Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

4. Religionspädagogische Aus- und Fortbildung für Erzieherinnen und Erzieher

These: Religionspädagogik muss zu einem festen Bestandteil kirchlicher Ausund Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern werden. Diese orientiert sich inhaltlich an einer doppelten Perspektive: an den berufspraktischen Aufgaben religiöser Erziehung einerseits und an der Klärung des eigenen Standorts in Glaubensfragen andererseits. Unverzichtbar sind eine religionspädagogische Grundbildung und die Vermittlung von berufspraktisch relevanten und religionspädagogisch elementaren Inhalten. Die Ausbildung muss Erzieherinnen und Erzieher grundsätzlich befähigen, mit den religiösen Fragen der Kinder und ihrer Familien kompetent umzugehen.

Begründung und Erläuterungen

Etwa 50 Prozent der Kindertagesstätten befinden sich in kirchlicher Trägerschaft. Zwar gehört das Fach »Religionspädagogik« in vielen Fachschulen bzw. Fachakademien für Sozialpädagogik zum Fächerkanon für angehende Erzieherinnen und Erzieher. Dennoch findet nicht in allen evangelischen Kindertagesstätten eine bewusste religiöse Erziehung statt. Viele Erzieherinnen und Erzieher sind in religiösen Fragen eher unsicher. Stabile religiöse und kirchliche Bezüge sind oft nicht vorhanden, es fehlt an fundiertem religiösen Wissen. Hinzu kommen häufig nur geringe Kenntnisse über die kulturellen und religiösen Traditionen der Kindergartenkinder nicht-christlicher Herkunft.

Nicht nur unter Eltern, auch von Erzieherinnen und Erziehern wird zudem mitunter die Meinung vertreten, es sei das Beste, Kinder »frei« aufwachsen zu lassen und auf religiöse Angebote zu verzichten. Gerade angesichts einer zunehmend multireligiösen Zusammensetzung der Kindergartengruppen scheint dies für manche Erzieherinnen und Erzieher ein leichter und konfliktfreier Weg inmitten der komplizierten religiösen Vielfalt zu sein. In Wahrheit wird so aber ein gelingender Umgang mit den vorhandenen religiösen Phänomenen verfehlt und die Kinder bleiben mit ihren Interessen, Fragen, Anliegen und Sorgen faktisch sich selbst überlassen.

Für die Berufsmotivation der Erzieherinnen und Erzieher spielt in der Regel das Interesse an religionspädagogischer Arbeit keine dominierende Rolle. Dennoch gibt es in der Aus- und Fortbildung ein Interesse vieler Erzieherinnen und Erzieher an persönlicher Orientierung und der Klärung existentieller Fragen sowie an lebensvertiefender Spiritualität.

Die Religionspädagogik muss vor diesem Hintergrund zu einem festen Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Erzieher werden. Dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend:

  • Kinder bringen Religion in die Kindertagesstätte mit: das Gebet in der Familie, den Tod des Haustieres, den Besuch bei den muslimischen Nachbarn. Religion kommt in der Lebenswelt der Kinder und im Alltag einer Kindertagesstätte immer schon vor. Von Erzieherinnen und Erziehern muss daher erwartet werden, dass sie hiermit sprach- und gestaltungsfähig sowie begründet umgehen können.
  • Kinder stellen wichtige Fragen. Sie fragen nach sich und ihrer Identität, sie fragen nach Leben und Tod, nach dem Sinn des Ganzen und nach Schutz und Geborgenheit für sich selbst, sie stellen ethische Fragen und möchten etwas wissen über die kulturellen und religiösen Unterschiede, die sie erleben. Kinder brauchen auch in der Kindertagesstätte Erwachsene, die sie in ihrer Suche nach Orientierung und ihren Fragen nach Gott und der Welt begleiten.
  • Wenn die Kindertagesstätte eine Bildungseinrichtung sein soll, dann gehört dazu auch, den Kindern in kindgerechter Weise die religiösen Wurzeln der Kultur zu vermitteln, in die sie hineinwachsen, die sie selbst verstehen wollen und an der sie mitgestaltend beteiligt sein werden.
  • Erzieherisches Handeln ist immer wertbestimmt. Wer Kinder religiös prägen will, muss deutlich machen, woher das eigene Welt- und Menschenbild stammt und welches seine oder ihre letzten Werte sind – denn sie gehen immer in das erzieherische Handeln ein. Von Erzieherinnen und Erziehern darf daher erwartet werden, den eigenen Bezug zu Religion und Glaube zu klären.

Inhaltlich muss sich religionspädagogische Aus- und Fortbildung für Erzieherinnen und Erzieher an einer doppelten Perspektive orientieren: an den berufspraktischen Aufgaben religiöser Erziehung einerseits und an der Klärung des eigenen Standorts in Glaubensfragen andererseits.

Die religionspädagogische Ausbildung der angehenden Erzieherinnen und Erzieher sollte ihren Ausgangspunkt bei der Erkundung und Bearbeitung der eigenen religiösen Sozialisation sowie der Klärung der von den Auszubildenden/Studierenden selbst eingebrachten Fragen und Erfahrungen nehmen. In der Unterrichtspraxis bewähren sich offenkundig nur Ansätze, die von der Lebens- und Erfahrungswelt der Studierenden ausgehen und die thematischen Vorhaben des Faches Religionspädagogik damit verknüpfen.

Doch in der Klärung der eigenen »religiösen Befindlichkeit« allein kann sich religionspädagogische Aus- und Fortbildung für Erzieherinnen und Erzieher nicht erschöpfen. Eine religionspädagogische Grundbildung und die Vermittlung von berufspraktisch relevanten und religionspädagogisch elementaren Inhalten müssen hinzukommen. Hier sind vor allem zu nennen:

  • Für Erzieherinnen und Erzieher stellt sich die Aufgabe, im Alltag der Kindertagesstätte eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder die Erfahrung machen können, erwünscht und anerkannt zu sein: durch die Strukturierung von Tagesabläufen, Rituale der Begrüßung und der Verabschiedung, faire Umgangsregeln und eine Grundaufmerksamkeit für jedes Kind. Dies ist nicht durch Techniken zu lernen, sondern hier geht es um die persönliche Haltung, aber auch um die Lebenseinstellung der Erzieherin und des Erziehers.
  • Ausbildung und Fortbildung müssen Kenntnisse über Religion in der Kindheit vermitteln. Kinder sind »aktive Erkunder ihrer sie immer wieder neu überraschenden Welt und eigenständige Entdecker von möglichen Antworten auf die Rätsel, die sich ihnen auftun. Jedes Kind entwickelt gleichsam seine eigene Theologie ...« [7]. Erzieherinnen und Erzieher brauchen Einblicke in die religiöse Vorstellungswelt von Kindern, damit sie deren eigene religiöse und auch theologische Kompetenzen wahrnehmen und gezielte Anregungen für die religiöse Bildung der Kinder geben können.
  • Erzieherinnen und Erzieher sollten in der Lage sein, den Kindern spirituelle Erfahrungen zu ermöglichen. Dazu gehören stille Zeiten und Rituale, Klangübungen und Phantasiereisen, aber auch Besuche in der Kirche, das Erzählen biblischer Geschichten und verschiedene Formen des Gebets. Auf Seiten der Erzieherinnen und Erzieher setzt dies eine eigene reflektierte Einstellung zur Bedeutung von Spiritualität voraus.
  • Kinder bringen Religion in die Kindertagesstätte mit. Auch wenn sie nicht explizit religiöse Fragen stellen, ist die religiöse Dimension in ihren Fragen, Erzählungen und in ihrem Verhalten präsent. Religionspädagogische Aus- und Fortbildung hat auch das Ziel, die Wahrnehmungsfähigkeit von Erzieherinnen und Erziehern für diese Dimension zu schärfen, damit sie mit den oft verborgenen religiösen Signalen von Kindern umgehen können.
  • Kinder brauchen aber auch religionspädagogisch reflektierte Anregungen, die ihre Fragen aufnehmen, ihnen hierin weiterhelfen und sie zum Nachdenken bringen. Dies sind oft Geschichten, gerade auch biblische Geschichten, aber auch religiöse Symbole und Lieder, die Kinder nicht festlegen, ihnen aber Vertrauen und Hoffnung vermitteln und sie eine Zeit lang auf dem Weg zur Ausbildung einer eigenen Identität begleiten können. Die Kompetenzen der Erzieherinnen und Erzieher sind hier besonders gefordert, weil sie in der Lage sein müssen, einerseits die Fragen der Kinder wahrzunehmen und zum andern die religionspädagogischen Angebote auszuwählen und einzubringen, die in solchen Situationen sinnvoll sind.
  • Jede Kindertagesstätte ist Teil einer Kirchengemeinde, eines Stadtteils oder eines Gemeinwesens. Aus- und Fortbildung hat darauf zu achten, dass die Lernchancen, die sich daraus für die religiöse Erziehung ergeben, genutzt werden. Gerade für Erzieherinnen und Erzieher in kirchlichen Kindergärten bietet sich eine Fülle von Möglichkeiten, die Begegnungsräume zwischen der Lebenssituation der Kinder und dem kirchlichen Leben bewusst zu gestalten – durch Kindergarten- und Familiengottesdienste, Feste und Feiern, Rituale und Symbole, Geschichten und Lieder zum Kirchenjahr. Die interreligiösen Kontakte im Raum einer Gemeinde sind dabei bewusst einzubeziehen. Auf diese Weise werden Kindern Begegnungen ermöglicht, die ihnen eine Beheimatung im christlichen Glauben eröffnen können.
  • In der Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern sind auch die interreligiösen Fragen aufzunehmen, die sich aus der Begegnung vor allem mit dem Islam, aber auch mit anderen Religionen, im Kindergartenalltag ergeben. Religiöser Erziehung im multireligiösen Kontext muss es darum gehen, das Verständnis der Kinder für die Lebensform des christlichen Glaubens kindgerecht zu fördern und ihnen, soweit dies möglich ist, Lust an der Praktizierung der eigenen Religion zu machen. Zugleich ist es aber auch wichtig, den Kindern die Begegnung mit der fremden Religiosität zu ermöglichen und dabei einen respektvollen und toleranten Umgang einzuüben. Da Kinder hierbei auch nicht überfordert werden dürfen, erfordert dies von den Erzieherinnen und Erziehern viel Feingefühl und solide Kenntnisse der verschiedenen Religionen und Konfessionen.
  • Im Kindergartenalltag müssen Erzieherinnen und Erzieher in der Lage sein, mit den unterschiedlichen religiösen Einstellungen und Mentalitäten von Kindergarteneltern umgehen zu können: mit den Eltern, die wünschen, dass ihre Kinder eine lebendige Begegnung mit kirchlichem Leben erfahren, aber auch mit denen, die ihren Kindern eine eigene Entscheidung hinsichtlich des Glaubens offen halten wollen; mit muslimischen Eltern, die fürchten, dass ihre Kinder ihrer religiösen Identität entfremdet werden könnten, mit eher evangelikalen wie mit volkskirchlich distanzierten Eltern. Dies erfordert zunächst eine Klärung des eigenen Standorts in Glaubensfragen. Aus- und Fortbildung sollte aber auch Kenntnisse über den biographischen Stellenwert von Religion im Lebenslauf Erwachsener vermitteln und sowohl über religiöse Gemeinschaften wie über andere Formen des Religiösen in der modernen Gesellschaft informieren.

Konsequenzen:

  • Jeder Erzieher, jede Erzieherin muss Zugang zu einer religionspädagogischen Grundqualifizierung haben.
  • In allen kirchlichen Ausbildungsstätten für Erzieherinnen und Erzieher muss Religion und/oder Religionspädagogik ein fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung sein.
  • Die verantwortliche Fachaufsicht hat darauf zu achten, dass die Erzieherinnen und Erzieher in den evangelischen Kindergärten ihre Fortbildungsverpflichtung wahrnehmen. Dies setzt voraus, dass Kirche und Diakonie ein entsprechendes Fortbildungsangebot bereithalten.

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