Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

1. Solidarität und Selbstbestimmung: Arbeiten in evangelischer Perspektive

Grundthesen Kapitel 1:

Der weitreichende Wandel durch Digitalisierung und Globalisierung in der Erwerbsarbeitswelt nötigt zu einer Neubestimmung dessen, was wir unter Arbeit verstehen. Kooperative Arbeitsteilung, Freiheit und Solidarität sind konstitutive Elemente moderner Erwerbsarbeit. Nachdem die Unternehmerdenkschrift 2008 vor allem Freiheit und Verantwortung unternehmerischen Handelns im Blick hatte, sollen mit dieser Schrift Solidarität und Selbstbestimmung gewerkschaftlichen Handelns und die wirtschaftliche Kooperation im Kontext der Sozialpartnerschaft ins Zentrum rücken. Verbunden durch das gemeinsame Interesse an einer menschenwürdigen Gestaltung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, entstehen neue Chancen für Dialoge und konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kirche und Gewerkschaften.

1.1 Arbeit zwischen individueller Freiheit, kollektiver Leistung und Solidarität

Die Arbeitswelt befindet sich in einem weit reichenden Prozess des Wandels. Das betrifft alle Formen der Arbeit: neben lohnabhängiger Erwerbsarbeit auch die Tätigkeit von Selbstständigen und Beamten, von Ehrenamtlichen und Freiwilligen sowie den gesamten Bereich der Erziehungs- und Sorgearbeit. Diesen Wandel wollen wir als Kirche begleiten und sozialethisch reflektieren. Dabei rücken wir mit dieser Schrift besonders die Erwerbsarbeit - auch im Bereich der Sorgearbeit, die zunehmend als Erwerbsarbeit organisiert wird - in den Mittelpunkt und konzentrieren uns auf die Frage, welchen Beitrag Gewerkschaften für eine gute Begleitung dieses Wandels und für angemessene Arbeitsbedingungen leisten können. Im Blick ist auch die Bedeutung der aktuellen Veränderungsprozesse für die Arbeitsteilung in der Familie und zwischen den Geschlechtern. Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass unsere Arbeits- und Wirtschaftsordnung insgesamt so umgestaltet werden muss, dass sie nachhaltig, d.h. sozial, ökologisch und ökonomisch ist und so der Verantwortung für die Welt gerecht wird.

Das Ziel ist eine Gesellschaft gerechter Teilhabe, an der alle Menschen ihre Fähigkeiten realisieren können (vgl. Denkschrift Gerechte Teilhabe) und in der das wohlverstandene Eigeninteresse in eine Ordnung des Gemeinwohls eingebunden ist (vgl. Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz). Von daher bejaht die evangelische Kirche eine freie, wettbewerbliche und auf Sozialpartnerschaft basierende Grundordnung, in der die Güter und Dienstleistungen, die Menschen brauchen, aufgrund unternehmerischen Einsatzes in Kooperation aller entwickelt, produziert und auf Märkten vertrieben werden.

Notwendig sind gute und wirksame Rahmenordnungen, die dem Missbrauch der Freiheit wehren. Deshalb muss die Politik einen Ordnungsrahmen für wirtschaftliche Betätigung setzen, um verhängnisvolle Fehlentwicklungen rein marktwirtschaftlicher Systeme - wie übermäßige Kapitalakkumulation, ausbeuterische und entwürdigende Beschäftigungsverhältnisse, Gesundheitsgefährdungen, ein nicht nachhaltiger Umgang mit den natürlichen Ressourcen oder Monopol- und Oligopolbildung - zu begrenzen (vgl. Ökumenische Sozialinitiative Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft). Aus diesem Grund macht sich die evangelische Kirche für eine öko-soziale Marktwirtschaft als politische Leitidee stark und unterstützt die politischen Bemühungen, die dafür erforderlichen Regelungen global zu vereinbaren, institutionell zu sichern und lokal umzusetzen (vgl. Wort zur Finanzkrise: Wie ein Riss in einer hohen Mauer). Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf angemessener Unterstützung für diejenigen Menschen liegen, die auf Hilfe angewiesen sind, wie lebensjunge und lebensalte Menschen, Menschen die an einer Krankheit leiden, Menschen mit Beeinträchtigung, Menschen ohne Arbeit und Menschen auf der Flucht sowie Menschen, die Asyl suchen. Der wirtschaftliche Schutz vor den großen sozialen Lebensrisiken ist in unserem Staat ein Rechtsanspruch. Unter dem Grundsatz der Subsidiarität regelt das Sozialgesetzbuch Anspruch und Umfang, Qualität und Finanzierung der Leistungen der solidarischen Sicherung. Da die Kirchen in der Gesundheits- und Sozialfürsorge wie auch in der Arbeit mit Menschen ohne Arbeit und Menschen auf der Flucht einen besonderen Schwerpunkt und eigene Gestaltungsmöglichkeiten haben, die von der politischen Ausgestaltung dieses Rechtsrahmens abhängig sind, widmen wir uns den Veränderungen und Herausforderungen dieser gesellschaftlichen und zugleich kirchlichen Arbeitsfelder in besonderer Weise.

1.2 Die Regelung von Arbeitsbeziehungen in einer konflikthaften Welt

Neben der grundsätzlichen ordnungspolitischen Aufgabe besteht ebenfalls ein Handlungsbedarf auf der Ebene der Unternehmen. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit, der sich mit dem Einfluss von Vermögen verbindet, führt zu Ungleichgewichten in der Beziehung zwischen den Akteuren auf dem Markt. Die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die auf diese Weise entstehen, dürfen nicht einfach dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden. Deswegen braucht es die Begrenzung von Macht, beispielsweise durch das Recht, aber auch durch den Wettbewerb oder durch die Gestaltung der Tarifordnung. In der Bibel sind solche Gesetze, die Arbeiter vor Übergriffen und Ausbeutung schützen oder ökonomische Mechanismen wie Wucherpreise, -zinsen oder dauerhafte Abhängigkeit durch Schuldknechtschaft begrenzen, aus dem Glauben an den befreienden Gott niedergelegt. Sie prägen unsere jüdisch-christliche Kultur mit ihren spezifischen Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Verantwortung vor Gott. Unter Berufung auf Gott selbst, der über aller innerweltlichen Macht steht, werden weltliche Machtkonstellationen relativiert und geregelt, Konfliktmechanismen und Formen des Rechts etabliert. In der biblischen Tradition garantiert Gott selbst das Recht der Schwachen und Armen, wird die mühselige Arbeit des Menschen als schöpferische Aufgabe mit dem Mandat Gottes versehen, werden die Mächtigen zur Verantwortung für den Einzelnen und die Gemeinschaft gerufen. In dieser Tradition wurzelt auch der vorliegende Text.

1.3 Gewerkschaften und Betriebsräte als hilfreiche Institutionen einer modernen Arbeitsgesellschaft - eine evangelische Verhältnisbestimmung

Um Konflikte in asymmetrischen Machtverhältnissen, wie denen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern [1], friedlich austragen zu können, braucht es institutionelle Akteure und klare Verfahren für den Umgang miteinander. In der Erwerbsarbeit sind dies in erster Linie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Arbeitgeber und Betriebs- bzw. Personalräte. Sie setzen sich dafür ein, dass Beschäftigung angemessen und zukunftsorientiert gestaltet und entlohnt wird und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden. In einer Zeit zunehmender Individualisierung und Entsolidarisierung teilt die evangelische Kirche mit den Gewerkschaften und anderen Nicht-Regierungsorganisationen auf nationaler wie internationaler Ebene (wie etwa der International Labour Organisation [ILO]) die Aufgabe, sich für verantwortungsvolles Wirtschaften, tragfähige Netzwerke und Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl einzusetzen. Dabei sind die Kirchen, vor allem in ihrer Diakonie, selbst wirtschaftlicher Akteur, sodass Kirche und ihre Diakonie für solche Organisationen sowohl Verbündete als auch kritisches Gegenüber und gelegentlich Konfliktpartner sind.

Mit Blick auf den Wandel in der Welt der Erwerbsarbeit und auf dynamische gesellschaftliche Entwicklungen entstehen heute neue Chancen für das Zusammenwirken zwischen Kirche und Gewerkschaften sowie Arbeitgeberverbänden, um gemeinsam für angemessene Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen einzutreten. Zu den gemeinsamen Zielen zählen beispielsweise das Bemühen um Teilhabe möglichst vieler Menschen an (Erwerbs-)Arbeit, der gemeinsame Einsatz für auskömmliche Finanzierung der Sorgearbeit oder Regelungen für angemessene Einkommen aus Erwerbsarbeit (»gerechter Lohn«). Die evangelische Kirche ist daher um gute Kontakte zu Verbänden und Gewerkschaften, zu Betriebs- und Personalräten wie zu Arbeitgeber- und Industrieverbänden und Handwerkern bemüht.

Nächstes Kapitel