Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

3. Der religionspädagogische Ansatz der Arbeit in evangelischen Kindertagesstätten

These: Die Beschäftigung mit religiösen Themen ist zentral für die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Dazu gehören die Fragen nach dem Grund und Ziel des Lebens, nach dem Verstehen von Welt, nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins und nach der Verantwortung für das eigene Handeln. Leben und Glaube gehören eng zusammen. Dabei geht der christliche Glaube von der Ganzheitlichkeit des Lebens aus und will diese Ganzheitlichkeit zugleich entfalten und fördern. Kennzeichen evangelischer Kindertagesstätten ist ihre religionspädagogische Arbeit mit Kindern. Sie eröffnet den Kindern, gleichgültig, welchen religiösen Hintergrund sie mitbringen, eine spezifisch christliche Daseins- und Handlungsorientierung und lädt sie zu einer konstruktiven Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben ein. Diese Auseinandersetzung geschieht in einem Raum der Freiheit. Sie lädt ein, Erfahrungen mit dem christlichen Glauben zu machen. Sie legt aber nicht fest und grenzt sich von aller religiösen Vereinnahmung ab.

Begründung und Erläuterungen

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kindertagesstätten führen in ihrer religionspädagogischen Arbeit mit Kindern »Gespräche über Gott und die Welt«. So lernen die Kinder eine Lesart von Welt kennen, die sie in Beziehung zu anderen Lesarten von Welt setzen können, die ihnen ebenfalls im Kindergarten begegnen. Durch die Beschäftigung mit der christlichen Lesart lernen die Kinder die Welt »lesen« und üben damit das Verstehen von Welt ein. Das »Lesen von Welt« vermittelt den Kindern einen Orientierungsrahmen zur Wahrnehmung und zum aktiven Umgang mit der Welt, in der sie leben. Die biblischen Geschichten eröffnen den Kindern eine bestimmte Weltsicht, machen ein Angebot, Welt als Schöpfung Gottes und sich selbst als Geschöpf Gottes zu begreifen. Das Kind lernt auf diese Weise einen sinnstiftenden Verstehenshorizont und Orientierungsrahmen kennen und kann dessen Tragfähigkeit in seinem eigenen Leben ausprobieren. Dieser sinnstiftende Verstehenshorizont und Orientierungsrahmen ist immer kontextuell und von daher lebenslang einem Entwicklungs- und Veränderungsprozess unterworfen.

Mit der Erzählung von biblischen Geschichten, mit der religiösen Interpretation von Wirklichkeit wird es dem Kind ermöglicht, ein eigenes Gottesbild zu gewinnen.

Der christliche Glaube wird in der religionspädagogischen Arbeit als lebensbegleitend verstanden, er konstituiert immer wieder neu Verstehenshorizont und Orientierungsrahmen der menschlichen Existenz. Dabei kann Vergangenes für die Gegenwart fruchtbar gemacht (Erinnerungskultur), die Gegenwart aktiv gestaltet (Daseins- und Handlungsorientierung) und die Zukunft eröffnet (Horizont der Verheißung) werden.

Damit vorhandene Fähigkeiten optimal gefördert werden können und sich im Medium der Freiheit eine eigenständige Persönlichkeit ausprägen kann, sind über einen sinnstiftenden Orientierungsrahmen hinaus Grunderfahrungen von Verstehen und Verstandenwerden, von Bergen und Geborgensein, von Scheitern und Gelingen, von Vertrauen, Mut und Hoffnung, von Liebe notwendig. Solche Erfahrungen können pädagogisch nicht »gemacht« oder gelehrt werden, es kann aber der Raum für solche Erfahrungen in einer Kindertagesstätte eröffnet und gestaltet werden. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben gerade auch durch das eigene Vorleben, durch ihren Umgang miteinander und mit den Kindern, durch das bewusste Setzen von gruppendynamischen Spielregeln und durch die Wahl von Gestaltungselementen für den Gruppenprozess die Möglichkeit, solche lebensfreundlichen kommunikativen Grunderfahrungen zu eröffnen. Der christliche Glaube beinhaltet die Einsicht, dass auch zum Leben eines Kindes der bewusste Umgang mit Spannungen (zwischen Scheitern und Gelingen, Aktivsein und Passivsein, Annahme und Ablehnung) gehört und dass durch ihre Integration ins kindliche Leben und, wo dies möglich ist, durch ihre Überwindung Freiheit zum Handeln eröffnet wird.

Zum Glauben gehört neben dem Wissen über seine zentralen Inhalte und neben grundlegenden Erfahrungen mit ihm immer auch die Einübung in eine Praxis des Glaubens. Glaube wird durch Spiritualität lebendig. Spirituelle Erfahrungen sind wesentlich für die Entwicklung einer umfassenden Persönlichkeit. Von daher werden in evangelischen Kindertagesstätten der Rhythmus des Tages, der Woche, des Kirchenjahres und des persönlichen Lebens in die Gestaltung der Arbeit ebenso einbezogen wie die dazugehörenden Feste und Feiern des christlichen Glaubens. Spezifische Ausdrucksformen des christlichen Glaubens wie Singen, Gebet, Segen oder Gottesdienste sind elementarer Bestandteil des Angebotes evangelischer Kindertagesstätten. Darüber hinaus ist die Verzahnung mit der Arbeit der Ortsgemeinde erwünscht und sinnvoll, zum Beispiel in Projekten wie Kirchenerkundungen, Besuch von anderen Einrichtungen oder Gruppen der Gemeinde oder Mitwirkung bei Gottesdiensten und Gemeindefesten.

Diese spezifischen Formen christlicher Glaubenspraxis, die für Kinder und Eltern in evangelischen Kindertagesstätten angeboten werden, wollen sowohl Einladung zur Lebensbegleitung als auch sinnstiftend und glaubenseröffnend sein. Kinder, die aus einem wenig oder gar nicht religiös geprägten Kontext kommen oder einer anderen Religion angehören, haben die Möglichkeit, diese Praxis partiell mit zu vollziehen, müssen dies aber nicht. Wichtig ist für diese Kinder die Bereitschaft, den christlichen Glauben und seine Praxis kennen zu lernen und sich damit auseinander zu setzen. Sie sollen nicht vereinnahmt werden, sondern ihnen wird Respekt entgegengebracht, unabhängig davon, ob sie sich mit dem christlichen Glauben identifizieren oder aber Distanz zu ihm wahren. In jedem Fall können sie offen ihre eigenen Überzeugungen in den Dialog »über Gott und die Welt« einbringen und von ihrem eigenen Glauben erzählen.

Für das »Lesen von Welt«, das Eröffnen eines sinnstiftenden Orientierungsrahmens und von gelingenden Grunderfahrungen ist Sprache unabdingbare Voraussetzung. Ein zentrales Element aller religionspädagogischen Arbeit ist deshalb das Fördern und Ent-wickeln von Sprach- und Kommunikationsfähigkeit. Der christliche Glaube nimmt mit hinein in eine Sprachwelt und stiftet zugleich eine Kommunikationsgemeinschaft. Hören und Gehörtwerden, Verstehen und Verstandenwerden sind elementare Bestandteile von Sprache und Kommunikation.

Mit dem Eröffnen eines sinnstiftenden Verstehenshorizonts und Orientierungsrahmens ist eine ethische Grundbildung verbunden, die für jedes Handeln unabdingbar ist. Das Kind soll beginnen, das eigene Handeln zu reflektieren: die Reaktionen auf das Handeln wahrnehmen, seine Konsequenzen bedenken, eigene Gestaltungsmöglichkeiten durch Handeln ausprobieren. Die Freiheit zum Leben beinhaltet einen verantwortlichen Umgang mit sich selbst, mit anderen Menschen und der gesamten Schöpfung: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung begegnen schon hier als ethische Normen. Zu einer ethischen Grundbildung gehört immer auch ein Kennenlernen und eine Auseinandersetzung mit spezifischen Normen und Werten, wie sie der christliche Glaube anbietet.

Mit der ethischen Grundbildung ist das soziale Lernen verknüpft. Die Fähigkeit, mit anderen Menschen gemeinsam zu leben und zu handeln, ist unabdingbar für eine funktionierende Gesellschaft. Kindertagesstätten haben die Aufgabe, Orte für soziales Lernen zu sein, Gruppenprozesse zu initiieren und soziale Kompetenzen zu vermitteln. So kann es zu Begegnungen von Kindern aus ganz unterschiedlichen Milieus kommen; solche Begegnungen sind ein wichtiger Beitrag zum Zusammenleben in einer Gesellschaft. Hierbei kommt es in besonderer Weise auf den Umgang mit Menschen aus fremden Kulturen an. Verstehen des Fremden und Toleranz gegenüber dem Fremden sind wichtige Ziele sozialen Lernens. Im Miteinander von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund kann gelernt werden, gemeinsam zu handeln, aber auch Konflikte auszutragen und zu bewältigen. Verantwortung, Solidarität und Vertrauen sind dabei christliche Grundtugenden aus dem Geist der Nächstenliebe.

Zum ganzheitlichen Ansatz evangelischer Religionspädagogik gehört immer auch die emotionale Bildung. Phantasie und Kreativität sowie die künstlerische Bildung (Musik, bildende Kunst,

Theater) der Kinder sind zu fördern, da sie zentral für die Entwicklung einer Persönlichkeit sind. Der gute Umgang mit den eigenen Gefühlen ist notwendig für die Selbstfindung. Ziel ist das Wecken von Empathie, also der Fähigkeit einer liebevollen Einfühlung in alles Lebendige, und von »Compassion«, also der Fähigkeit, sich dem leidenden Mitmenschen und der leidenden Mitkreatur zuzuwenden.

Konsequenzen:

  • Religionspädagogische Arbeit ist konstitutiv für die Arbeit in evangelischen Kindertagesstätten und nimmt inhaltlich einen zentralen Raum ein.
  • Die Teilnahme an Aus- und Fortbildung muss daher für Mitarbeitende verpflichtend sein.
  • Für die Einübung in den Glauben ist die Zusammenarbeit von Kirchengemeinden und Kindertagesstätten unerlässlich, weil Elementarbildung eine von beiden gemeinsam wahrzunehmende und miteinander zu verantwortende Aufgabe darstellt.

Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Nächstes Kapitel