltägliche Wirklichkeit als das exemplarische Begegnungsfeld von Gott und Mensch, in dem der Mensch Tag für Tag seinem Nächsten dient. Eine Engführung auf Erwerbs- oder gar Lohnarbeit ist aber in keiner Weise impliziert, wie beispielhaft Luthers Hochschätzung der Familien- und Reproduktionsarbeit zeigt. Insofern bezeichnet der Beruf alle Formen menschlicher Tätigkeit, sofern sie zur Befriedigung von Bedürfnissen im Dienste des Nächsten geschehen.

2.3 Herausforderung für das evangelische Verständnis in der Moderne

Grundthesen Kapitel 2.3:

Die Fokussierung auf die Erwerbstätigkeit und der Verlust einer geistlichen Begründung des Berufs führt einerseits zu einem verengten Begriff wie auch zu entfremdeter Arbeit, andererseits ergeben sich neue individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Diese Ambivalenzen erfordern den Einsatz für menschenwürdige Arbeitsgestaltung und Sinn gebende Deutungen der Arbeit. Dieser Aufgabe, theologisch- sozialethisch einerseits undpraktisch-konkret andererseits, stellen sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Unternehmer und Betriebsräte und ebenso auch die Kirche.

Mit dem Zeitalter der Aufklärung setzt eine Entwicklung ein, welche das in der Reformationszeit begründete Aktivierungspotenzial verstärkt und geradezu verselbstständigt hat. Ein wichtiger Legitimationsgrund dieser Haltung war die Hoffnung, die Menschheit könne sich durch Arbeit und Selbstbestimmung emanzipieren und einen unendlichen menschlichen Fortschritt herbeiführen. Diese Tendenzen haben zu einer Verabsolutierung des Arbeitsverständnisses geführt, wie es etwa in der marxistischen Doktrin der Menschwerdung des Menschen durch die Arbeit seinen Ausdruck fand.

Spätestens seit der beginnenden Industrialisierung - dies hat bereits Max Weber eindrücklich beschrieben und ist in Hannah Arendts berühmtem Werk »Vita activa« aufgenommen und fortgeführt worden - lässt sich dann innerhalb der Sphäre der vita activa eine immer engere Bestimmung der menschlichen Tätigkeitsformen und eine zunehmend einseitige Würdigung der Erwerbsarbeit im Sinne der in den Produktionsprozess integrierten Lohnarbeit feststellen. Die Industriegesellschaft reduziert die Arbeit mehr und mehr auf die Erwerbsarbeit, da nach Webers kulturkritischer Diagnose der Lebensstil der modernen Welt letztlich durch die technischen und ökonomischen Bedingungen wirtschaftlichen Handelns bestimmt wird. Während die Menschen in der Blütezeit des Puritanismus und der Aufklärung Berufsmenschen sein wollten, wird dieser Typus im »stahlharten Gehäuse« (M. Weber) der Moderne zum Zwang. Die Industriegesellschaft bedarf der Stützen einer religiös oder säkular durch die Aufklärung begründeten Berufspflicht immer weniger. Aus der religiös begründeten Pflicht zur Arbeit sowie aus der durch die Aufklärung geprägten Selbstbestimmung des Menschen durch und zur Arbeit ist - so Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der neu entstandenen Großbetriebe - immer mehr ein äußerer Zwang ökonomischer und technischer Verhältnisse geworden, der zu vielfältigen Formen der Entfremdung der Arbeit geführt hat.

Dementsprechend ist die Sinnfrage der Arbeit unter den Bedingungen der Moderne neu zu stellen. In der Industriegesellschaft lässt sich die biblische Spannung von Segen und Fluch der Arbeit neu formulieren als Ambivalenz von Wohlfahrt und Berufsehre einerseits und Entfremdung andererseits. Letzteres hat den Berufsbegriff zu einem beträchtlichen Teil entleert. Es ist zunehmend eine Gruppe von Erwerbstätigen entstanden, welche sich als »Job-Holder« versteht, die die Erwerbsarbeit vorrangig nur noch als Mittel zum Geldverdienen erfährt. Daneben gibt es - häufig eng verknüpft mit spezifischen Qualifikationen - nach wie vor ein ausgeprägtes Berufsethos, beispielhaft in den Bereichen der Facharbeiter, des Handwerks und vieler freier Berufe, die ihre Tätigkeit als identitätsstiftend für sich selbst und als dem Gemeinwohl verpflichtet verstehen.

Diese seit der Zeit der Industriegesellschaft typischen Ambivalenzen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten im Zuge der Umorientierung der Erwerbsarbeit in Richtung einer wissensbasierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verändert. Da fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten auf Grund des dynamischen Wandels von Wirtschaft und Erwerbsarbeit immer schneller veralten, nimmt die Bedeutung traditioneller Qualifizierungen ab, und die Mitarbeitenden stellen sich auf lebenslanges Lernen ein. Die Arbeitnehmer erleben dies teils als Chance einer Höherqualifizierung und größerer Freiheit, teils als Herausforderung, der sie sich nicht immer gewachsen fühlen. Darüber hinaus entwickelt eine wachsende Gruppe von Arbeitnehmern, speziell in High-Tech-Bereichen, durch Selbstkontrolle, -Ökonomisierung und -rationalisierung als neues Leitbild den Arbeitskraft-Unternehmer. So sind Modelle der Selbstorganisation von Mitarbeitenden im Rahmen von netzwerkartigen Unternehmen entstanden, die neue Formen der Wertschöpfung und der Unternehmenskultur hervorgebracht haben. Für diese Arbeitnehmer wachsen die Freiheitspotenziale und damit die Möglichkeiten der Sinnstiftung in der Erwerbsarbeit. Der Preis dafür ist, dass herkömmliche Grenzen, wie zwischen Arbeitszeit und Freizeit, von Arbeitsplatz und Wohnung, verwischen. So stehen für den modernen Arbeitskraft-Unternehmer Zugewinne in Autonomie, Selbstverwirklichung und Kreativität Tendenzen zu Risikoübernahme und Selbstausbeutung gegenüber. Kritisch ist zu fragen, wie in dieser Form der Erwerbstätigkeit die Sicherheitsbedürfnisse der Beschäftigten befriedigt werden können. Obgleich also auf der subjektiven Ebene durch die Betonung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen das Gefühl der Entfremdung verringert worden ist, entstehen, was die Rahmenbedingungen angeht, neue Formen von Belastungen, etwa durch erhöhte psychische Anforderungen und die Allgegenwart von Arbeit. Insofern bleibt Erwerbsarbeit auch in der Wissensgesellschaft von Ambivalenzen geprägt.

Dies gilt auch für den sich ausweitenden Bereich der personennahen Dienstleistungen, speziell bei den Erziehungs- und Pflegetätigkeiten, wobei hier ein hohes Maß an Empathie auf Grund der zwischenmenschlichen Kontakte unabdingbare Voraussetzung des Berufsethos ist. Diese Tätigkeiten sind für die betreffenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer identitätsstiftend, denn sie haben die Möglichkeit, ja sogar die Pflicht, ihre eigene Persönlichkeit in die Erwerbsarbeit einzubringen. Soziale Arbeit ist immer Co-Produktion: Erziehung, Heilung, Beratung leben von der Zusammenarbeit zwischen Helfenden und Hilfebedürftigen, die ohne wirkliche Begegnung nicht möglich ist. Allerdings fordert gerade das viele Mitarbeitende in besonderer Weise heraus: Unter den Rahmenbedingungen wachsenden Zeit- und Kostendrucks haben viele den Eindruck, den fremden wie vor allem den eigenen Anforderungen an eine adäquate Berufsausübung nur bedingt gerecht zu werden. Auch hier prägen elementare Ambivalenzen die Arbeitswirklichkeit und weisen auf zentrale neue Herausforderungen der Arbeitswelt hin.

Es bleibt deshalb - nicht nur in der sozialen Arbeit - eine grundlegende theologische Aufgabe, Perspektiven einer selbstbestimmten Sinndeutung der Arbeit, einer Orientierung an den Bedürfnissen des Nächsten und am Gemeinwohl sowie einer ethischen Verantwortung im Beruf unter den Bedingungen der heutigen, in sich vielschichtigen Arbeitswirklichkeit zu vermitteln. Und es ist eine grundlegend sozialethische Aufgabe, angesichts der Ambivalenzen in der Arbeitswelt sich für eine menschen- und sachdienliche Gestaltung zu engagieren.

2.4 Verantwortungsebenen in der Arbeitswelt

Grundthesen Kapitel 2.4:

Angesichts des weit reichenden Wandels ist ein »evangelisches Arbeitsethos der Individuen« als kommunikative Arbeitsmoral neu zu entwickeln. Auf der Ebene des Unternehmens gilt es, ein »evangelisches Arbeitsethos des Zusammenwirkens« zu entwickeln. Das Verständnis von Arbeit als kooperatives Gemeinschaftswerk kann hier wegweisend sein. Hierbei können Kirchen und Gewerkschaften fruchtbar Zusammenwirken und ihre Arbeit in einen (ordnungs-)politischen Rahmen einbetten, der durch Politik, Verbände und Gewerkschaften weiter zu entwickeln ist. Christinnen und Christen sind in besonderer Weise zur Mitarbeit an diesen Gestaltungsaufgaben aufgerufen.

2.4.1 Das Arbeitsethos als Ausdruck persönlicher Verantwortung

Angesichts der im Vergleich zur Reformationszeit deutlichen Veränderungen des Berufsverständnisses unter den Bedingungen der wissensbasierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft sowie speziell angesichts der Wandlungen der flexibilisierten Arbeitswelt ist in neuer Weise nach der Relevanz des von Luther mit dem Begriff »Beruf« bezeichneten Sachverhalts zu fragen. Zu überlegen ist, ob und unter welchen Bedingungen die im Horizont des traditionellen Berufsethos gemeinte Selbstbestimmung des Menschen zur Arbeit und seine individuelle Verantwortung in der Arbeit als Arbeitsethos neu zu fassen ist. Dieses Ethos ist ein wesentlicher Aspekt der Lebensführung in modernen Arbeitsgesellschaften, knüpft an das umfassende Berufsverständnis bei Luther an und reflektiert die Vielfalt der menschlichen Tätigkeitsformen und die darauf beruhenden gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse.

Ein der modernen Arbeitswelt entsprechendes Arbeitsethos kann sich nicht allein an den bisher üblichen traditionellen Berufsbildern mit ihren ständischen Organisationsformen orientieren, sondern muss sich zunehmend an bestimmten Qualifikationen und auch milieuspezifischen Lebensformen ausrichten. Ein solches gemeinsames Ethos eröffnet eine Deutung der individuellen Arbeitserfahrungen, die über den Tag hinausgeht, wobei die drei Relationen des Selbstbezugs, des Sachbezugs und des mitmenschlichen Bezugs in der Verantwortung vor Gott konstitutiv bleiben. Während der Sachbezug durch das jeweilige Fachwissen, das »Technische« und »Fachliche« der Arbeit sowie durch die nach wie vor notwendigen Tugenden der Disziplin und des Fleißes bestimmt sind, erfordern die heutigen Anforderungen der Arbeitswelt wie auch der aktuelle Bezug auf den Nächsten in hohem Maße neue Elemente einer kommunikativen Arbeitsmoral, zu denen u.a. die Bereitschaft zur Kooperation, eine Verantwortungs- und Entscheidungswilligkeit, die Offenheit für neue Problemkonstellationen sowie die Bereitschaft, kreative Lösungen zu erarbeiten, gehören. Ein modernes Arbeitsethos hat somit die traditionellen, bereits bei Luther aufweisbaren Anforderungen und in gleicher Weise neue, kommunikative Qualifikationen zu umfassen. Es zielt auf eine ethische Orientierung für die Arbeit, die die eher äußerlichen Motivationen des Lebensunterhalts und Gelderwerbs übersteigt und durch kommunikative Formen der Anerkennung die Identität des Menschen prägt und somit zur Selbstintegration der Person beiträgt. Für die kirchliche Verkündigung bedeutet der Aufweis der individuellen Verantwortung der Einzelnen in ihrem jeweiligen »Beruf« eine besondere Herausforderung.

2.4.2 Die Ebene der Unternehmen - Arbeit als Gemeinschaftswerk im sozialen Miteinander

Die Entfaltung des Einzelnen in der Arbeit wird zumeist in Unternehmen geleistet, in denen Menschen in arbeitsteiliger Weise kooperieren, um Güter und Dienstleistungen zu erstellen. Diese Unternehmen stellen aber weit mehr dar als nur einen äußeren Rahmen, der durch die Tauschbeziehung von Arbeit und Entlohnung gekennzeichnet ist. Im Unternehmen wird die Arbeit des Einzelnen in eine Wertschöpfungskette und damit auch in einen inneren Bezug zu anderen Tätigkeiten gestellt, was gerade in den letzten Jahrzehnten durch die Betonung einer Sinn- und Wertegemeinschaft in den Unternehmen explizit aufgegriffen wurde. Gerade weil Arbeit nicht immer aus sich selbst heraus sinnstiftend und identitätsprägend ist, gibt es starke Bemühungen in den Unternehmen, um Identifikationen zwischen den Menschen und den Unternehmen im Interesse der Zusammenarbeit zu stiften. Dabei stellen die rasanten technologischen Entwicklungen die Unternehmen vor große Herausforderungen, da die Betriebseinheit durch flexiblere Arbeitszeiten und Beschäftigungsformen sowie verstärkte Arbeitsteilung nicht mehr durch gemeinsames Arbeiten zur selben Zeit am selben Ort entsteht. Hier liegen auch erhebliche Herausforderungen für die Vertretungen der Mitarbeiterschaft, Betriebsräte und Gewerkschaften: Das Ethos einer solidarischen Gemeinschaft ist angesichts der Umbrüche neu zu formen. Doch zeigen die Erfolge der Gewerkschaften bei der Gewinnung und Bindung von Mitgliedern gerade in den letzten Jahren, wie sehr Menschen auch unter sich wandelnden Bedingungen auf diese Solidarität angewiesen sind.

2.4.3 Politik und Verbände in ihrer Verantwortung für eine menschengemäße Ausgestaltung der Arbeitswelt

Für die Sicherung der Menschenwürde unter den Bedingungen moderner, hoch technisierter Gesellschaften kommt einer menschengerechten Gestaltung der Arbeitsverhältnisse eine zentrale Rolle zu. Dies ist nicht zuletzt eine wesentliche Aufgabe der Politik, die durch die Rechtsetzung den Rahmen zur Ausgestaltung der Arbeitswirklichkeit absteckt, etwa im Blick auf die Rahmenordnung der Arbeitszeiten, der Mitbestimmungsregelungen, der notwendigen Qualifikationen und nicht zuletzt durch die gesetzlichen Grundlagen des Tarifvertragswesens. Insgesamt handelt es sich hier um die Ergänzung des individuellen Arbeitsrechts durch das kollektive Arbeitsrecht, das durch Gesetzgebung und Rechtsprechung einerseits sowie durch die Sozialpartner andererseits weiterentwickelt und konkretisiert wird.

In diesem Sinn lässt sich das Arbeitsrecht als Ausdruck der Würde der arbeitenden Menschen verstehen, denn es sichert diese Würde im Arbeitsprozess, indem - so der von dem Theologen Paul Tillich inspirierte sozialpolitische Vordenker der Weimarer Republik wie der frühen Bundesrepublik, Eduard Heimann - »eine Berechtigung des Arbeiters nicht nur aus seiner Arbeit, sondern in und an seiner Arbeit« ausgehandelt wird. Durch faire Lohnvereinbarungen der Tarifpartner, die es erlauben, von der eigenen Arbeit zu leben, sowie durch die Möglichkeiten, im Rahmen der Mitbestimmung an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen mitzuwirken, bekommt die Würde der Arbeit eine institutionelle Verankerung.

2.4.4 Rechte aus der Arbeit und Rechte in der Arbeit

Die grundlegenden Rechte, die aus der Würde der menschlichen Arbeit folgen, lassen sich sozialethisch als Rechte »aus« der Arbeit und Rechte »in« der Arbeit unterscheiden.

2.4.4.1 Rechte aus der Arbeit: Von der Arbeit leben können

Die in diesem Zusammenhang grundlegende und vielfach im biblischen Schrifttum nachweisbare Forderung lautet, dass der vereinbarte Lohn pünktlich und in voller Höhe ausgezahlt werden muss (vgl. Dtn 24,l4f; Jak 5,4 u.a.). Die Häufigkeit dieser Forderung in biblischen und anderen antiken Texten zeigt, dass dieses elementare Recht keinesfalls als selbstverständliche Praxis vorauszusetzen war. Rechtlich ist dies heute im Sinn der Arbeitnehmer geregelt, was die Bedeutung und den kulturellen Fortschritt entsprechender Rechtssetzung deutlich macht

Neben dieser elementaren Forderung gibt es in der sozialethischen Literatur eine lang anhaltende Debatte um den »gerechten Lohn«. Ältere Auffassungen, auch in der Reformationszeit, haben versucht, einen am Bedarf und standesgemäßen Unterhalt orientierten Lohn zu ermitteln. Diese Versuche überzeugen heute nicht mehr. Stattdessen ist darüber zu reflektieren, unter welchen Bedingungen die Lohnfestsetzung zustande kommt. Dabei kommt dem Instrument der Tarifautonomie eine entscheidende Bedeutung zu, da Tarifverträge im Sinn der grundlegend kooperativen Struktur der Arbeit als Friedensverträge der Tarifpartner verstanden werden können, bei denen sich beide Verhandlungsseiten gleichberechtigt gegenüberstehen und sich gemeinsam auf einen tragfähigen Kompromiss einigen. Dabei sind Konflikte nicht ausgeschlossen; es geht allerdings darum, diese Konflikte in fairer und gesetzlich geregelter Weise auszutragen. Voraussetzungen hierfür sind das uneingeschränkte Koalitionsrecht der Arbeitgeber und -nehmer sowie der Aufbau eines kollektiven Arbeitsrechts.

Neben der Art und Weise der Lohnfestsetzung als Ausdruck eines »gerechten« Lohns sind in der Sozialethik beider Kirchen immer wieder familienbezogene Bestandteile des Lohns gefordert worden, die jedoch nicht durch die Lohnhöhe, sondern vorrangig durch das Sozial- und Steuerrecht zu regeln sind.

Als ein weiterer Anspruch, der sich aus der Arbeitsleistung ergeben kann, sind die Formen der Mitarbeiterbeteiligungen zu nennen, die einzelne Unternehmen, die sich in der Regel als »Partnerschaftsbetriebe« verstehen, freiwillig gewähren. Diese Idee ist ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert in der evangelischen Sozialethik verankert und kann über die Entlohnung hinaus eine weitere Form der Würdigung der Arbeitsleistung zum Ausdruck bringen.

2.4.4.2 Rechte in der Arbeit: In der Arbeit leben können

Das Eintreten für den Gedanken der Mitbestimmung von Arbeitnehmern als Oberbegriff für unterschiedlich weitreichende Rechte der Partizipation an Entscheidungsprozessen in den Bereichen der Unternehmen, der Betriebe und am Arbeitsplatz bezeichnet ein grundlegendes Element der theologischen Sozialethik. Gegen eine einseitige, aus den Eigentumsrechten resultierende Entscheidungsbefugnis in Unternehmen bedeutet die Mitbestimmung der Arbeitnehmer eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen, indem ergänzend, kontrollierend und mitbestimmend Partizipationsrechte eingeräumt werden. Dies gilt elementar und unmittelbar auf einer ersten Ebene für die Mitbestimmung am Arbeitsplatz, wo der Einzelne seine Kompetenz in die Leistungserstellung einbringt. Es gilt zweitens für die Mitbestimmungsrechte im Blick auf die sozialen und personellen Fragen des Betriebes sowie drittens für die Ebene der Unternehmensmitbestimmung, wodurch auch verschiedene Formen der wirtschaftlichen Mitbestimmung eröffnet werden. Mitbestimmung in diesem weiten Sinn eröffnet Teilhabe und Mitverantwortung in dem zentralen Lebensbereich der Arbeitswelt, deren Qualität wesentlich von den Möglichkeiten der Partizipation abhängt.

Im Prozess der Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitsbedingungen spielen neben der Gesetzgebung vor allem die Sozialpartner - Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften - eine zentrale Rolle. Insofern ist die Verantwortungsebene der Verbände und Organisationen, d.h. der Unternehmen und der Gewerkschaften wie der Arbeitgeberverbände, immer wieder mit Nachdruck zu betonen. Es ist die Grundauffassung der evangelischen Kirche, dass ein aktives Mitwirken und ein Engagement auf dieser Ebene wesentlich zu einem christlich geprägten Arbeitsethos gehört - sowohl für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber. Die öffentliche Verantwortung des Christen zur Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Ordnung konkretisiert sich nicht zuletzt in den Verhandlungen und im - zeitweilig durchaus konfliktreichen - Zusammenspiel der jeweiligen Verbände. Eine besondere Aufgabe von Christen kann in diesem Rahmen darin gesehen werden, über das eigene Interesse und eine »Solidarität unter Freunden« hinaus die Anliegen des Gemeinwohls zu berücksichtigen. Diesem Anspruch haben sich Christinnen und Christen jeweils individuell in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen zu stellen; sie sollen ihn aber auch in die Arbeit der Verbände einbringen.

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