Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

5. Zur notwendigen Reform der Qualifizierung der Fachkräfte in den Tageseinrichtungen für Kinder unter sechs Jahren

These: Die Stärkung eines Bildungssystems in seinen Fundamenten, nämlich in den Tageseinrichtungen für Kinder als der ersten Stufe im Bildungssystem, kann nur mit Hilfe eines modernen und effizienten Ausbildungssystems für die dort tätigen Fachkräfte gewährleistet werden. Eine umfassende wie nachhaltige Reform der Professionalisierung der Fachkräfte wird deshalb gefordert. Anzustreben ist zumindest für die Leiterin oder den Leiter der Kindertagesstätte das Fachhochschulniveau. Professionalisierungsmaßnahmen sind bezüglich ihrer Effizienz zu evaluieren.

Begründung und Erläuterungen

Dass der Qualifikation der Fachkräfte in den Tageseinrichtungen für Kinder eine Schlüsselrolle bei der Erziehung und Bildung unserer Kinder zukommt, ist unbestritten. Aus-, Fort- und Weiterbildung sind demnach zentrale Instrumente der Qualifizierung im System dieser Tageseinrichtungen. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, warum sie bislang nicht zum Gegenstand bildungspolitischer Reflexionen und zum Bestandteil schon erfolgter Bildungsreformen geworden sind.

Die OECD-Studie »Starting Strong« von 2001, in der die Systeme vorschulischer Bildung und Erziehung von zehn europäischen und zwei außereuropäischen Ländern verglichen werden, verweist darauf, dass ein »angemessenes Qualifizierungskonzept und angemessene Arbeitsbedingungen für das Personal in allen Bildungs- und Betreuungsformen« zentrale Bestandteile einer qualitätsorientierten Politik sind. Auch Forschungsbefunde untermauern die These, wonach sowohl das Niveau der Ausbildung als auch die Ausbildungsqualität eine Vorhersage über die pädagogische Qualität in den Tageseinrichtungen erlauben. Das deutsche Ausbildungsniveau liegt derzeit weit unter dem europäischen Standardniveau. Hier ist eine Anpassungsbewegung nötig.

Spätestens seit Ende der 80er Jahre wird deshalb auf die Notwendigkeit einer Reform des Qualifizierungssystems für die Fachkräfte hingewiesen, die in den Tageseinrichtungen für Kinder unter sechs Jahren tätig sind. Es wird nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine inhaltliche Reform der Ausbildung angemahnt. Auch werden effektivere Verbindungen zwischen Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie eine Anpassung der Ausbildungsstandards an europäische Entwicklungen gefordert. Seit geraumer Zeit wird auch die Forderung nach einer Neukonzeptualisierung der theoretischen Grundlagen der Ausbildung sowie nach einem systemisch konzipierten und ausgebauten Fortbildungskonzept erhoben. Im Kontext der jüngsten Debatte über Bildungsqualität wird sogar eine zumindest teilweise gemeinsame Ausbildung von Erziehern und Lehrern empfohlen. Ferner wird auf eingeschränkte Mobilitätschancen am europäischen Arbeitsmarkt für die in Deutschland ausgebildeten Fachkräfte sowie auf die fehlenden Qualifizierungs- und Berufsperspektiven für Männer in diesem Berufsfeld hingewiesen.

Diese Diskussionen finden vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse über Kinder und Kindheit, gewandelter gesellschaftlicher Einstellungen zur außerfamilialen Erziehung und Bildung und nicht zuletzt mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und ein verändertes Verständnis von Bildung statt. Daraus resultieren zusätzliche Anforderungen an den Beruf der Erzieherinnen und Erzieher, die auf eine zunehmende Komplexität und ein höheres Anspruchsniveau an Qualität hinweisen. Dazu gehört,

  • die Individualität der Kinder vor dem Hintergrund einer wachsenden Vielfalt von Entwicklungsbedingungen und Familienkulturen wahrzunehmen und entsprechende Bildungs- und Lernprozesse anzuregen, zu begleiten und zu reflektieren;
  • an der Entwicklung einer Einrichtungskonzeption mitzuwirken (gegebenenfalls auch mit Blick auf staatliche Bildungsvorgaben) und diese selbstbewusst nach außen darzustellen;
  • eine partnerschaftliche Beziehung zu den Eltern aufzubauen, verbunden mit einem klaren Bild über die jeweils unterschiedlichen Kompetenzen, die beide Seiten in einen ko-konstruktiven Bildungs- und Erziehungsprozess einbringen;
  • die eigenen Einstellungen, pädagogischen Ziele und Arbeitsformen kontinuierlich und kritisch zu reflektieren;
  • Mütter und Väter regelmäßig in Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden;
  • zielgruppenorientierte Familienangebote zu organisieren sowie Elternnetzwerke zu unterstützen;
  • Verbindungen zu Fach- und Beratungsdiensten, zu Ausbildungsstätten, Grundschulen und weiteren fachbezogenen und kulturellen Organisationen in der Region aufzubauen und entsprechende Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln;
  • sich mit verschiedenen Ansätzen der Qualitätsentwicklung und Evaluation (Selbstevaluation, kollegiale Einzel- und Teamberatung, externe Evaluation) auseinanderzusetzen und diese für die eigene Professionalisierung sowie die Weiterentwicklung der Einrichtung zu nutzen; sich in kommunalpolitischen Gremien für die Belange von Kindern zu engagieren;
  • das Profil der Einrichtung kontinuierlich mit den Beteiligten vor Ort (Eltern, Träger, Jugendamt, Kommunalpolitikern, interessierten Bürgern) zu reflektieren und weiterzuentwickeln.

Einem derart neu gestalteten Berufsprofil entspricht das aktuelle Ausbildungsprofil nicht mehr. Kind- und Familienorientierung und vernetztes Arbeiten im Umfeld setzen analytische, kommunikative, organisatorische und selbstreflexive Fähigkeiten und differenzierte Kenntnisse, Kommunikationsformen und Kooperationsstrategien voraus. Es gilt, Schlüsselkompetenzen, Erkenntnisse und pädagogische Grundhaltungen zu identifizieren, die für eine qualifizierte Arbeit mit Kindern, aber auch mit Erwachsenen in einer Vielfalt von Zuständigkeiten notwendig sind. Und nicht zuletzt müssen Fachkräfte heute über ein spezialisiertes Wissen bezüglich der Anwendung standardisierter Verfahren zur Beobachtung kindlichen Verhaltens und zur Dokumentation von Lernprozessen bzw. Verfahren zur Selbst- und Fremdevaluation verfügen.

Von verschiedenen Seiten wird deshalb eine umfassende und nachhaltige Reform der Professionalisierung der Fachkräfte gefordert. Eine solche Reform hat Anforderungen sowohl struktureller als auch pädagogisch-inhaltlicher Art zu genügen. Dazu gehört,

  • die bisherige sozialpädagogisch orientierte Breitbandausbildung zu verlassen zugunsten einer Fokussierung auf die Erziehung und Bildung in den Tageseinrichtungen für Kinder unter sechs Jahren,
  • mit Blick auf die sich anbahnende Entwicklung von institutionsübergreifenden Bildungs- und Erziehungsplänen zu prüfen, ob nicht eine teilweise oder sogar völlig gleiche Ausbildung für Erzieher/innen und Lehrer/innen angeboten wird, damit beide Professionen die Qualifizierung für die Erziehung und Bildung von Kindern in den Tageseinrichtungen und in der Grundschule erwerben und in beiden Bereichen berufliche Perspektiven erkennen und nutzen.
  • Ein reformiertes Ausbildungssystem sollte in seinem Aufbau modular konzipiert und bundesweit anerkannt und koordiniert werden, mit durchlässigen Strukturen und Aufstiegschancen. Im europäischen Vergleich wird deutlich, dass eine Anhebung des Ausbildungsniveaus – mindestens für die Leitungsebene der Kindertagesstätten – angestrebt werden sollte. Damit muss keine Steigerung der Kosten verbunden sein, wenn die Tätigkeit leistungs- und nicht ausbildungsbezogen vergütet wird.
  • Die Eingangsbedingungen für eine solche Qualifizierung sollten auf Abitur oder Fachabitur angehoben werden. Daneben sollte aber auch die Möglichkeit eröffnet werden, qualifizierten Bewerbern mit einer anderen Ausbildung und/oder bei hinreichender Praxis- und Lebenserfahrung prinzipiell den Zugang zur Erzieherausbildung zu ermöglichen.
  • Eine reformierte Erzieher/innen-Ausbildung sollte jedenfalls für das Leitungspersonal auf Fachhochschulniveau organisiert werden. Dies könnte auch zur Belebung der bislang fast fehlenden Forschung auf dem Gebiet der Frühpädagogik führen und einen Beitrag zur Harmonisierung der Ausbildungsgänge in Europa leisten bzw. die Mobilität der deutschen Erzieher/innen im europäischen Markt erleichtern [8]. Ebenfalls sollte die Forschungsinfrastruktur an den Universitäten ausgebaut werden und eine systematische Vernetzung von Forschung und Ausbildung erfolgen.
  • Damit einhergehend sollten bundeseinheitliche Ausbildungsstandards definiert und flexible Ausbildungsstrukturen etabliert werden, die es ermöglichen, dass die Studierenden Teile ihrer Ausbildung an unterschiedlichen Ausbildungsstätten sowie Auslandspraktika während ihrer Ausbildung absolvieren bzw. an Austauschprogrammen mit anderen Hochschulen teilnehmen können. Die Ausbildungsangebote werden sich in zunehmender Konkurrenz zu anderen Ausbildungen befinden und angesichts der demographischen Entwicklung mit kleiner werdenden Jahrgängen rechnen müssen.
  • Die Einführung einer bundeseinheitlichen Regelung für die Anerkennung von europäischen Abschlüssen ist dann eine selbstverständliche Konsequenz.

Eine Qualifizierung, die allein oder vorwiegend auf die Grundausbildung fokussiert, genügt den Anforderungen moderner Qualifizierung nicht mehr. Vielmehr sollte eine enge Verknüpfung zwischen dem System der Ausbildung und den Systemen der Fort- und Weiterbildung angestrebt werden, die in ihrer Gesamtheit eine die berufliche Biographie begleitende nachhaltige Professionalisierungsstrategie ausmachen.

Professionalisierungsmaßnahmen sind bezüglich ihrer Effizienz zu evaluieren. Dabei gilt es, Evaluation stärker als bislang als Instrument zur Weiterentwicklung des Ausbildungssystems zu nutzen und auf dem Wege der Selbstevaluation und unter Einbeziehung von Fremdevaluation als zusätzliche Reflexionsebene einzubeziehen.

Diesbezügliche Investitionen tragen nicht nur zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen bei, sie sind unerlässlich, um die Effizienz der in diesem Bereich investierten Ressourcen zu optimieren bzw. auch politisch zu begründen. Die Stärkung eines Bildungssystems in seinen Fundamenten, nämlich in den Tageseinrichtungen für Kinder als der ersten Stufe im Bildungssystem, kann nur mit Hilfe eines modernen und effizienten Ausbildungssystems für die dort tätigen Fachkräfte gewährleistet werden.

Dem mögen in den Zeiten allgemeiner Sparzwänge und der Ressourcenkonzentration Widerstände entgegenstehen, denn ein höheres Ausbildungsniveau der in den Kindertagesstätten tätigen Fachkräfte hat zweifellos höhere finanzielle Aufwendungen zur Folge. Es könnte aber doch sein, dass die Qualität einer Volkswirtschaft und die Stabilität einer Gesellschaft wesentlich von den Bildungsanstrengungen abhängig sind, die diese Gesellschaft zu erbringen bereit ist. Der von der evangelischen Kirche zu leistende Beitrag in diesem Zusammenhang wird daher zumindest darin bestehen, den gesellschaftlichen Diskurs über die genannte Thematik zu fördern und im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten zu einer gesamtgesellschaftlich notwendigen Konsensfindung beizutragen.

Abschließend soll noch einmal deutlich hervorgehoben werden, dass – schon im Hinblick auf den westeuropäischen und internationalen Vergleich – die Erreichung des Fachhochschulniveaus zumindest für das Leitungspersonal in den Kindertagesstätten wünschenswert ist. Ebenfalls muss nach Möglichkeiten gesucht werden, um durch geeignete Fortbildungsmaßnahmen die Erzieher/innen noch besser in Stand zu setzen, die pädagogischdidaktischen, entwicklungspsychologischen und religionspädagogischen Erfordernisse der Gegenwart bewältigen zu können. Die Forderung nach besserer Qualifizierung muss dabei so vermittelt und plausibel gemacht werden, dass im Kreis der Erzieherinnen und Erzieher der langfristige Nutzen und nachhaltige Entlastungseffekt dieser Maßnahmen deutlich wird: Je besser eine Erzieherin oder ein Erzieher ausgebildet ist, desto sicherer und professioneller kann er/sie im Alltag des Erziehungsgeschäfts agieren. Das steigert Freude und Leistungsbereitschaft und kann kreatives Potenzial freisetzen.

Konsequenzen:

  • Die EKD und die Landeskirchen setzen sich öffentlich dafür ein, dass die Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern qualitativ deutlich verbessert wird und das Ausbildungsniveau, zumindest im Bereich des Leitungspersonals, künftig möglichst auf Fachhochschulniveau angehoben wird.
  • Hierzu wird empfohlen, in Kooperation mit den Ausbildungsstätten und den Spitzenverbänden eine Konzeption berufsbegleitender und modular aufgebauter Fortbildung zu entwerfen, die die Bedürfnisse der Fortzubildenden berücksichtigt und sich dabei neuer Vermittlungsmethoden bei Nutzung moderner Technologien bedient.
  • Ebenfalls wird empfohlen, für die Fort- und Weiterbildung der einzelnen Fachkraft mindestens fünf Arbeitstage jährlich vorzusehen und Sorge dafür zu tragen, dass solche Angebote auch tatsächlich in Anspruch genommen werden.

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