Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

3. Die Arbeitswelt im Umbruch

3.1 Auf- und Umbruch in eine neue Arbeitswelt

Grundthesen Kapitel3.1:

Der Umbruch der Arbeitswelt bringt neue Aufgaben, Chancen und Risiken hervor. Einerseits erhalten Individuen mehr Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, andererseits müssen sie mehr Verantwortung übernehmen. Vor dem Hintergrund dieser Umbrüche kommt der Sozialpartnerschaft eine entscheidende Verantwortung für die Bewältigung der neuen Herausforderungen zu.

Der Mensch gestaltet in der Arbeit im Auftrag Gottes seine Welt. Er tut dies in Kooperation mit anderen unter den jeweils möglichen technischen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Die Arbeitswelt befindet sich global und auch in Deutschland in einem tief greifenden Umbruch. Gerade in Zeiten des Wandels kann ein zeitgemäßes christliches Verständnis von Arbeit als einem Gemeinschaftswerk in Solidarität und Selbstbestimmung eine Hilfe sein, sich angesichts vielfältiger Veränderungen zu orientieren und zu verstehen.

Ökonomische und gesellschaftliche Tendenzen treiben die Veränderungen voran und schlagen sich in deutlich veränderten Arbeitsbeziehungen sowohl zwischen Arbeitnehmern als auch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nieder. Die Digitalisierung überwindet Raum- und Zeitgrenzen nicht nur entlang der Industrieproduktion, sondern auch bei Dienstleistungen, Handel und Handwerk. Die Globalisierung von Einkauf, Produktion, Finanzen und Handel schreitet unaufhaltsam voran und geht mit hohem Anpassungsdruck für Unternehmen und Beschäftigte einher. Die zunehmende Vernetzung von Märkten, die globale Verfügbarkeit von Kapital und Ressourcen, günstige Transportkosten und intelligente Logistik führen zu hoher Transparenz zwischen den Marktteilnehmern und daraus folgend verschärftem Wettbewerb. In der Folge entsteht hoher ökonomischer Druck in den Betrieben. Die internationale Arbeitsteilung bei Produktionsprozessen und der Erbringung von Dienstleistungen hat stetig zugenommen. Der daraus entstandene internationale Wettbewerb um Produkte, Güter und Dienstleistungen stellt auch die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in diesen globalen Wettbewerb.

Die Digitalisierung der Wirtschaft in all ihren Ausprägungen und neuere Entwicklungen wie Cloud-Working und Industrie 4.0 erfordern neue Fähigkeiten, können die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen und der Beschäftigten erweitern, angestammte Arbeitsrhythmen entlasten, Arbeitsbedingungen flexibilisieren, aber auch den Leistungsdruck erhöhen. Die Produktion selbst wandelt sich und muss zunehmend auf die sparsame Verwendung erschöpfbarer Ressourcen abzielen; zudem steigt im Zuge immer anspruchsvollerer Produkte der Anteil der Dienstleistungen an der Produktion, was ebenfalls veränderte Fertigkeiten im Produktionsprozess erfordert.

All dies wirkt sich auch auf die Verteilung der Arbeit innerhalb der Familien aus. Sie suchen nach einer neuen Balance für Männer und Frauen zwischen Familienarbeit und bezahlter Erwerbsarbeit. Damit gerät neben der traditionellen Erwerbsarbeit zunehmend die Sorgearbeit in den Fokus, also jene Arbeit, die im familiären Pflegen, Versorgen sowie Erziehen besteht und die in der Vergangenheit zumeist abseits der bezahlten Erwerbsarbeit in die Familie eingebettet war. Heute wird diese Arbeit zunehmend als öffentliche und private Dienstleistung in Erwerbsarbeit erbracht und ermöglicht neue familiäre Arbeitsteilung.

Die Auf- und Umbrüche in der Arbeitswelt können auch mit einer höheren psychischen Belastung einhergehen. Mehr Menschen als früher leiden unter der Beeinträchtigung ihrer psychischen Gesundheit. Die gesellschaftlichen Veränderungen gehen einher mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit und Anerkennung im beruflichen und privaten Umfeld, haben jedoch den Verlust an verlässlichen und stabilen Lebenslagen als Schattenseite. Allerdings muss gesehen werden, dass Menschen noch häufiger krank werden, wenn sie nicht arbeiten bzw. nicht arbeiten können.

Diese Veränderungen werfen die Frage auf, wie Konflikte bewältigt werden, die sich bei zunehmender Selbstbestimmung und Individualisierung und der damit verbundenen Übernahme von Risiken in kooperativen Arbeitsbeziehungen ergeben. Diese Konflikte werden in Deutschland, gerade mit Blick auf Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen, durch eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen gestaltet. Sie werden meist sozialpartnerschaftlich gelöst, auch Tarif- und Betriebspartner leisten dazu wichtige Beiträge. Konfliktlösungen folgen einem gemeinsam vereinbarten und etablierten Regelwerk, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sichern den sozialen Frieden auch in Zeiten massiver Veränderungen. Für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer entstehen neue Spielräume für kooperatives Verhalten und sozialen Konsens im Rahmen der Sozialpartnerschaft. Diese wurden von den Tarif- und Betriebspartnern in den vergangenen Jahren, insbesondere in der Finanzmarktkrise, gerade in Deutschland häufig wieder erfolgreich genutzt. Für die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen wie für die Politik kommt zum äußeren Wandel hinzu, dass verblassende traditionelle Milieubindungen und große Unterschiede zwischen Branchen und Betrieben es schwierig machen, Interessen gemeinsam zu organisieren und zu vertreten. Ebenso wichtig ist, dass auch im Konfliktfall die Interessen derjenigen im Blick bleiben, die nicht oder noch nicht an unmittelbaren Aushandlungsprozessen teilnehmen. Das gilt für all jene, die z.B. aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit derzeit nicht in Arbeitsbeziehungen eingebunden sind. Es gilt im Sinne einer weltweiten Verantwortung global agierender Unternehmen aber auch für diejenigen, die im Verbund der globalen Wertschöpfungsketten stehen. Die Sozialpartnerschaft in Deutschland kann hier ausstrahlend wirken und ähnliche Regelungen und Verfahrensweisen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern weltweit positiv beeinflussen.

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