Präventivangriffe: ein ethisches Dilemma

Das Grundproblem der Unmittelbarkeit
Wann ist ein militärischer Angriff zur Selbstverteidigung erlaubt? Das klassische Völkerrecht verlangt, dass ein Angriff bereits im Gang oder unmittelbar bevorstehend sein muss – die Truppen stehen sozusagen schon an der Grenze. Doch was bedeutet „Unmittelbarkeit“ im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen, die aus der Ferne abgefeuert werden können? Die EKD-Denkschrift warnt vor der Aufweichung der strengen völkerrechtlichen Kriterien. Sie hält grundsätzlich an diesen Kriterien fest und verweist auf den Irakkrieg 2003 als mahnendes Beispiel für den Missbrauch präventiver Gewaltanwendung.

Ausnahme bei Massenvernichtungswaffen?
Andererseits erkennt sie an, dass es angesichts der Zerstörungskraft moderner Waffen auch neuartige Szenarien für solche unmittelbare Bedrohungslagen geben kann. Daher öffnet das Dokument vorsichtig eine Tür für Extremsituationen: Wenn der Erwerb von nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen unmittelbar bevorsteht, ihr Einsatz konkret angedroht wird und alle diplomatischen Mittel erschöpft sind, könne bei sorgfältiger Abwägung aller Umstände eine militärische Reaktion als Selbstverteidigung betrachtet werden.

Hohe ethische Hürden
Die evangelische Friedensethik stellt jedoch höchste Anforderungen an solche Entscheidungen. Präventive militärische Reaktionen seien nur legitim, wenn wirklich alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sind und die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Im Nachgang müssen ausreichende Belege für die unmittelbare Gefahr vorgelegt werden können. Die Kirche mahnt zu „größtmöglicher Zurückhaltung und ethischer Sorgfalt“ – gerade, weil das Präventionsargument sehr leicht missbraucht werden kann.

Kernsätze aus der Denkschrift

  • „Wenn der Erwerb von Massenvernichtungswaffen unmittelbar bevorsteht, ihr Einsatz konkret angedroht ist und alle diplomatischen Mittel erschöpft sind, kann eine militärische Reaktion bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls als Selbstverteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff betrachtet werden.“ S. 64 (58)
  • „Allerdings kann die Eigenart der abzuwendenden Gefahr eine Rolle bei der Anwendung der anerkannten Kriterien für rechtmäßige Selbstverteidigung spielen, also insbesondere der Unmittelbarkeit des bevorstehenden Angriffs sowie der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit militärischer Abwehrmaßnahmen.“ S. 115 (147)
  • „Wenn friedliche Mittel der Konfliktbearbeitung ausgeschöpft sind und bewaffnete Gegenwehr die einzig verbleibende Möglichkeit zur Abwehr einer existentiellen Bedrohung darstellt, kann aus ethischer wie völkerrechtlicher Perspektive eine präventive militärische Reaktion gerechtfertigt sein.“ S. 116 (147)
  • „Gerade angesichts des Missbrauchspotenzials solcher Begründungen muss die Friedensethik mit Nachdruck darauf hinweisen, dass hier nur mit größtmöglicher Zurückhaltung und ethischer Sorgfalt entschieden werden darf.“ S. 116 (147)

© Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick. Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland, EVA GmbH, Leipzig 2025.