Europa - Informationen Nr. 158

Leitartikel: Die Hardliner geben den Ton an - Verschärfungen in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik

OKR'in Katrin Hatzinger

Bei dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am 28. und 29. Juni 2018 in Brüssel standen ursprünglich zahlreiche Themen auf der Agenda. Beobachter hatten sich klare Signale im Hinblick auf die Reform der Wirtschaft- und Währungsunion, den künftigen EU-Haushalt, Sicherheit und Verteidigung und nicht zuletzt in der verhärteten Debatte um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) gewünscht. Stattdessen war die Migrationspolitik das beherrschende Thema und drängte die anderen Punkte in den Hintergrund. Die Akzentverschiebung war nicht zuletzt dem Druck des bayrischen Innenministers Horst Seehofer auf Kanzlerin Merkel geschuldet, die Sekundärmigration aus anderen EU-Staaten (notfalls durch Zurückweisungen an den deutschen EU-Binnengrenzen) zu stoppen und der Haltung der neuen italienischen Regierung aus der populistischen 5-Sterne-Bewegung und der fremdenfeindlichen Lega Nord. Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) hatte durch die Ansage, künftig keine NGO-Boote mit geretteten Flüchtlingen bzw. Migranten mehr in Italien anlanden zu lassen schon im Vorfeld des Gipfels Druck aufgebaut und den Schiffen Aquarius und Lifeline die Einfahrt in italienische Häfen verwehrt. Auch der neue Premierminister Giuseppe Conte schreckte nicht vor harschen Tönen zurück, als er gleich zu Beginn des Gipfels damit drohte, mögliche Beschlüsse zu blockieren, sollte Italiens Forderungen nach Entlastungen in der Migrationspolitik nicht nachgekommen werden.

Ein auf deutschen Wunsch hin von der EU-Kommission vorgeschaltetes sog. Arbeitstreffen am 24. Juni 2018 in Brüssel erlaubte es den beteiligten Staaten zumindest, ein wenig vorzusondieren. 16 der 28 EU-Mitgliedsstaaten nahmen daran teil, allerdings nicht die sog. Visegrád-Staaten aus Ost- und Mitteleuropa (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei). Sie sperren sich nach wie vor dagegen, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen, während die Aufnahmeländer wie Griechenland oder Italien mehr Solidarität fordern. Einigkeit herrschte unter den Staats- und Regierungschefs allein über Maßnahmen der Abschreckung und der Abwehr von Flüchtlingen.

Die Schlussfolgerungen des Rates sind daher aus flüchtlingsrechtlicher und menschenrechtlicher Sicht in weiten Teilen ein massiver Rückschritt, auch wenn die meisten Details der dort enthaltenen Vorschläge noch völlig unklar sind. Es zeichnet sich aber der eindeutige Trend zur weiteren Externalisierung des Flüchtlingsschutzes, zur Erschwerung des Zugangs zu internationalem Schutz innerhalb der EU, zur Internierung von Flüchtlingen und Migranten und zu Sanktionen für die Weiterwanderung von Schutzsuchenden innerhalb der EU ab. Die notwendige Reform des GEAS wurde erneut, nun auf Ende des Jahres verschoben. Die österreichische Ratspräsidentschaft lässt jedoch keinen großen Ehrgeiz erkennen, die Verhandlungen zum europäischen Asylrecht prioritär zu behandeln. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Bekämpfung der sog. „illegalen Migration“ (siehe nachfolgender Artikel).

Die wichtigsten Elemente der Ratsschlussfolgerungen lauten wie folgt: eine weitere Umsetzung des EU-Türkei-Deals und Kooperation mit dem Westbalkan und Afrika, Prüfung sog. „regionaler Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten“, Einrichtung „kontrollierte Zentren“ in der EU auf freiwilliger Basis, effektivere Rückführungen, mehr Außengrenzschutz, Unterbindung von Sekundärmigration, Verschiebung der Reform des GEAS.

Kooperation mit Drittstaaten
Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, an dem EU-Türkei-Deal festzuhalten, um „neuen Überfahrten aus der Türkei vorzubeugen“. Es müsse mehr getan werden, „um rasche Rückführungen“ zu gewährleisten und zu verhindern, dass „neue See- oder Landrouten entstehen“. Dafür sollen weitere drei Millionen Euro bereitgestellt werden. Ebenso gelte es, mit den Partnern in der Westbalkanregion zusammenzuarbeiten, um „illegaler Migration vorzubeugen“. Schließlich bedürfe es einer „Partnerschaft mit Afrika“ mit dem Ziel eines „spürbaren sozio-ökonomischen Umbaus des afrikanischen Kontinents“. Hier sollten neben Entwicklungshilfe die Themen „Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Innovation, gute Regierungsführung und die Stärkung der Position der Frau in der Gesellschaft“ im Mittelpunkt stehen. 500 Millionen Euro aus dem Europäischen Entwicklungsfonds sollten an den „Trust Fund for Afrika“ überwiesen werden. Die Ratsschlussfolgerungen enthalten keine Ausführungen zur Schaffung legaler Migrationswege aus diesen Regionen in die EU.

Regionale Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten
Nach Aussage der Staats- und Regierungschefs sind diese Plattformen, die man sich als Lager in Drittstaaten außerhalb der EU vorstellen muss, dazu gedacht, „tragische Todesfälle zu verhindern“ und das „Geschäftsmodell der Schleuser endgültig zu zerschlagen“. In enger Zusammenarbeit mit der internationalen Arbeitsorganisation (IOM) und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) soll dieses Konzept „ausgelotet“ werden. Geplant ist, dass aus Seenot gerettete Menschen in derartige Plattformen gebracht werden, um dort ihren Schutzstatus zu prüfen. In diesem Kontext sind aber einer Reihe von rechtlichen und tatsächlichen Fragen offen: so z.B. in welchen Drittstaaten diese Plattformen angesiedelt sein sollten (Tunesien, Marokko, Ägypten oder Albanien waren angedacht, haben aber bereits erklärt, dass sie nicht bereit sind, derartige Plattformen einzurichten); wer dazu befugt sein sollte, aus Seenot gerettete Menschen dorthin zu verbringen; wer die Prüfung des internationalen Schutzstatus vornehmen soll; wie sichergestellt werden kann, dass Flüchtlinge von dort im Wege eines Resettlements auch in der EU Aufnahme finden, wer die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und Flüchtlingsrecht überwachen soll und schließlich wie die Rückführung abgelehnter Bewerber sichergestellt werden und wer sie durchführen soll. Offen blieb auch die Frage nach den Kosten. IOM und UNHCR haben in einer Pressemitteilung am 29. Juni 2018 einige Bedingungen für derartige Ausschiffungsplattformen gestellt, u.a., dass Lebensrettung auf See weiterhin prioritär sein soll und die Kapazitäten der Küstenwachen zur Seenotrettung im Mittelmeer ausgebaut werden müssten, dass der Zugang auf Schutz in der EU Bestand haben, die Zentren staatlich betrieben und die Menschenrechte (insb. das non-refoulement-Gebot eingehalten werden müssten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Einbindung von UNHCR und IOM als Feigenblatt herangezogen wird, um die erheblichen rechtlichen und praktischen Bedenken gegen ein derartiges Vorgehen zu überdecken.

Einrichtung „kontrollierter Zentren“
Auf Vorschlag von Italien, Frankreich und Spanien wurde die Idee in die Schlussfolgerungen aufgenommen, innerhalb der EU sog. „kontrollierte Zentren“ einzurichten, um dort zwischen Schutzbedürftigen und irregulären Migranten zu entscheiden. Auf erstere Gruppe solle der „Grundsatz der Solidarität“ angewendet werden. Um den Bedenken der Visegrád-Staaten entgegenzukommen, sollen die Zentren auf freiwilliger Basis eingerichtet werden. Auch hier sind noch viele Fragen offen. So die Frage, was „kontrolliert“ genau bedeuten soll; wie lange die Menschen dort festgehalten würden; welche EU-Staaten bereit wären, diese Zentren einzurichten; wie dort ein schnelles und v.a. faires Asylverfahren sichergestellt werden soll und von wem es durchgeführt werden soll; wer für die Rückführung der abgelehnten Asylbewerber verantwortlich sein soll. Abgesehen davon würden geschlossene Zentren menschenrechtlich eine „rote Linie“ überschreiten. Die bisherigen Erfahrungen mit derartigen Massenunterkünften etwa in Bayern oder den sog. Hotspots in Griechenland sind niederschmetternd. Die Menschen werden dort teilweise für Monate und oft unter menschenunwürdigen Bedingungen von der Außenwelt abgeschirmt und haben kaum Zugang zu Integrationsmaßnahmen, geschweige denn einer unabhängigen Verfahrensberatung. Die Konzentration auf engstem Raum ohne ausreichend Privatsphäre, die Arbeitsverbote sowie die unsicheren Perspektiven sind hoch problematisch. Die bisherigen Erfahrungen lassen daher starke Zweifel aufkommen, ob dieses Modell eine tragfähige Lösung für die EU darstellen kann. Bislang hat sich kein EU-Staat bereit erklärt, derartige Zentren einzurichten.

Rückführungen und Außengrenzschutz
Der Rat begrüßt ferner, dass die Kommission Vorschläge für eine „effizientere und kohärentere europäische Rückkehrpolitik“ vorlegen will.
Um die Rückführungen effektiver zu gestalten und die EU-Außengrenzen besser zu schützen, soll der Europäische Grenz- und Küstenschutz (Frontex) durch eine Aufstockung der Mittel und ein erweitertes Mandat gestärkt werden.

Unterbindung von Sekundärmigration
Als Verweis auf die innenpolitische Debatte in Deutschland gibt es auch einen Passus zur Sekundärmigration. Diese sei geeignet, „die Integrität des GEAS und des Schengen-Besitzstandes zu gefährden“. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen „internen Rechtssetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen“ treffen. In diesem Kontext berichtete die deutsche Kanzlerin, sie habe mit 14 EU-Mitgliedstaaten Absprachen über bilaterale Abkommen zur beschleunigten Rücknahme von Flüchtlingen bzw. Migranten im Wege des Dublinverfahrens geführt (Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Litauen, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, Ungarn, Polen und Tschechien). Einige der Staaten dementierten derartige Absprachen allerdings im Nachhinein, wie Ungarn oder Tschechien. Mit Griechenland und Spanien wurden weitergehende Rückübernahmevereinbarungen getroffen. Der Kanzlerin ging es darum, diese Vereinbarungen in Absprache mit europäischen Partnern zu treffen, um nationale Alleingänge zu verhindern. Wie das Ganze in der Praxis ablaufen wird, blieb offen.

Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Zwar seien mehrere Dossiers „nahezu abgeschlossen“, allerdings müsse weiterhin eine Einigung über die Reform der Dublin-Verordnung getroffen werden. Auch der Vorschlag zur Asylverfahrensverordnung sei noch nicht entscheidungsreif. Deshalb solle die Arbeit „so bald wie möglich“ abgeschlossen werden. Auf der Oktober-Tagung des Europäischen Rates werde über Fortschritte berichtet.

Fazit: Der Flüchtlingsschutz in der EU gerät immer weiter unter Druck. Die Hardliner haben Oberwasser. Insofern spiegeln die Schlussfolgerungen eine klare Verschärfung im Politikansatz wieder und enthalten gleichzeitig viele unausgereifte Ideen (Ausschiffungszentren und kontrollierte Zentren), die oft nicht mehr als reine Symbolpolitik sind. Zwei non-paper der Europäischen Kommission zu den Vorschlägen vom 24. Juli 2018 sollten weitere Klarheit bringen, offenbaren aber stattdessen vielmehr die Unausgegorenheit der Vorschläge. Weder für die Ausschiffungsplattformen noch für die kontrollierten Zentren gibt es nämlich bisher Zusagen von Staaten. Die Kommission will die Einrichtung der kontrollierten Zentren nun mit dem Versprechen von finanzieller und operativer Unterstützung für EU-Staaten schmackhaft machen. 6000 € sollen für jeden aufgenommenen Flüchtling aus dem EU-Haushalt bereitgestellt werden. Außerdem will die EU die Kosten für den Betrieb übernehmen. Der gesamte Entscheidungsprozess soll nur noch höchstens acht Wochen dauern. Danach sollen Schutzbedürftige auf andere Staaten verteilt und Migranten ohne Bleiberecht abgeschoben werden. Das Konzept soll sobald wie möglich in einer Pilotphase getestet werden.

Was die Ausschiffungsplattformen angeht, betont die Kommission, dass es sich nicht um Lager handeln soll. Mit den regionalen Ausschiffungsvereinbarungen würden Vorgehensweisen und Vorschriften vorgegeben, die eine sichere und geordnete Ausschiffung gewährleisteten und sicherstellen sollten, dass nach der Ausschiffung die entsprechenden Verfahren unter uneingeschränkter Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte abgewickelt würden.

Europäische Beamte sollten mit dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über einen Schutzanspruch der Migranten entscheiden. Aber nicht alle Asylsuchenden sollen nach Europa umgesiedelt werden, damit das Konzept nicht zu einem zusätzlichen Fluchtanreiz (Pull-Faktor) wird. Auch hier wäre die EU bereit, finanzielle und operative Unterstützung für die Ausschiffung und die sich daran anschließenden Maßnahmen sowie für das Grenzmanagement in Form von Ausrüstung, Ausbildung und anderen Formen der Unterstützung bereitzustellen. Ein Treffen von Vertretern der EU mit UNHCR und IOM am 30. Juli in Genf blieb ebenfalls ohne greifbare Ergebnisse. Man vertagte sich auf das Ende der Sommerpause.

Auch wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs sich quasi im letzten Moment noch auf Gemeinsamkeiten besonnen haben, zeigt der Juni-Gipfel, wie sehr die Migrationsfrage mittlerweile die EU spaltet. Einigkeit gibt es lediglich bei den Restriktionen, die Vertreter einer liberalen Flüchtlingspolitik geraten immer weiter in die Defensive. Grundwerte der EU werden von europäischen Regierungsvertretern in Frage gestellt. So drohte der italienische Innenminister Salvini (Lega Nord) mehrfach mit der Abschiebung von geretteten Bootsflüchtlingen nach Libyen. Ein kleiner Lichtblick ist die neue pro-europäische sozialistische Regierung in Spanien, die sich konstruktiv in die Debatte einbringt. Nichtsdestotrotz sind die rechten Kräfte, die Ängste schüren und auf Verschärfungen setzen europaweit auf dem Vormarsch. Dabei wird auch der Ton untereinander immer rauer. Dabei wäre es jetzt an der Zeit, wieder zu einer Sachdiskussion zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund sollten nicht Misstrauen, innenpolitische Konflikte und gegenseitige Schuldzuweisungen unter den EU-Staaten die Tagesordnung beherrschen, sondern praktikable und menschenrechtsbasierte Lösungsansätze gesucht werden, die sowohl die Interessen der Aufnahmestaaten als auch die Schutzinteressen der Flüchtlinge berücksichtigen.

Statt allein auf restriktive Abwehrmaßnahmen zu setzen, sollte es den Staats- und Regierungschefs ein Anliegen sein, ein solidarisches und funktionierendes System für die Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen. Ein Mehr an Restriktionen und Abwehrmechanismen wird langfristig die Herausforderungen von Flucht und Migration in Europa nicht lösen. Die Flüchtlingszahlen in der EU sind rückläufig. Die Vorschläge zur Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems liegen auf dem Tisch. Es geht darum, Solidarität und Verantwortung gerecht auszutarieren und möglichst hohe Verfahrens- und Aufnahmestandards europaweit zu etablieren. Darüber hinaus müssen legale Migrationswege in die EU eröffnet und die Seenotrettung fortgesetzt werden. Der Rat der EKD rief in einer Pressemitteilung im Nachgang zum EU-Gipfel am 29. Juni 2018 dementsprechend dazu auf, die Standards einer solidarischen und menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik einzuhalten. Die Flüchtlingsfrage dürfe nicht dazu genutzt werden, um Ängste zu schüren, und damit den Zusammenhalt in Deutschland und der EU zu gefährden“, so der Rat der EKD weiter.

Die Ratsschlussfolgerungen finden Sie unter:
http://bit.ly/ekd-NL-158_LA-1

Das non-paper zu den Ausschiffungsplattformen ist in englischer Sprache hier zu finden:
http://bit.ly/ekd-NL-158_LA-2

Das non-paper zu den kontrollierten Zentren finden Sie unter:
http://bit.ly/ekd-NL-158_LA-3

Die Erklärung des Rates der EKD finden Sie hier:
http://bit.ly/ekd-NL-158_LA-4

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