Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

3.3 Die Entwicklung der Arbeitseinkommen in Deutschland

Grundthesen Kapitel 3.3:

Der Wandel der Arbeitswelt verändert auch die Entwicklung der Arbeitseinkommen in Deutschland. Problematisch ist die unterschiedliche Entwicklung von Kapital- und Arbeitseinkommen ebenso wie die gestiegene Einkommensungleichheit. Entscheidend ist, Teilhabe an Erwerbsarbeit zu ermöglichen (gerechte Teilhabe) und Armut wirksam zu bekämpfen (gerechter Lohn).

Für die Entwicklung der Arbeitseinkommen sind Arbeitsproduktivität, Arbeitsvolumen und Arbeitsentgelt wesentliche Faktoren, die von Märkten, Unternehmen und Gewerkschaften beeinflusst werden. Die Verteilung der Einkommen hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert: Entwickelten sich zwischen 1991 und 2003 Arbeitnehmerentgelte und Kapitaleinkommen parallel, so sind seither die Kapitaleinkommen deutlich stärker angewachsen und haben sich von der Entwicklung der Arbeitnehmerentgelte abgekoppelt. In der Finanzkrise 2008 und 2009 brachen die Kapitaleinkommen zwar dramatisch ein, doch wurde dies relativ schnell wieder kompensiert. Von 1991 bis 2009 sind die Reallöhne kaum gestiegen. Seither haben sich die Lohnzuwächse etwas beschleunigt, sodass mittlerweile auch Reallohnzuwächse zu verzeichnen sind.

Mit Blick auf die Verteilung der Arbeitnehmereinkommen ist seit den 90er Jahren eine deutliche Spreizung zu beobachten. Bis zum Jahr 2005 hat sich die Einkommensungleichheit vergrößert, gegenwärtig liegt Deutschland im Mittelfeld der 29 untersuchten OECD-Staaten. Die Lohnspreizung beruht auf diversen Faktoren wie unterschiedlichen Qualifikationen und Arbeitszeitvolumen oder auch Unterbrechungen der Beschäftigung. Auch der technologische Fortschritt ist ein wesentlicher Treiber für Einkommensungleichheit. Einerseits führt der technologische Wandel zu einer zunehmenden Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften, was bei schrumpfender Bevölkerung tendenziell zu steigenden Gehältern gut ausgebildeter Beschäftigter führt; andererseits nimmt die Nachfrage nach gering qualifizierten Beschäftigten in der Produktion ab.

In Deutschland wird die Einkommensverteilung auch durch umfassende Umverteilungsmechanismen im Steuer- und Sozialsystem beeinflusst. Die Verteilung der Einkommen kann nicht allein dem Marktgeschehen überlassen werden. Die Einkommensstarken müssen mehr zu einem funktionierenden Gemeinwesen beitragen und die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft bedürfen einer höheren Unterstützung. Diesem Grundsatz entsprechen progressive Einkommensbesteuerung ebenso wie die Ausgestaltung staatlicher Transfer- und Sozialleistungen.

Umstritten sind die Bewertung der Einkommensungleichheit in Deutschland, die unterschiedliche Entwicklung von Arbeitnehmer- und Kapitaleinkommen in den letzten Jahren sowie Umfang und Wirkung der Umverteilung. Während die einen auf den deutlich gestiegenen Niedriglohnsektor und die gestiegene Ungleichheit mit dem Hinweis auf die entstandene Gerechtigkeitslücke reagieren und die zunehmende Spreizung als potenzielle Spaltung der Gesellschaft beschreiben, verweisen die anderen auf gelingende Ausgleichsmechanismen der Sozialpartnerschaft und die erzielten Reallohnsteigerungen in den letzten Jahren. Doch geht es um mehr als um den klassischen Streit zwischen Kapital und Arbeit, da die Arbeitnehmereinkommen selbst immer weiter auseinanderdriften. Die in den Haushalten verfügbaren Einkommen reichen häufig nicht aus, um ohne Transferleistungen oder diakonische Angebote, wie Tafelläden, über die Runden zu kommen. 2013 waren über 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet, verfügten also über weniger als 60% des durchschnittlichen Einkommens. Das sind immerhin 16,1% der Bevölkerung. Zur wirksamen Bekämpfung der Armut sind, neben den Tarifparteien und Sozialpartnern, auch Politik und Kirche in der Verantwortung, auf eine angemessene Verteilung des Wohlstands und der Wohlstandsentwicklung zu achten.

Die beste Möglichkeit zur Bekämpfung von Armut ist und bleibt jedoch eine gute Ausbildung und damit verbundene bessere Beschäftigungsmöglichkeit. Die größte Gefahr für Armut ist mangelnde Bildung und damit verbunden eine geringere Chance auf gute Beschäftigung. Die beste Politik für ein angemessenes Einkommen und die beste Möglichkeit für den Einzelnen, ein gutes Einkommen im Leben zu erzielen, ist daher eine gute Ausbildung und Qualifizierung. Kein Sozial- und Steuersystem kann die Nachteile ausgleichen, die durch mangelhafte Bildung und Ausbildung entstehen können. Investitionen in diesen Bereich sind unbedingt erforderlich.

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