Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

14. Kindertagesstätten als Markenzeichen evangelischer Gemeinden

These: Die evangelische Kindertagesstätte ist ein integraler Teil der Kirchengemeinde und zugleich ein offenes Angebot für alle Kinder und Familien im Wohnumfeld. Sie bietet in besonderer Weise die Chance, mit Kindern und Familien in Kontakt zu kommen, die von der Gemeinde sonst oft nicht erreicht werden. Als Ort religiöser Bildung nimmt die Kindertagesstätte zugleich eine Aufgabe im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Taufverantwortung der Gemeinde wahr. Erzieherinnen und Erzieher, die die kirchliche Trägerschaft mit Leben füllen und nach außen vertreten, bringen nicht nur pädagogische Kompetenzen in die Gemeindearbeit ein, sie tragen auch dazu bei, dass die Kirche in der Öffentlichkeit durch eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern repräsentiert wird. »Trägerqualität« erweist sich aber auch darin, dass die zuständigen Gremien und Personen einer Gemeinde bewusst und qualifiziert ihre Verantwortung für die Kindertagesstätte wahrnehmen.

Begründung und Erläuterungen

Die evangelische Kindertagesstätte ist ein Teil der Kirchengemeinde und zugleich ein Angebot für alle Kinder und Familien im Wohnumfeld, das zum größten Teil von öffentlichen Mitteln finanziert wird. An dem damit gegebenen Öffentlichkeitsbezug muss sich die pädagogische Arbeit in einer Weise orientieren, die zugleich der christlichen Grundausrichtung gerecht wird. Für die Kirchengemeinde ergibt sich durch diese Situation der Kindertagesstätte an der Nahtstelle von Kirche und Gesellschaft die Chance, mit Familien und Kindern in Kontakt zu kommen, die sonst vermutlich keinen engeren Bezug zur Kirche hergestellt hätten. Diese Spannung zwischen kirchlicher Trägerschaft und öffentlichem Auftrag, zwischen evangelischem Profil und offenem Angebot ist als Chance zu sehen; sie darf deshalb nicht aufgelöst werden. Sie verhindert es, dass die Kindertagesstätte ganz den Interessen der Gemeinde untergeordnet wird oder einseitig als missionarische Einrichtung zur Mitgliedergewinnung gesehen wird. Gegenwärtig werden jedoch die Chancen, die evangelische Kindertagesstätten für die Gemeindeentwicklung bieten, im allgemeinen eher unterschätzt. Als kirchliche Nachbarschaftszentren und offene Räume, in denen Menschen die Kirche als Ort erfahrbarer Lebens- und dann oft auch Glaubenshilfe erleben, können sie wesentlich zu einer zukunftsorientierten Gemeindeentwicklung beitragen.

Nicht selten wird die Kindertagesstätte in den Gemeinden zur Zeit als finanzielle Belastung angesehen. Welche Bedeutung sie dagegen für die Verantwortung der Gemeinde für ihre getauften Kinder hat, wird nicht immer erkannt. Mit der Taufe kleiner Kinder übernimmt die Gemeinde die Verantwortung, Eltern in der christlichen Erziehung zu unterstützen und Hilfen zum eigenen Glauben zu geben. Angesichts der weit verbreiteten Unsicherheit und Hilflosigkeit der Eltern in Fragen religiöser Erziehung bieten Kindertagesstätten vielen Kindern die einzige Chance, religiösen Inhalten und Symbolen, biblischen Geschichten und christlichen Bräuchen zu begegnen. Damit Kinder in ihrer Kindergartenzeit auch gelebter Religion begegnen, ist es sinnvoll, die religiöse Bildung in der Kindertagesstätte mit anderen gemeindlichen Angeboten wie dem Kindergottesdienst, den Kinderbibelwochen oder den Eltern-Kind-Gruppen zu verknüpfen.

Für die Gemeinde bietet die Kindertagesstätte eine Kontaktstelle, um Menschen in ihren religiösen Fragen zu begleiten, die meist nicht zum Gemeindekernbereich gehören. Die Zeit der Elternschaft und die Verantwortung für die eigenen Kinder markieren in der Biographie Erwachsener häufig Phasen, in denen sich verstärkt Fragen nach dem Woher und Wohin stellen. Die Kindertagesstätte ist somit auch eine wichtige Kontaktstelle für die kasuellen Angebote der Kirche. Mit Familiengottesdiensten und Elternabenden, Begrüßungsfesten und Verabschiedungsfeiern bietet die Gemeinde den Eltern während der Kindergartenzeit festliche Gestaltungen, die in einer biographisch sensiblen Phase Begleitung und Vergewisserung signalisieren.

Der Glaube von Kindern, ihr »Vertrauen, ihre Phantasie, ihre Offenheit, ihre Spontaneität, ihre Neugier, ihre Unbekümmertheit, ihr Mit-Leiden-Können, ihr Umgang mit Zeit, mit Gefühlen, mit neuen Erfahrungen können in unseren Gemeinden positive Veränderungsprozesse auslösen« [16]. Die Kindertagesstätten bilden einen wichtigen Lernort für die Gemeinde. Sie können starke Anstöße geben auf dem Weg zur Entwicklung einer kinder- und familienfreundlichen Gemeinde. Durch gemeinsam mit Kindern und Eltern gefeierte Gottesdienste wird die Gemeinde daran erinnert, dass das Evangelium in einer verständlichen und fröhlichen Form zur Sprache gebracht werden soll. Kindertagesstätten bieten die Chance, die Welt auch aus der Perspektive von Kindern zu sehen, von und mit ihnen zu lernen und für eine kindergerechte Lebenswelt zu sorgen.

Die Erzieherinnen und Erzieher stellen oft den größten Teil der Mitarbeiterschaft in einer Kirchengemeinde. Sie bringen dadurch nicht nur pädagogische Kompetenzen in die Arbeit einer Gemeinde ein, sie tragen auch durch ihre exponierte Arbeit an der Nahtstelle von Kirche und Gesellschaft dazu bei, dass die Kirche nicht nur mit Pfarrerinnen oder Pfarrern identifiziert wird. Dies setzt aber voraus, dass sich die Erzieherinnen und Erzieher als Mitarbeitende in der Gemeinde verstehen, die einbezogen sind in die Kommunikation mit anderen Mitarbeitenden. Sie müssen bereit sein, die kirchliche Trägerschaft der Kindertagesstätte mit Leben zu füllen und nach außen zu vertreten; sie haben andererseits aber auch Anspruch auf Begleitung, Hilfe und Unterstützung durch die Kirchengemeinde.

Die Verantwortung für die Kindertagesstätte wird in der Kirchengemeinde von verschiedenen Personen und Gremien wahrgenommen: von den Pfarrerinnen und Pfarrern, vom Kirchenvorstand, vom Ausschuss oder Beirat für die Kindertagesstätten. So wie Erzieher/innen regelmäßige Fortbildung brauchen, so müssen sich auch die verantwortlichen Trägervertreter für ihre Aufgabe qualifizieren. »Trägerqualität« gehört zu den wichtigen Qualitätsmerkmalen einer Kindertagesstätte. Die gemeinsame Erarbeitung einer Bildungskonzeption, regelmäßige Gespräche mit den Erzieherinnen und Erziehern, die selbstverständliche Beteiligung der Erzieher und Eltern bei allen zur Entscheidung anstehenden Fragen sowie die Wahrnehmung der persönlichen Präsenz der Trägervertreter in der Kindertagesstätte sind sinnvolle Schritte, mit denen zuständige Personen in der Gemeinde ihre Verantwortung für die Kindertagesstätte wahrnehmen können. Vor allem aber hat der Träger für die notwendigen Rahmenbedingungen einer kompetenten sozialpädagogischen Arbeit in der Kindertagesstätte zu sorgen. Ohne diese Voraussetzung hängen nämlich alle religionspädagogischen Bemühungen in der Luft.

Träger benötigen verstärkt Fortbildungen zur qualifizierten Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die strukturelle und konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtungen. Langfristig entlastet eine kontinuierliche Qualifizierung die Träger, da sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf erprobte und dokumentierte Verfahren und Methoden zurückgreifen können.

Wenn die Kindertagesstätte einen wichtigen Teil der Gemeindearbeit darstellt, dann ist es notwendig, dass sie auch einen festen Platz in der Aus- und Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer erhält. Noch führt die Kindertagesstätte in der theologischen Ausbildung eher eine Randexistenz. Sie begegnet allenfalls im Vikariat unter dem Blickwinkel der Pfarramtsverwaltung, sie sollte in der Ausbildung aber auch im Zusammenhang von Diakonie und Gemeindepädagogik und vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kooperation verschiedener Berufsgruppen thematisiert werden. Nicht selten erleben gerade junge Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn ihnen mit dem Pfarramt auch unvorbereitet die Verantwortung für eine Kindertagesstätte übertragen wird, dies als große Überraschung und oft auch als Überforderung. Sie sollten daher frühzeitig auf den Stellenwert der Kindertagesstätte im Leben einer Gemeinde aufmerksam gemacht werden.

In der Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde und in der Öffnung zum Gemeinwesen liegen für die Kindertagesstätte besondere Chancen für die Bildung der Kinder, aber auch für generationenübergreifende Projekte und Aktivitäten. Kinder brauchen auch Räume zur Erprobung und Entdeckung sowie für die Entwicklung zunehmender Selbstständigkeit über den Ort der Kindertagesstätte hinaus. Die Entdeckungen im Altenheim, der Besuch bei der Feuerwehr, die Exkursion auf den Markt, die Erkundung der Kirche sind Beispiele für eine solche Öffnung. Hinzu treten Kontakte der Kindertagesstätte zu anderen sozialen, pädagogischen, medizinischen und kulturellen Diensten und Initiativen im Wohnumfeld. Beim Aufbau eines sozialen Beziehungssystems im Nahbereich kann der Kindertagesstätte eine Schlüsselfunktion zukommen. Die Öffnung zum Gemeinwesen und die Weiterentwicklung der Kindertagesstätte zum Nachbarschaftszentrum mit Alleinerziehendentreff, Babysittervermittlung, Eltern- Kind-Gruppen, Cafeteria und anderen Angeboten kann jedoch nicht allein Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher sein. Entscheidend ist die Zusammenarbeit mit den Eltern; Voraussetzung dafür ist die Unterstützung durch die Kirchengemeinde.

Durch eine konzeptionell weiter gefasste Kindertagungsstättenarbeit wird das Gesamtgefüge einer Kirchengemeinde nicht unwesentlich beeinflusst. Eine solche Kindertagesstätte bildet auch eine Chance, die gesamte kirchengemeindliche Arbeit bewusster gemeinwesenorientiert auszugestalten. Die Erfahrung zeigt: Die Vernetzung der Kindertagesstätte mit der Kirchengemeinde ist oft ein entscheidender Schritt zu einer kinder- und familienfreundlichen Gemeindekonzeption – und die Öffnung der Evangelischen Kindertagesstätte zum Gemeinwesen kann zugleich ein wichtiges Element im Aufbau einer lebendigen Gemeindearbeit sein.

Konsequenzen:

  • Die religiöse Bildung in der Kindertagesstätte ist stärker mit den anderen gemeindlichen Angeboten für Kinder und Familien zu vernetzen.
  • Trägervertreter, die für die Kindertagesstätte Verantwortung übernehmen, brauchen selbst Qualifizierung und Fortbildung.
  • Das Thema »Kindertagesstätte« muss in der Aus- und Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer einen festen Platz erhalten.
  • Die Öffnung der Kindertagesstätte zum Gemeinwesen ist vom Öffentlichkeitsauftrag der christlichen Kirche her geboten und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer lebendigen Gemeindearbeit.

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