Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

5. Neue Herausforderungen für die Diakonie angesichts des Wandels der Märkte für personennahe Dienstleistungen

These Kapitel 5:

Die Märkte für personennahe Dienstleistungen unterliegen einem erheblichen Veränderungsdruck. Ehemals weitgehend einheitliche Refinanzierungs- und Tarifregelungen werden politisch zugunsten wettbewerblicher Konkurrenz über die (Lohn-)Kosten ausgehöhlt. Statt einer klar gemeinwohlorientierten Ausrichtung wird nicht selten gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln präferiert. Unter diesen Bedingungen will die Diakonie ihr christliches Leitbild einer konsensorientierten und partnerschaftlichen Kooperation (Dienstgemeinschaft) erneuern.

Die Herausforderung einer menschengerechten Gestaltung der Arbeitswelt stellt sich in besonderer Weise im Kontext personennaher Dienstleistungen. Ein wesentlicher Teil der Arbeit, neben der Sicherung des Lebensunterhaltes und des materiellen Wohlstandes, bezieht sich auf Tätigkeiten im häuslichen Umfeld und Dienstleistungen für Menschen. Während aus personennahen Dienstleistungen im häuslichen Umfeld schon früh Wirtschaftsbetriebe entstanden, in denen diese Leistungen unternehmerisch organisiert wurden - wie beispielsweise Wäschereien, Schneidereien, Reinigungen, aber auch Friseursalons, Gaststätten und Beherbergungsbetriebe -, ist die Arbeit in Erziehung, Betreuung, Begleitung und Pflege noch sehr lange unentgeltlich in Familien und nachbarschaftlichen Zusammenhängen geleistet worden, zumeist von Frauen.

Aber auch die erstgenannten Erwerbsformen sind, weil sie eine große Nähe zur nachbarschaftlichen Hilfe aufweisen, kaum durch verlässliche Infrastruktur gesichert und eher gering vergütet. Dienstleistungen auf dem Schattenmarkt zu erbringen und weder Steuern zu zahlen noch die Beschäftigten (sozial-)versicherungsrechtlich abzusichern ist in diesen Bereichen relativ häufig. Hier besteht deshalb seit Langem dringender Handlungsbedarf in unübersichtlichem Gelände: Trotz zuweilen prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind Regelungen hier besonders schwer durchsetzbar und kontrollierbar. In »Nachbarschaftshilfe«, Pflege und Hausarbeit ist der Anteil von »Schwarzarbeit« besonders hoch. Hinzu kommt der äußerst geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad in diesen Erwerbsbereichen, in denen der Anteil an teilzeitbeschäftigten Frauen oder neben einer Erwerbstätigkeit arbeitenden Männern besonders hoch ist. Dabei sind diejenigen Arbeitsfelder, die sich der Sorgearbeit widmen, noch unter einem anderen Aspekt in den Blick zu nehmen. In Erziehung und Pflege, Assistenzdiensten, Beratung und Unterstützung, aber auch bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten geht es um diejenigen Menschen, die zeitweise oder auf Dauer auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Für diese Sorgearbeit, die früher eher mit dem Begriff der »Fürsorgeleistungen« benannt wurde, hat sich in den letzten Jahren international der Begriff »Care-Arbeit« etabliert. Er wurde auch in Deutschland eingeführt, da der Fürsorgebegriff mit kritischen Erinnerungen an staatliche Kontrollen und Übergriffe verbunden ist, die dem Gedanken der Unterstützung und Assistenz nicht gerecht werden, wie er nicht zuletzt in der Debatte um Menschen mit Beeinträchtigung geführt wird.

Diese Leistungen werden in Deutschland als Teil der personennahen Dienstleistungen zugleich als Wohlfahrtspflege verstanden, die klassisch subsidiär geregelt ist. In der freien wie subsidiär-staatlichen Wohlfahrtspflege werden Leistungen erbracht, die die Gesellschaft als notwendig für die Daseins-Vorsorge versteht und für die der Staat die erforderlichen Mittel bereitzustellen hat - sei es aus allgemeinen Steuermitteln, wie im Bereich der Grundsicherung, Jugend- und Behindertenhilfe, sei es über spezifische Versicherungsleistungen, wie in den Bereichen Krankenhilfe, Unfallversicherung, Rente und Pflege.

Die Leistungserbringung erfolgt vorrangig subsidiär, d.h.: wo immer möglich, durch selbstständige Träger der freien Wohlfahrtspflege und im Prinzip erst nachrangig durch staatliche Stellen. Historisch haben Innere Mission, Caritas oder andere Vereine ihre Leistungen zunächst weitgehend selbst organisiert und vielfach auch finanziert, bevor diese um die Wende zum 20. Jahrhundert staatlich geregelt wurden. Solche Leistungen werden - vor allem im kirchlichen Kontext - bis heute häufig in Vereinen und Stiftungen organisiert, in denen Beschäftigungsbedingungen gemeinschaftlich ausgehandelt und vereinbart und Konflikte unter Verzicht auf Streikrecht und Aussperrung geregelt werden. Im Vordergrund stehen traditionell die betroffenen Menschen, für die die Arbeit häufig mit großem Idealismus und in familienähnlichen Kontexten erbracht wurde.

Vor allem katholische Orden, Diakonissen- und Diakonengemeinschaften haben diese Arbeit im 19. Jahrhundert geprägt. Arbeitervereine, das Rote Kreuz und andere weltanschaulich geprägte Träger kamen hinzu. Im Kontext der kirchlich-diakonischen Dienstgemeinschaft hat sich, zunächst in der verfassten Kirche, der »Dritte Weg« als kirchengemäße Form der Konfliktregelung etabliert und wurde dann von den diakonischen Trägern übernommen. Dieser besondere Weg war vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts der Kirche so lange unumstritten, wie die Refinanzierung aus Steuer- bzw. Sozialversicherungsmitteln gesichert und am Kostendeckungsprinzip orientiert war. In Anlehnung an die tariflichen Vergütungen im öffentlichen Dienst (BAT) entstanden auskömmliche Einkommensstrukturen in Kirche und Diakonie, die flächendeckend galten.

Nach der Wiedervereinigung und der wachsenden Verflechtung in Europa erhöhte sich aber der Druck auf die Politik, die Sozial- und Gesundheitsausgaben einzudämmen oder zumindest in ihrer progressiven Wirkung zu mindern - auch weil der Anstieg von Transfereinkommen aus Steuer- und Versicherungsmitteln nicht durch entsprechende Mehreinnahmen gedeckt werden konnte. Schon mit der Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 90er Jahre, die für private Träger offen war, hatten wettbewerbliche Elemente in die freie Wohlfahrtspflege Einzug gehalten. Der Marktanteil privater Träger wuchs schnell - auch deswegen, weil hier das Lohngefälle groß war und sich insgesamt deutlich unterhalb der Vergütung im diakonischen Bereich bewegte. Zugleich entstanden in der Sorgearbeit neue Erwerbswelten und neue Konfliktfelder, beispielsweise im Bereich der 24-Stunden-Pflege, in denen Beschäftigungsbedingungen nur schwer geregelt werden können.

Die diakonischen Leistungserbringer mit ihrem auskömmlichen Lohnniveau für die Beschäftigten gerieten durch diese politisch gewollten Veränderungen unter erheblichen ökonomischen, und mehr noch unter »existenziellen«, Druck. Die Existenzsicherung der Unternehmen war nun oftmals nur um den Preis des Aufschiebens von Investitionen, unter Anwendung von Notlageregelungen mit Einschnitten in die Vergütung der Beschäftigten und durch Aufgabe unternehmerischer Eigenständigkeit durch Fusion und Kooperation von Einrichtungen zu erreichen. Das eigene Leitbild eines partnerschaftlichen Umgangs miteinander (Dienstgemeinschaft) geriet angesichts ständig steigender Effizienzerwartungen unter Spannung. Vor diesem Hintergrund geriet auch der »Dritte Weg« angesichts der im Wettbewerb wachsenden Interessengegensätze unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Dabei ist zu sehen, dass viele Mitarbeiter in der Sorgearbeit an einem kooperativen Miteinander um der Menschen willen interessiert sind, für die sie ihre Arbeit erbringen.

Das kirchliche Arbeitsrecht (siehe dazu bereits oben unter 3.5.2) geriet in eine Bewährungsprobe und entwickelte sich daher für Kirchen und ihre diakonischen Einrichtungen verstärkt zu einem Spannungsfeld in ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften. Dies gilt insbesondere für die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, für die diakonische Anbieter von erheblicher Bedeutung sind: Allein in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie geht es um etwa 700.000 Beschäftigungsverhältnisse. Insgesamt stellen Diakonie und Caritas den größten Anteil an Arbeitsplätzen im sozialen Bereich. Ver.di versucht zur Konfliktlösung ein Streikrecht in Diakonie und Kirche mittels Gerichtsverfahren gegenüber der Konfliktregelung im Dritten Weg durchzusetzen.

Bei allen Problemen im Bereich der Wohlfahrtspflege gibt es gerade mit Blick auf angemessene Entlohnung und Beschäftigungsbedingungen aber auch ein gemeinsames Interesse von Kirche, Diakonie und Gewerkschaften: Das Soziale braucht eine angemessene finanzielle Ausstattung und eine flächendeckende Geltung von Mindeststandards für die Leistungserbringung, wie z.B. die Regelung der Leistungsvergütung durch Flächentarife. Hier kann sich ein Feld entwickeln, in dem Gewerkschaften und Kirchen sich für die Zukunft der Wohlfahrtsgesellschaft engagieren. Dazu gehört auch, neben dem kritischen Blick auf Beschäftigungsbedingungen und Refinanzierung positiv zu würdigen, dass der Bereich der Wohlfahrtspflege in den letzten Jahren gewachsen ist, der Leistungsumfang insgesamt also zugenommen und verbesserte Transparenz im Wettbewerb des Sozialen auch zu Qualitätssteigerungen geführt hat. Nun wird es darum gehen, die Rahmenbedingungen durch Politik, Gewerkschaften und Kirchen so weiterzuentwickeln, dass die Sorgearbeit zu angemessenen menschenwürdigen Bedingungen flächendeckend erbracht wird. Ein allgemein verbindlich geltender Flächentarifvertrag Soziale Dienste ist dafür eine wichtige Option.

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