Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

3.2 Gegenwärtige Problemlagen auf dem deutschen Arbeitsmarkt

Grundthesen Kapitel3.2:

Der Wandel der Arbeit wirkt sich auch auf den deutschen Arbeitsmarkt aus. Während sich die Lage insgesamt sehr positiv entwickelt hat, ist aber auch der Bereich prekärer Beschäftigung gewachsen. Fragen stellen sich im Blick auf Beschäftigungsumfang, Entlohnung und Anstellungsverhältnisse. Politik und Sozialpartner müssen die Beschäftigungsbedingungen im Interesse der Schwächsten gestalten.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist sowohl absolut als auch relativ mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die globale Entwicklung durchaus erfreulich. Die Zahl der Arbeitslosen ist signifikant zurückgegangen, die Zahl der Beschäftigten deutlich gestiegen und befindet sich auf einem Rekordniveau. Gleichzeitig ist auf dem Arbeitsmarkt eine stärkere Differenzierung zu beobachten, weil sich das Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten und deren Arbeitszeit sind in den letzten Jahren gestiegen, zugleich hat aber auch die Zahl der Beschäftigten in Teilzeit deutlich stärker zugenommen. Die durchschnittliche Arbeitszeit aller Arbeitnehmer ist damit gesunken. Gleichzeitig ist eine Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit zu beobachten.

Das vermehrte Angebot von Teilzeitbeschäftigung war politisch erwünscht und hat für viele Menschen Vorteile. Allerdings ist eine Teilzeitbeschäftigung nicht immer das Ergebnis eines freiwilligen und gewünschten Verzichts. So waren laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2012 insgesamt 3,3 Millionen Menschen in Deutschland unterbeschäftigt, d.h. sie sind erwerbstätig, aber mit dem Wunsch nach einem höheren Beschäftigungsgrad. Das gilt insbesondere für Frauen. Ob und in welchem Umfang bei Teilzeitbeschäftigung von einer Notlösung gesprochen werden kann, ist umstritten. Nicht immer geht es ausschließlich um die Wahl zwischen Vollzeit und Teilzeit, häufig besteht der Wunsch nach Alternativen zur geringfügigen Beschäftigung. So suchten mehr als ein Viertel der ausschließlich geringfügig Beschäftigten (Minijobber) im Jahr 2010 erfolglos eine umfangreichere Tätigkeit; ein weiteres Viertel hätte gerne mehr Stunden gearbeitet, konnte dies aber aufgrund der persönlichen Situation nicht [2]. Umstritten ist, ob und inwiefern der Arbeitsmarkt durch diese Entwicklungen segmentiert ist; einige befürchten in Teilbereichen sogar eine Spaltung des Arbeitsmarktes.

Das so genannte Normalarbeitsverhältnis [3] ist in Deutschland weiterhin dominant, die Zahl der in diesem Sinn Beschäftigten hat in den letzten Jahren wieder zugenommen, doch gilt dies auch für die so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Heute sind mehr als 30% der Arbeitnehmer im Alter von 15 bis 64 Jahren, die sich nicht mehr in Bildung oder Ausbildung befinden, atypisch beschäftigt [4]. Diese Entwicklung hat zum Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen, da durch die Flexibilisierung bisher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Gruppen Zugang zu Erwerbsarbeit fanden. Der Umfang dieses Effekts bleibt umstritten. Gleichzeitig verstärkt die Zunahme befristeter Beschäftigung Unsicherheiten in der Lebens- und Familienplanung der Beschäftigten. Atypische Beschäftigung ist nicht pauschal mit prekärer Beschäftigung gleichzusetzen. Von prekärer Beschäftigung wird dann gesprochen, wenn das erzielte Einkommen dauerhaft unterhalb der »relativen« Armutsgrenze von derzeit 980 ? pro Monat liegt (Quelle: Statistisches Bundesamt 2014), die Betreffenden außerdem mangelhaft in der sozialen Sicherung (Rente) eingebunden sind, die Beschäftigung wie die Beschäftigungsfähigkeit unstet und mangelhaft sind. Vom Niedriglohnbereich spricht man demgegenüber, wenn ein geringerer Stundenlohn als 10,36 ? erzielt wird; nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fallen 10% der Normalarbeitsverhältnisse in diesen Niedriglohnbereich. Bei geringfügig Beschäftigten mit Minijobs sind demgegenüber 84% in diesem Niedriglohnbereich beschäftigt. Dabei muss allerdings die abgabenrechtliche Sonderstellung der Minijobs berücksichtigt werden: Weil der Bruttolohn in der Regel dem Nettolohn entspricht, liegt das tatsächlich verfügbare Einkommen oft höher als bei anderen Beschäftigten.

Zu rechtfertigen sind atypische Beschäftigungssituationen, wie befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit [5] oder ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse nur dann, wenn sie eine Brücke in ein gesichertes Arbeitsverhältnis oder eine Chance für Menschen, die seit einem Jahr oder länger arbeitslos sind, darstellen, wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. Dies gilt gleichermaßen auch für den Niedriglohnbereich, wenn er eine Chance zum Einstieg in Arbeit für diejenigen Beschäftigten ist, die keine Ausbildung und keinerlei Qualifizierung oder noch nie gearbeitet haben. Anders sind Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, für viele Menschen, die längerfristig arbeitslos sind, ohnehin kaum vorstellbar.

Befristete Arbeitsverträge, die 9% aller Beschäftigungsverhältnisse ausmachen, werden inzwischen häufig als eine erweiterte Probezeit genutzt. Sie dienen nicht selten, vor allem für jüngere Beschäftigte, als eine Brücke in den Arbeitsmarkt und auch in ein Normalarbeitsverhältnis. 72% erhalten eine unmittelbare Anschlussbeschäftigung, knapp 40% der befristet Beschäftigten werden direkt unbefristet übernommen (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - IAB). Jedoch verschärfen befristete Arbeitsverträge auch das Risiko, innerhalb kürzerer Frist arbeitslos zu werden.

Gegenläufige Bewertungen ruft auch die Arbeitnehmerüberlassung hervor, die 2,5% (2013) der Erwerbstätigen betrifft: Einerseits erfüllt sie eine wichtige Brückenfunktion in gesicherte Beschäftigungsverhältnisse außerhalb der Arbeitnehmerüberlassung, erleichtert Menschen ohne Arbeit die Rückkehr in den Arbeitsmarkt und ermöglicht Menschen, die noch nie gearbeitet haben, den Einstieg in Arbeit. Im ersten Halbjahr 2013 waren fast zwei Drittel der neu eingestellten Menschen in der Arbeitnehmerüberlassung vorher arbeitslos, fast ein Drittel war vorher langzeitarbeitslos oder noch nie beschäftigt [6] (Bundesagentur für Arbeit, Zeitarbeit in Deutschland, Juli 2013). Zwei Drittel derer, die aus Arbeitslosigkeit heraus eine Beschäftigung in der Arbeitnehmerüberlassung aufgenommen haben, waren auch nach 12 Monaten beschäftigt, ein Viertel auch außerhalb der Arbeitnehmerüberlassung (Bundesagentur für Arbeit, 2014). Nach einer Studie des IAB ging der Einsatz von Arbeitnehmerüberlassung bei 97% der Betriebe nicht mit einem Abbau der Stammbelegschaft einher. Andererseits kann bezweifelt werden, dass die Arbeitnehmerüberlassung die ihr zugedachte Brückenfunktion in ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Arbeitnehmerüberlassung erfüllt. Zwar zeigen Lehmer und Ziegler [7], dass im Hinblick auf ein zukünftiges Beschäftigungsverhältnis jenseits der Arbeitnehmerüberlassung ein Leiharbeitsverhältnis für Langzeitarbeitslose besser ist als fortgesetzte Arbeitslosigkeit, jedoch bietet eine sofortige Beschäftigung außerhalb der Arbeitnehmerüberlassung eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, auch zukünftig außerhalb der Leiharbeit beschäftigt zu sein. Die Leiharbeit ist seit Jahren tarifvertraglich geregelt. Fast alle Arbeitsverhältnisse in der Leiharbeit unterliegen tarifvertraglichen Regelungen. Das gilt sowohl für die Bezahlung der Leiharbeit als auch für die sonstigen Arbeitsbedingungen. Die Tarifpartner haben für zahlreiche Branchen darüber hinaus spezielle tarifvertragliche Regelungen vereinbart, wonach die Entlohnung der Leiharbeitnehmer den Tariflöhnen der Stammarbeitnehmer weitgehend entspricht.

Bei der ausschließlich geringfügigen Beschäftigung ist in sozialethischer Betrachtung entscheidend, in welcher Lebensphase diese ausgeübt wird. Mehr als 40% der Betroffenen sind Schüler, Studenten sowie Rentner. Hinzu kommen viele Menschen, die aufgrund ihrer familiären Situation nur eine begrenzte Aufgabe wahrnehmen wollen und können, wobei die besondere steuer- und abgabenrechtliche Stellung der geringfügig entlohnten Beschäftigung eine besondere Rolle spielt. Hinzu kommt, dass in manchen Fällen das Ehegattensplitting den Anreiz mindert, eine zusätzliche steuerpflichtige Beschäftigung anzunehmen. Instabile Partnerschaften und Erwerbsbiografien, die auf einer geringfügigen Beschäftigung basieren, stellen damit ein erhebliches Armutsrisiko dar. Ein Grundproblem geringfügiger Beschäftigung bleibt, dass durch sie keine eigenen oder mit Blick auf die Rente keine hinreichenden Sozialversicherungsansprüche erworben werden.

Gegenwärtig werden Werkverträge als ein neues Problem diskutiert. Eigentlich sind Werkverträge in einer arbeitsteiligen Wirtschaft zum Beispiel für Handwerk und Dienstleistung unverzichtbar, sie stellen eine übliche und bewährte Vertragsform dar. Probleme können durch die zum Teil mehrfache Weitergabe von Subaufträgen an Subunternehmen entstehen. Sofern allerdings gesetzeswidrig durch Werkverträge Kernprozesse ausgelagert und damit tarif- und sozialrechtliche Regelungen umgangen werden, sind diese mit den bestehenden rechtlichen Instrumenten zu unterbinden. Umstritten ist, in der Politik wie zwischen den Sozialpartnern, ob zur Vermeidung von Fehlsteuerungen und zur wirksamen Durchsetzung von Schutzmechanismen neue gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen erforderlich sind.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass der Arbeitsmarkt unter den Auf- und Umbrüchen erheblichem Veränderungsdruck ausgesetzt ist. Permanenter Wandel, hoher Wettbewerbsdruck und gesellschaftliche Veränderungen stellen überkommene Vorstellungen von einem normalen Beschäftigungsverhältnis in Frage. Die Bewertungsmaßstäbe hierfür wandeln sich, die Veränderungen forcieren Ängste und Sorgen. Von Arbeitnehmern, aber auch von Arbeitgebern wird hohe Anpassungsbereitschaft gefordert und die Fähigkeit, mit Brüchen und Abbrüchen der Arbeitsverhältnisse umzugehen. Der arbeitsmarktpolitische Rahmen muss diesen Veränderungen angepasst werden, auch um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Umstritten ist hierbei, ob von der Politik in den zurückliegenden Jahren eine bewusste Niedriglohnstrategie eingesetzt wurde, um die schwächelnde Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands Ende der 90er Jahre zu überwinden. In jedem Fall müssen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen Spielregeln für gute Arbeit vereinbaren, muss die Politik Fehlanreize und Fehlsteuerungen korrigieren. Gerade bei hoher Veränderungsdynamik brauchen Menschen langfristige Beschäftigungsperspektiven, um ihre Begabungen zu entfalten und ihren Lebensunterhalt zu sichern.

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