Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

11. Der Übergang zwischen Kindergarten und Schule

These: Der Übergang vom Kindergarten in die Schule ist ein bedeutender Schritt im Leben eines Kindes und seiner Eltern, der mit emotionalen und kognitiven Herausforderungen verbunden ist. Dieser Übergang ist selbst als ein komplexer Bildungsprozess zu betrachten, der besondere Anforderungen an Eltern und Kinder sowie an die Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtung und Schule stellt. Der Übergang ist inhaltlich so zu konzipieren, dass er die individuellen entwicklungsfördernden Aspekte in den Vordergrund rückt.

Begründung und Erläuterungen

Die Phase des Übergangs von der Kindertageseinrichtung zur Schule ist mit Belastungen und Chancen verbunden, sie kann Stress auslösen, kann aber auch eine entwicklungsfördernde Herausforderung sein [15]. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie ist der Schuleintritt als bedeutsamer Schritt zwar in den Blick genommen worden, allerdings eher unter formalen Aspekten wie »früher oder flexibilisierter Schuleintritt«, Schulfähigkeitsprüfungen oder Sprachstandserhebungen. Um den Übergang aus der Perspektive qualifizierter Bildungsarbeit zu gestalten, müssen die spezifischen Anforderungen und der Umgang damit in den Mittelpunkt einer neuen inhaltlichen Konzeptionierung gerückt werden.

Aus der Perspektive des Kindes stellt sich der Übergang als Statusveränderung dar: Es ist jetzt »groß«, es kann und darf mehr als ein Kindergartenkind. Gleichzeitig ist diese Phase aber auch mit starken Gefühlen wie Aufregung, Vorfreude, aber auch Unsicherheit und Ängstlichkeit verbunden. Beim Übergang in die Schule ist das Kind zunächst mit Verlusterfahrungen konfrontiert: der Verlust der vertrauten Gruppe, der in dieser Gruppe erworbenen Rolle, der vertrauten Beziehungen zu Erzieher/innen. Die Kinder wechseln aus der Rolle der Großen im Kindergarten zur Rolle der Kleinen in der Schule. Die altersgemischte Kindergartengruppe wird in der Schule – in den meisten Fällen – zur Gleichaltrigengruppe; alle Kinder müssen gleichzeitig eine neue Gruppe bilden. Damit diese Herausforderung nicht zur Überforderung wird, ist es für das einzelne Kind bei diesem Gruppenbildungsprozess wichtig, dass bekannte und vertraute Kinder zur Gruppe gehören. Die zeitlichen Strukturen verändern sich unter Umständen im Vergleich zum Kindergarten, die Teilnahme wird von der Freiwilligkeit zur Pflicht. Innerhalb der Familie erfährt das Kind eine Rollenveränderung, weil es in die Rolle des Schulkinds eintritt. Aber auch die Eltern werden gegebenenfalls zum ersten Mal Eltern eines Schulkindes und müssen den Übergang bewältigen und entsprechende Anpassungsleistungen vollbringen. Auch hier sind Unsicherheiten zu bewältigen, wenn sich Tagesabläufe ändern und die Eltern ihr Kind bei der Bewältigung der neuen Entwicklungsstufe unterstützen wollen.

Dabei spielt für Eltern das Vertrauen zu den Lehrkräften, denen sie ihr Kind übergeben, eine bedeutende Rolle. Dieses Vertrauen kann dafür sorgen, dass die Übergabe von Verantwortung erleichtert wird. Im Familienleben kann der Schuleintritt die Beziehungen untereinander verändern, weil das Schulkind seine Selbstständigkeit weiterentwickelt und gleichzeitig Anforderungen an Pünktlichkeit, Ordnung und Sorgfalt die gewohnten Strukturen aufheben können. Der Übergang vom Kindergarten in die Schule gestaltet sich schwieriger, sobald weitere Übergänge in dieser Zeit zu bewältigen sind: Geburt eines Geschwisterkindes, Aufnahme von Erwerbstätigkeit, Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung der Eltern. Diese Aspekte müssen vom Kindergarten und der Schule bei der Gestaltung des Übergangs und der Begleitung des Kindes berücksichtigt werden.

Diese Anforderungen an die kindlichen Entwicklungsaufgaben machen deutlich, dass eine unterstützende Begleitung die enge Kooperation zwischen der abgebenden Institution Kindergarten und der aufnehmenden Institution Schule erforderlich macht.

Es reicht nicht aus, mit einem Schulbesuch die künftigen Schulkinder auf die Räume und möglicherweise auch schon auf die künftigen Lehrkräfte einzustimmen. Begleitende Beobachtung und eine kritische Reflexion des Geschehens können Anregungen für die weitere individuelle Entwicklung des Kindes geben und so sein Selbstvertrauen stärken. Kindergarten und Schule müssen sich auf eine individuelle Begleitung von Kindern und Eltern verständigen, welche die jeweiligen Anforderungen und Bewältigungsstrategien berücksichtigt. Diese Phase ist für alle Beteiligten – Kinder, Eltern, Erzieher/innen und Lehrkräfte – ein Bildungsprozess, der ihre Eigenaktivität herausfordert, aber auch Anregungen durch Andere benötigt. Das erfordert einen intensiven Austausch zwischen den Fachkräften beider Institutionen über den Entwicklungsstand des Kindes, seine Stärken und Vorlieben und Förderungsbedarfe. Die Erzieher/innen können diese Form der qualitativen Gestaltung des Übergangs nur leisten, wenn sie bereits während der Zeit des Kindes in der Kindertagestätte systematisch Entwicklungsbeobachtungen durchführen und die Eltern regelmäßig über die Entwicklung des Kindes informieren. So werden auch Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt; das Prinzip der Erziehungspartnerschaft wird auf diese Weise umgesetzt. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die Lehrkräfte gezielt zu informieren und Kontinuität sowie gezielte Weiterentwicklung beim Übergang zu gewährleisten. Sie trägt dazu bei, den individuellen Förderbedarf genau zu beschreiben und pädagogisch umzusetzen. Damit ist der Debatte um die Schulfähigkeit und den vermeintlich notwendigen gleichen »Wissenstand« von Schulkindern eine konstruktive Perspektive entgegengesetzt, die den individuellen Bildungsprozess in den Mittelpunkt rückt.

Die Umsetzung dieses Konzeptes erfordert allerdings den Kindergartenbesuch aller Kinder mindestens im Jahr vor der Einschulung. In diesem Zusammenhang wird auch die Einführung einer Kindergartenpflicht im Jahr vor der Einschulung diskutiert. Die politische Diskussion konzentriert sich allerdings auf die Gruppe der Kinder aus Migrantenfamilien. Deren Sprachdefizite waren mit der Veröffentlichung der PISA–Studie besonders in den Blick gerückt. Abhilfe zu schaffen und die wahrgenommenen Defizite auszugleichen, wurde als politische Aufgabe anerkannt, deren Lösung man möglicherweise mit Hilfe einer Kindergartenpflicht näher kommen könnte. Der frühe Besuch des Kindergartens soll auch dazu beitragen, frühzeitig soziales Lernen erfahren zu können und den Einstieg in frühe Kriminalitätsformen zu verhindern.

Im europäischen Vergleich besteht nur in Luxemburg eine einjährige Vorschulpflicht. Allerdings ist auffällig, dass viele Länder höhere Versorgungsquoten bei den fünfjährigen Kindern haben als Deutschland, verbunden mit einer grundsätzlich breiten Akzeptanz des Besuchs einer Kindertagesstätte. Dadurch ergibt sich die Aufgabe, in Deutschland verstärkt für den Besuch von Kindergärten zu werben.

Ein letzter Aspekt soll hier zumindest noch angedeutet werden: Der Übergang zwischen Kindergarten und Schule kann auch dadurch erleichtert und fließend gestaltet werden, dass in Kindertageseinrichtungen nicht nur Plätze für Vorschulkinder freigehalten werden, sondern auch verstärkt Hortgruppen und Angebote für Schulkinder eingerichtet werden. Die Ausweitung des Angebotes im Hortbereich entspricht einem wachsenden Bedarf bei vielen Eltern, Familien und Alleinerziehenden.

Konsequenzen:

  • Der Übergang vom Kindergarten zur Schule wird als bedeutender Bildungsprozess für Kinder und Eltern neu wahrgenommen.
  • Die individuellen Entwicklungsaufgaben in dieser Lebensphase finden Berücksichtigung in einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und Schulen. Die Einrichtungen begleiten Kinder und Eltern in dieser Phase und berücksichtigen individuelle Anforderungen.
  • Die Kindertagesstätte mit ihrem spezifischen Bildungsauftrag vermittelt die bisherige Bildungsentwicklung des Kindes, die mit den Eltern gemeinsam erörtert, reflektiert und dokumentiert ist, an die Schule.
  • Die Schule als aufnehmende Institution orientiert sich an den entwickelten Kompetenzen und führt diesen Entwicklungsprozess fort, so dass jedes Kind die Chance hat, »schulfähig« zu werden.
  • Alle Diskussionen über die Neugestaltung der Schuleingangsstufe haben sich an diesen konzeptionellen Überlegungen zu orientieren. Sie berücksichtigen die individuellen Entwicklungsaufgaben und halten die Herausforderungen an Eltern und Kinder in einem entwicklungsförderlichen Umfang.
  • Damit alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft an den Angeboten teilnehmen können, soll verstärkt versucht werden, Eltern von der Notwendigkeit des Besuchs einer Kindertagesstätte zu überzeugen.

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