Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

4. Die Umbrüche in der Arbeitswelt aus evangelischer Sicht

Die tief greifenden Umbrüche in der Arbeitswelt bedürfen der theologischen Bewertung und sozialethisch verantworteter Gestaltungsimpulse. Die Umbrüche werfen Fragen auf, wie beispielsweise: In welchem Licht erscheint die Situation des arbeitenden Menschen heute, wenn sie vor dem Hintergrund christlicher Glaubenserfahrung mit Blick auf die Ambivalenzen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen der Gegenwart beleuchtet wird? Wo kann Arbeit als Gemeinschaftswerk erlebt werden? Wie bewährt und wie verändert sich das spezifisch protestantische Erbe des Berufs angesichts aktueller Erfahrungen? Welcher gesellschaftlichen Anerkennung erfreut sich Beruflichkeit heute, wie bewerten wir Erwerbs-, Familien- und Sorgearbeit im Verhältnis zueinander?

4.1 Selbstbestimmung und Solidarität als evangelische Kriterien zur Bewertung des Wandels in der Arbeitswelt

These Kapitel 4.1:

Die Umbrüche in der Arbeitswelt erfordern Veränderungen, die die evangelische Kirche mit sozialethischen Kriterien begleitet. Leitend sind dabei Selbstbestimmung und Solidarität: Es geht darum, wie diese in der Arbeit ausgebildet, entwickelt und ausbalanciert werden. Aus evangelischer Sicht sind dabei individuelle Entfaltung und kooperative Gestaltung zentral, gute Arbeit und gutes Leben gehören zusammen. Als Kirche unterstützen wir eine konsensorientierte und verantwortliche Zusammenarbeit der Sozialpartner und ermutigen zur Solidarität und zur Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe.

Arbeit gehört zum Menschsein. In ihr wird der Mensch zum Mitgestalter der Welt, Menschen entfalten in ihrem Tun das vom Schöpfer übertragene Mandat der Weltverantwortung. Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes ist dazu befreit und beauftragt, Gottes Schöpfung beständig weiterzuentwickeln, gerade um sie im Sinne des biblischen Auftrags zu bewahren. Menschen realisieren diese Arbeit idealerweise in einem Beruf, in dem sie ihre Gaben entfalten. Doch gelingt dies nur in Kooperation, denn Arbeit ist ein Gemeinschaftswerk, für das jeder Mensch in Freiheit verantwortlich ist. Selbstbestimmung und Solidarität stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang und kommen darum aus christlicher Perspektive im unternehmerischen wie gewerkschaftlichen Handeln gleichermaßen in den Blick.

4.1.1 Selbstbestimmung, Kooperation und Sicherheit

In biblischer Perspektive ist das Zielbild eine Gesellschaft, in der Menschen miteinander unter Gottes Segen leben und arbeiten, es ist eine Gesellschaft ohne unterwürfiges Ducken und Streben, ohne Demütigung in entwürdigender Unterordnung. Die Arbeit daran hört nicht auf und geht nicht aus. Aus evangelischer Sicht ist ein entscheidendes Kriterium für die Bewertung von Arbeit, ob und wie Selbstbestimmung und Solidarität in der Arbeit ausgebildet und entwickelt werden, es geht also nicht um eine Befreiung von der Arbeit, sondern um Freiräume in der Arbeitswelt. Damit sich der Einzelne dabei so entfalten kann, dass er frei und solidarisch handelt und gestaltet, braucht es stets auch ein angemessenes Maß an Sicherheit in einem Beschäftigungsverhältnis. Ohne diese Sicherheit sind Freiheit und Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten gefährdet. Da letztlich niemand die Sicherheit eines Arbeitsplatzes garantieren kann, dienen Regelungen, die den Übergang von einem Arbeitsverhältnis in ein anderes unterstützen, und soziale Absicherung in Zeiten von Arbeitslosigkeit der Sicherheit wie der Freiheit des Einzelnen.

Selbstbestimmung, Kooperation und Sicherheit beschreiben den Rahmen, in dem sich Arbeit produktiv gestalten lässt. Je mehr Selbstbestimmung, je mehr Kooperation und je mehr Sicherheit - desto besser, menschlicher und produktiver. Doch Selbstbestimmung, Kooperation und Sicherheit stehen in Spannung zueinander: Der Wunsch nach möglichst großer Sicherheit kann durchaus auf Kosten der Freiheit gehen. Gemeinschaftserfahrungen werden auch am Arbeitsplatz gesucht und hoch geschätzt, allerdings können sie die notwendige Flexibilität beeinträchtigen. Gute Arbeit wird mithin da realisiert, wo die Spannung zwischen Selbstbestimmung, Sicherheit und Kooperation gut balanciert werden kann. Solche Spannungen lassen sich - gerade in Umbruchsituationen - nicht immer vermeiden, auch wenn sie mit Belastungen einhergehen. Sie sind vielmehr positiv zu bewerten, wenn sie zu produktiver Unzufriedenheit führen und so die Arbeitswelt verändern und entwickeln. Die Bereitschaft zu Veränderungen auch in den Unternehmen nimmt in dem Maße zu, indem die Betroffenen informiert sind und sich als tatsächliche Teilhaber des Wandels erfahren. Entscheidende Kriterien sind daher, ob die Veränderungsprozesse transparent sind und Betroffene über Beteiligungsmöglichkeiten verfügen.

4.1.2 Konkrete Maximen

Hieraus lassen sich Maximen zur Bewertung der konkreten Arbeitswelt ableiten. Grundsätzlich gilt die Beteiligung aller an der Arbeit als übergreifende Maxime: Das Ziel ist die gerechte Teilhabe an Erwerbsarbeit, die zu auskömmlicher Beschäftigung führt. Arbeitslosigkeit als Form verweigerter Teilhabe und Ausdruck eingeschränkter Humanität ist negativ zu beurteilen, problematisch sind auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wenn sie auf Dauer gestellt sind. Auskömmliche Vollbeschäftigung muss ein wichtiges Ziel wirtschaftspolitischen Handelns sein, sodass alle, die Arbeit suchen, auch ausreichend Arbeit finden.

Darüber hinaus bieten sich Maximen an, die sich auf die eigene Arbeit, den Beruf, die Kooperation, das Gemeinschaftswerk und die Konfliktlösung beziehen.

4.1.2.1 Die individuelle Ebene: Die eigene Arbeit als Beruf

Zu einer guten Arbeit und einem entsprechenden Arbeitsplatz gehören die Entfaltung eigener Fähigkeiten und die Entwicklung von Kreativität. Berufliche Bildung ist eine wesentliche, ja unverzichtbare Voraussetzung, damit eigene Begabungen ausgebildet und entfaltet werden können, damit die eigene Arbeit auch tatsächlich als Berufung erfahren und gestaltet werden kann.

Arbeiten ist kein Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, Produkte und Dienstleistungen in hoher Qualität für die Gesellschaft bereitzustellen. Darin hat sie ihren Zweck und ihr Maß. Dieser Gedanke kommt in der Vorstellung des Berufs nach wie vor gut zum Ausdruck. Es gilt, eine Kultur der Beruflichkeit und ein entsprechendes Arbeitsethos zu schätzen und entsprechend zu fördern.

Da alle etwas zur gesellschaftlichen Kooperation beitragen können, braucht es umfassend inklusive Arbeitswelten. Beeinträchtigungen müssen durch Arbeitsplatzgestaltungen aufgefangen werden. Dies gilt gerade, weil gesellschaftliche Teilhabe weitgehend über Teilhabe an Erwerbstätigkeit vermittelt und unabhängig ist von der Frage, ob diese einseitige Vermittlung nicht kritisch zu sehen ist.

In unserer arbeitsteiligen Berufswelt sind die meisten Menschen in abhängiger Beschäftigung. Es braucht deshalb Regelungen für abhängige Beschäftigte, die in asymmetrischen Machtverhältnissen tätig sind: Um Konflikte zu vermeiden, muss der Gesetzgeber den Rahmen regeln, müssen Tarifpartner branchenspezifische Regelungen aushandeln, Betriebsund Personalräte die Interessen der Belegschaft im Unternehmen vertreten und so unternehmerische Verantwortung gegenüber den Beschäftigten wahrnehmen und die konkreten Arbeitsbedingungen mitbestimmen.

Im lutherischen Verständnis des Berufs ist Arbeit aber nicht nur Erwerbsarbeit. Vielmehr baut im Grunde genommen die gesamte Erwerbsarbeitswelt auf Sorgearbeit, wie Familienarbeit, Erziehung, Pflege, aber auch auf den Aktivitäten der Zivilgesellschaft auf. Ohne die Sorgearbeit, die in Familie und Zivilgesellschaft geleistet wird, fehlt der Erwerbsarbeit zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen das Fundament.

Die Arbeitskraft ist keine Ware, mit der beliebig gehandelt werden könnte. Sie bleibt stets untrennbar mit ihrem Träger verbunden, bleibt Verausgabung wertvoller menschlicher Kraft und muss deswegen nachhaltig geschützt werden. Löhne und Gehälter sind Kosten für den Arbeitgeber, für die Arbeitnehmer aber sind sie als das zum Leben notwendige Einkommen das Äquivalent zu ihrem Wertschöpfungsbeitrag, den sie durch den Einsatz ihres Arbeitsvermögens erbringen.

4.1.2.2 Konflikte in der Arbeitswelt

Dass die Arbeitswelt durch vielfältige unterschiedliche, strukturelle und divergierende Interessenlagen geprägt ist, trägt zur progressiven Dynamik wie zur Entstehung von Konflikten bei. Die Betonung einer Gemeinschaftlichkeit der Arbeit darf diese nicht romantisierend überdecken. Den Sozialpartnern kommt die Aufgabe der Lösung dieser Konflikte und die Übersetzung in stabile Verhältnisse auf betrieblicher Ebene im Interesse aller zu. Gewerkschaften bündeln die Verantwortung der Arbeitnehmer in diesen Prozessen und sind deswegen von großer Bedeutung für das Gemeinwohl.

Viele Konflikte haben sich heute auf die internationale Ebene verschoben. Die Internationalisierung von Wertschöpfungsketten erfordert deswegen auch globale Verantwortungsübernahme und Engagements deutscher Unternehmen und Sozialpartner. In einem gemeinsamen Dialog mit zivilgesellschaftlichen, insbesondere kirchlichen Gruppen muss versucht werden, soziale und ökologische Mindeststandards in den Wertschöpfungsketten, deren Produkte in Deutschland konsumiert werden, durchzusetzen.

4.1.2.3 Zusammenfassung

Wie eine Gesellschaft künftig leben will, konkretisiert sich in nuce in der heutigen Gestaltung der Arbeitswelten, da hier bewusst, produktiv und zukunftsorientiert gehandelt wird. Wo dieses Handeln nicht erfolgreich ist, verschwinden Unternehmen vom Markt. Sind Arbeitswelten in Unternehmen, Branchen, Volkswirtschaften gut organisiert, können sich die menschlichen Kräfte trotz aller Belastungen in der Arbeit und aus der Arbeit immer wieder regenerieren. Im produktiven Miteinander werden tragfähige Ergebnisse erzielt. Das eigene Handeln erfährt Resonanz, neue Perspektiven müssen entstehen, Menschen und Organisationen entwickeln sich weiter. Gute Arbeit ist in diesem Sinne nachhaltig und bleibt darin bezogen auf Arbeits- und Lebensbereiche außerhalb der Erwerbsarbeit, ermöglicht auch Sorgearbeit in der Familie und zivilgesellschaftliches Engagement. So ist gute Arbeit integraler Bestandteil eines guten Lebens und wird mit Blick auf die solidarischen Aspekte von gewerkschaftlichem Engagement gestützt und gefördert.

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