Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

7. Integration von Kindern mit Behinderungen in den evangelischen Kindertagesstätten

These: Eine Gemeinde, die Behinderte aus ihrem Leben ausschlösse, wäre eine »behinderte Gemeinde«. Es gibt keine zweite Garnitur Gottes, keine Menschen, die nur stark sind, und keine anderen, die wegen ihrer Schwächen nur Sorgen bereiten. Jeder Mensch braucht unterschiedliche, mehr oder weniger intensive personelle und sachliche Unterstützung und Hilfen zur Bewältigung seines Lebens. Es ist christliche Verpflichtung, jeden Einzelnen, so wie er ist, anzunehmen und ihm, so weit dies möglich ist, Chancengleichheit zu eröffnen. Dies gilt auch für den Bereich der Bildung. Die EKD vertritt insofern ein »integratives diakonisches Bildungsverständnis«. Gemeinsamkeit macht stark, Unterschiedlichkeit macht schlau. Evangelische Tageseinrichtungen für Kinder sind ein Ort für alle Kinder. Behinderte Kinder dürfen nicht von ihrem Lebensort fortgerissen und wegen Art oder Schweregrad ihrer Behinderung ausgegrenzt werden. Die Kirchengemeinde trägt durch ihre Kindertagesstätten dafür Sorge, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder in ihren natürlichen Altersgruppen und Wohngegenden miteinander aufwachsen können.

Begründung und Erläuterungen

Die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder ist nicht nur ein gesellschaftlicher Auftrag, sondern auch eine besondere Verpflichtung für Kirche und Diakonie vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes. Jeder Mensch ist uneingeschränkt Mensch und als solcher grundsätzlich entwicklungsfähig. Menschen sind bis in die biologischen Wurzeln auf das soziale Miteinander angelegt. Das Zusammentreffen und Zusammenleben verschiedener Kinder mit ganz unterschiedlichen Begabungen, Herkünften, Orientierungen und Hemmnissen in evangelischen Einrichtungen für Kinder führt zu einer lebendigen Vielfalt und zu einem Reichtum an Erfahrungen und Begegnungen in der Auseinandersetzung mit den jeweils anderen und im gemeinsamen Lernen. Dass der Umgang mit Schwachen, Kranken, Alten, Benachteiligten und Behinderten im Bildungsbereich eingeübt wird, ist für die evangelische Kirche keine Nebensache, sondern Ausdruck ihres integrativen diakonischen Bildungsverständnisses [11]. Zu den wichtigsten Grundsätzen dieses Verständnisses von integrativer Erziehung, Bildung und Förderung gehören:

  • die Zulassung einer größtmöglichen Individualität innerhalb der Kindergruppen,
  • Dezentralisierung und Regionalisierung (alle Kinder besuchen den Kindergarten in ihrem Wohnquartier, Spezialist/innen gehen zu den Kindern, nicht umgekehrt),
  • Unteilbarkeit (alle Kinder werden unabhängig von der Art und Schwere ihrer Behinderung aufgenommen),
  • integrative Therapie (an den Fähigkeiten und Stärken des Kindes ansetzen, nicht an seinen Defiziten),
  • Kompetenztransfer (zwischen verschiedenen Fachdisziplinen),
  • ein an Individualisierung und innerer Differenzierung orientiertes Spiel- und Lernangebot,
  • Projektarbeit als didaktisches Prinzip.

Gemeinsame Erziehung und Bildung aller im Einzugsbereich einer Kindertagesstätte lebenden Kinder schließt von vorneherein die Aussonderung bestimmter Kinder aus. Der Integrationsanspruch kann eingelöst werden, wenn Kinder in ihrer gewohnten sozialen Umgebung, unter Aufrechterhaltung ihrer sozialen Beziehungen und Lebenszusammenhänge im gemeinsamen Spielen und Lernen ohne soziale Isolation und sozialen Ausschluss aufwachsen können.

Im Konzept der Integrationspädagogik ist die Erkenntnis der PISA-Studie, dass Kinder einer Altersgruppe sehr unterschiedlich entwickelt sein können, mit berücksichtigt. Es geht davon aus, dass jede Gruppe einer sehr differenzierten Pädagogik (auch im Sinne einer »inneren Differenzierung«) bedarf. In unserer Gesellschaft, die durch Profitorientierung und Leistungsbezogenheit gekennzeichnet ist, lebt eine Gemeinde, die für die Belange aller ihrer Mitglieder eintritt, glaubwürdig vor, was die christliche Botschaft beinhaltet.

Grundsätzlich gilt: Integration ist machbar und muss auch künftig finanzierbar bleiben. Alle Möglichkeiten zur Finanzierung der Voraussetzungen für eine integrative Erziehung, Bildung und Förderung in Kindertageseinrichtungen müssen geprüft werden. Auch gilt es, neue Finanzierungsmöglichkeiten und deren Umsetzung zu eruieren. Zu den Voraussetzungen für eine integrative Erziehung, Bildung und Förderung zählen insbesondere:

  • behindertengerechte Ausstattung der Einrichtungen (Sachkosten),
  • ausreichende Förderangebote (Sachkosten),
  • für die Betreuung von behinderten Kindern qualifizierte sowie in integrativer Pädagogik geschulte Erzieher/-innen und Fachkräfte (Personalkosten),
  • kontinuierliche behindertenpädagogische, psychologische und therapeutische Beratung und Anleitung des pädagogischen Teams (Personalkosten),
  • regelmäßige Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen für die Mitarbeiter/innen der Einrichtungen (Personalkosten).
  • Konsequenzen:

  • Die evangelische Kirche setzt sich dafür ein, Tendenzen der Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt vorzubeugen. Die Landeskirchen und die Landesverbände der Diakonie fördern auch vor diesem Hintergrund den Erhalt und die Weiterentwicklung integrativer Maßnahmen im Kindergarten.
  • Die Landeskirchen und die landeskirchlichen Diakonischen Werke unterstützen die Gemeinden bei der Suche nach Lösungen für die Integration vor Ort.
  • Die evangelischen Ausbildungsstätten werden gebeten, Integrationspädagogik zu einem festen Bestandteil der Ausbildung von Erzieher/-innen zu machen.

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