Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

2. Evangelische Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen

These: Der Prozess der Persönlichkeitsbildung beginnt bereits in den ersten Lebensjahren. Kindertagesstätten haben deshalb die Möglichkeit und die Pflicht, diesen anspruchsvollen Prozess möglichst umfassend anzuregen, zu fördern und zu gestalten. Gerade vor dem Hintergrund eines christlichen Bildungsverständnisses und der diakonischen Verantwortung der Kirche wird es zukünftig für evangelische Kindertagesstätten verstärkt darauf ankommen, ihre spezifische Bildungsaufgabe wahrzunehmen und durch Förderung und Ausgleich herkunftsbedingter Unterschiede für jedes Kind eine ihm entsprechende Bildung der Persönlichkeit zu ermöglichen.

Begründung und Erläuterungen

In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte zeigt sich ein Perspektivenwechsel, insofern die Kindertagesstätten verstärkt als Bildungseinrichtungen begriffen werden. Die gegenwärtige Debatte kann in dieser Hinsicht an manche Einsichten und an eine erprobte Praxis anknüpfen, die in den sog. »neuen Bundesländern« länger schon und breiter verankert vorhanden ist. In der DDR wurden schon in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Kindertageseinrichtungen nicht ausschließlich unter dem Aspekt der (allerdings durchaus als notwendig erachteten) Betreuung betrachtet, sondern sollten der elementaren Bildung der Kinder von Anfang an dienen. Allerdings war das Bildungsverständnis in der DDR von einer marxistisch-leninistischen Weltanschauung bestimmt, die mit dem christlichen Bildungsverständnis nicht vereinbar ist. Vergleichbar ist jedoch die hohe Priorität des Bildungsgedankens innerhalb der Trias von Bildung, Erziehung und Betreuung. Generell kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass für viele Kindertagesstätten in den östlichen Gliedkirchen der EKD der hier in Rede stehende Perspektivenwechsel schon viel früher und umfassender vollzogen wurde und deshalb auch heute noch im Hinblick auf die Elementarbildung eine bildungspolitische Asymmetrie der beiden Teile Deutschlands existiert. Der skizzierte grundsätzliche Perspektivenwechsel kommt dem oben (in Abschnitt 1) entfalteten Bildungsverständnis entgegen, das Bildung als einen lebenslangen Prozess versteht, der in unterschiedlichen Bildungsphasen abläuft. Dabei hat gerade die Phase der ersten Lebensjahre eine große Bedeutung, da in dieser Phase der elementaren Bildung bei aller Varianz individueller Entwicklung drei grundlegende Bereiche der Weltorientierung ausgebildet werden:

  • die Konstruktion eines grundlegenden Verständnisses von Wirklichkeit,
  • die Fähigkeit des Umgangs mit Krisen, Brüchen, Übergängen der Biographie,
  • eine ethische Grundbildung und die Etablierung eines grundlegenden Wertesystems.
  • Alle drei Fundamentalbereiche müssen einhergehen mit der Ausbildung kommunikativer Kompetenz und sie können überhaupt nicht gedacht, und deshalb vom Kind auch nicht entwickelt werden, ohne dass die religiöse Dimension mit einbezogen wird.

  • In der Konstruktion der eigenen Welt stellen Kinder die Grundfragen ihrer Weltorientierung. Sie stellen beispielsweise die Frage nach Anfang und Ende der Welt und des individuellen Lebens; sie stellen die Frage nach der Transzendenz jenseits der Todesgrenze. Eine Gestaltung des Bildungsprozesses muss deshalb gerade auf der elementaren Ebene die religiöse Dimension wahrnehmen und mit einbeziehen. Auf die philosophischen und theologischen Fragen des Kindes ist sach- und altersgerecht einzugehen, und genau wie in anderen Bereichen sind verantwortete Anregungen für die Beantwortung dieser Fragen zu geben.
  • Soziale Kompetenzen und die Fähigkeit des Umgangs mit Differenz hängen entscheidend vom eigenen Selbstkonzept und vom Bild der anderen ab. Auch hier ist das explizit oder implizit kommunizierte Menschenbild die tragende Grundlage. Erscheinen die anderen als Feinde, als bedrohlich erlebte Konkurrenten, oder sind sie in ihrer Individualität und Unterschiedenheit wertvoll, zum Ebenbild Gottes bestimmt wie ich selbst?
  • Im Umgang mit biographischen Brüchen und Krisen entsteht die Frage nach Sinn und Deutung. Gerade in der gegenwärtigen Gesellschaft sind schon junge Menschen verstärkt vor die Aufgabe gestellt, Brüche und Krisen zu bearbeiten und in die eigene Biographie zu integrieren. So führt die höhere Mobilität der Eltern für das Kind zu häufigem Wechsel des Lebensumfeldes, ebenso verlangen Scheidung bzw. Wiederverheiratung der Eltern nicht selten von den Kindern anspruchsvolle Verarbeitungsleistungen. Auch in diesem Zusammenhang der Bewältigung von Krisen ist für Kinder eine Grundgewissheit der tragenden Nähe und Verlässlichkeit Gottes eine wichtige Voraussetzung, um Krisen zu bearbeiten. Dabei kann die Gewissheit des Glaubens helfen, nicht nur die bedrohlichen Aspekte einer Krise zu sehen, sondern auch Zukunft eröffnende Aspekte zu entdecken und ins eigene Leben zu integrieren.
  • Die Etablierung eines eigenen Wertesystems vollzieht sich niemals als eine schlichte »Vermittlung« von Werten. Werte können nicht wie Gegenstände weitergegeben werden, sondern sie gründen in einem Fundament, das in einer spezifischen Sicht der Welt und des Menschen besteht. Diese Sicht, die für den christlichen Glauben in den Erzählungen der Bibel eröffnet wird, ist die Voraussetzung dafür, eine eigene ethische Orientierung zu entwickeln.

Auch im Bereich der elementaren Bildung ist das Thema »Leistung« gegenwärtig. Erfahrungen von Erfolg und Gelingen werden ebenso gemacht wie Erfahrungen von Misserfolg und Scheitern. Spielerische Konkurrenz führt zur Einschätzung und »Bewertung« der eigenen und der fremden Leistungen. Ein evangelischer Begriff von Bildung enthält die Möglichkeit und die Verpflichtung, auch diesen Aspekt zu bedenken, zumal die Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Verständnis menschlicher Leistungen geradezu im Zentrum des christlichen Glaubens steht. Es ist das Kernanliegen des Evangeliums, also der befreienden Botschaft von der Rechtfertigung, deutlich zu machen, dass die das ganze individuelle Leben begründende Beziehung des Menschen zu Gott durch die persönlichen Leistungen des Einzelnen weder ermöglicht noch erhalten wird. Dies aber bedeutet, dass die Grundbeziehung des eigenen Lebens nicht von der individuellen Leistung abhängt. Menschen, denen sich diese Wahrheit erschlossen hat, können ein Selbstkonzept entwickeln, das es ihnen ermöglicht, Kreativität freizusetzen, etwas zu wagen, sich etwas zuzutrauen und schließlich auch bemerkenswerte Leistungen zu erbringen, weil es auf einer tiefen Lebensgewissheit aufbaut. Sie können aber ebenso mit Versagen oder Scheitern umgehen, wenn ihnen bewusst bleibt, dass auch mangelhafte Leistungen und Niederlagen die lebenstragende Grundbeziehung nicht erschüttern können. Bildung muss also gerade auch in der elementaren Bildungsphase in einem umfassenden und anspruchsvollen Sinn als Persönlichkeitsbildung begriffen werden.

Als eine notwendige Folge dieses Bildungsverständnisses und des mit ihm verbundenen Leistungsbegriffs ergibt sich für pädagogisches Handeln in evangelischen Kindertagesstätten die Aufgabe, soziale Unterschiede auszugleichen, wo diese Bildungsprozesse behindern, und zur Erhöhung der Chancengleichheit beizutragen. Dies gilt nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit sozialen Unterschieden, die sich aus der Lebenserfahrung der Migration ergeben. Hierauf wird weiter unten (vgl. Abschnitte 6, 11) noch einmal einzugehen sein.

Konsequenzen:

  • Die Bildungsaufgabe der evangelischen Kindertagesstätten muss deutlicher als bisher wahrgenommen werden. Damit ist ein Perspektivenwechsel sowohl im Selbstverständnis der Einrichtungen als auch in der Kommunikation innerhalb der Kirche verbunden.
  • Es ist zu verdeutlichen, dass der diakonische Aspekt nicht in Konkurrenz zum Bildungsaspekt steht. Gerade die individuelle Förderung und der Ausgleich von herkunftsbedingten Nachteilen, denen in der Bildungsarbeit der Kindertagesstätten eine wichtige Bedeutung zukommt, stellen konkretes diakonisches Handeln dar.
  • Evangelische Kindertagesstätten nehmen ihre spezifische Bildungsaufgabe wahr, indem sie in der Praxis die religiöse Erziehung als ein integrales und grundlegendes Element der Persönlichkeitsbildung umsetzen. Dementsprechend ist verstärkt an einer Religionspädagogik für den Elementarbereich zu arbeiten und die dafür erforderliche Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter/innen anzubieten.
  • Evangelische Kindertagesstätten haben auch die Aufgabe, modellhaft zu verdeutlichen, dass religiöse Erziehung immer zu einer umfassenden Persönlichkeitsbildung gehört.

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