Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa -Informationen Nr. 156

Asyl- und Migrationspolitik: Dublin bleibt auch im Krisenfall gültig

Julia Maria Eichler

Der Europäische Gerichtshof hat in den Rechtssachen C-490/16 und C-646/16 am 26. Juli 2017 entschieden, dass Kroatien für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz von Personen zuständig ist, die seine Grenzen während der Flüchtlingskrise 2015/2016 überschritten haben. Die Duldung der Einreise in dieser Zeit stelle kein zuständigkeitsbegründendes Visum im Sinne der Dublin-III-Verordnung dar, so die Richter in Luxemburg. Zudem hätten diese Personen die Außengrenzen von Kroatien illegal im Sinne der Dublin-III-Verordnung überschritten.

In den den Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalten hatten ein syrischer Staatsangehöriger und die Mitglieder zweier afghanischer Familien 2016 die kroatische Grenze von Serbien kommend überschritten, ohne im Besitz eines für sie notwendigen Visums zu sein. In beiden Fällen hatten die Betroffenen, die EU aus der Türkei über Griechenland erreicht. Die kroatischen Behörden organisierten die Beförderung der Betroffenen per Bus an die slowenische Grenze. Die Mitglieder der zwei afghanischen Familien reisten weiter nach Österreich, wo sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellten. Der betroffene Syrer wurde von den slowenischen den österreichischen Behörden übergeben, die dessen Einreise verweigerten. Daraufhin stellte er in Slowenien einen Asylantrag. Sowohl Slowenien als auch Österreich vertraten jedoch die Ansicht, dass Kroatien aufgrund der illegalen Einreise gemäß der Dublin-III-Verordnung zuständig sei.

Kapitel 3 der Dublin-III-Verordnung legt eine Hierarchie von Kriterien zur Bestimmung des für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaates fest. Neben anderen Kriterien sieht Art. 12 dabei vor, dass ein Mitgliedstaat für einen Asylantrag u.a. zuständig ist, wenn er dem Antragssteller ein Visum erteilt hat. Nachrangig bestimmt Art. 13, dass ein Mitgliedstaat dann zuständig wird, wenn ein Antragssteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze dieses Mitgliedstaats illegal überschritten hat. Außerdem bestimmt Art. 14 (wiederum nachrangig zu den übrigen Kriterien), dass derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in den der Drittstaatsangehörige ohne Visumszwang eingereist ist.

Den beiden Rechtssachen wurde viel Aufmerksamkeit zuteil, weil sich die Frage nach der Anwendung der Dublin-Kriterien im Kontext der sog. „Flüchtlingskrise“ mit großer Dringlichkeit stellte. Konkret stand die Frage im Raum, wie die jeweiligen Kriterien in einer Situation, in der die nationalen Behörden der maßgeblich involvierten Staaten mit der Ankunft einer außergewöhnlichen hohen Zahl von Drittstaatsangehörigen konfrontiert sind, die durch diesen Mitgliedstaat durchreisen wollten, um in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen, zu beurteilen sind. Zu berücksichtigen war ferner der Umstand, dass der Transit-Mitgliedstaat ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls die Einreise in sein Hoheitsgebiet, die allein dem Zweck der Durchreise durch eben diesen Mitgliedstaat und der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat dienen sollte, faktisch geduldet hatte (im Folgenden „Flüchtlingskrise“). 

In den beiden Verfahren musste der EuGH somit darüber urteilen, ob das „Durchwinken“ der kroatischen Behörden einer Visumserteilung gleichkam und die Einreise der Betroffenen „illegal“ im Sinne der Dublin-III-Verordnung war.

Der EuGH machte in seinen Urteilen deutlich, dass ein faktisches Dulden der Einreise kein Visum im Sinne von Art. 12 darstellt. Die Dublin-III-VO definiere Visum als „eine Erlaubnis oder Entscheidung eines Mitgliedstaats“, die „im Hinblick auf die Einreise oder Durchreise oder die Einreise zum Zwecke des Aufenthalts“ im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates oder mehrerer Mitgliedstaaten verlangt werde (Art. 2 m). Schon aus dem Wortlaut gehe hervor, dass der Begriff des Visums auf einen förmlichen Rechtsakt einer nationalen Verwaltung Bezug nehme und nicht auf eine bloße Duldung. Zudem sei aus dem Wortlaut ersichtlich, dass das „Visum nicht mit der Gestattung der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verwechseln sei, da es gerade im Hinblick auf diese Gestattung verlangt wird“.

Daran ändern auch außergewöhnliche, durch einen Massenzustrom von Flüchtlingen in die EU gekennzeichnete Umstände nichts. Schwieriger war die Frage nach der „illegalen Grenzüberschreitung“ zu entscheiden, schließlich enthält die Dublin-VO selbst hierfür keine Definition.

Auch die Rückführungsrichtlinie und der Schengener Grenzkodex definierten den Begriff nicht. Zudem spreche u.a. der unterschiedliche Regelungsgegenstand der Dublin-VO und des Schengener Grenzkodexes dafür, dass andere Unionsrechtsakte zwar bei der Auslegung des Begriffes zu berücksichtigen seien, der Begriff des „illegalen Überschreitens einer Grenze“ aber nicht aus diesen unmittelbar abzuleiten sei.

Die Bedeutung und Tragweite des Begriffs bestimme sich daher anhand seines gewöhnlichen Sinnes. Das Überschreiten einer Grenze ohne Einhaltung der Voraussetzungen der im betreffenden Mitgliedstaat geltenden Regelung sei zwangläufig „illegal“ im Sinne von Art. 13 Dublin-III-VO, so der EuGH. Hierbei seien dann bei einem an den Schengener Grenzkodex gebundenen Mitgliedstaat (wie Kroatien) dessen Vorschrift zu beachten.

Darüber hinaus sei aber zu berücksichtigen, dass die Regelungen für das Überschreiten der Außengrenzen den zuständigen nationalen Behörden die Befugnis verliehen, aus humanitären Gründen von den Einreisevoraussetzungen abzuweichen, die für den Drittstaatenangehörigen gelten (vgl. Art. 5 Abs. 4c Schengener Grenzkodex).

Die Einreisegestattung aus humanitären Gründen nach dem Schengener Grenzkodex betreffe jedoch nur das Hoheitsgebiet des gestattenden Mitgliedstaates und nicht die Hoheitsgebiete der übrigen Mitgliedstaaten. Eine solche Gestattung der Einreise könne damit keine Überschreitung der Grenze legalisieren, die von den Behörden nur zur Ermöglichung der Durchreise in einen anderen Mitgliedstaat gestattet wird, um dort einen Asylantrag zu stellen.

Die Ausübung der Befugnis, aus humanitären Gründen von den Einreisevoraussetzungen abzuweichen, könne, so betont der EuGH, auch nicht der Erteilung eines Visums im Sinne von Art. 12 Dublin-III-VO gleichgestellt werden. Zudem habe die Ausübung der Befugnis auch keinen Einfluss darauf, ob der betreffende Drittstaatsangehörige grundsätzlich im Besitz eines Visums sein müsste. Eine solche aus humanitären Gründen gestattete Einreise könne somit nicht als Einreise im Sinne von Art. 14 Dublin-III-VO angesehen werden, bei der kein Visumszwang bestehe.

Der EuGH begründet dies maßgeblich mit der Systematik der Dublin-III-VO. Denn wenn die Einreise eines Drittstaatsangehörigen, unter Abweichung der im Mitgliedstaat für ihn geltenden Einreisevoraussetzung aus humanitären Gründen, keine illegale Überschreitung der Grenze darstellen würde, wäre dieser Mitgliedstaat nicht für die Prüfung des Asylantrags des Drittstaatsangehörigen zuständig. Ein solches Ergebnis wäre aber mit den Zielen und der Systematik der Dublin-III-VO unvereinbar, die die Verantwortung für die Einreise eines Drittstaats-angehörigen mit der Zuständigkeit für dessen Asylverfahren verbindet.

Daraus folge, dass ein „illegales Überschreiten einer Grenze“ vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat, der einem Drittstaatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen und unter Abweichung von den für sie grundsätzlich geltenden Einreisevoraussetzungen gestattet. Daran ändere auch nichts, dass sich der Drittstaatsangehörige nicht den Grenzkontrollen entzieht, denn die in Art. 12-14 der Dublin-III-VO genannten Kriterien dienten nicht der Ahndung eines rechtswidrigen Verhaltens, sondern der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates unter Berücksichtigung seiner Rolle dabei, da sich der Drittstaatsangehörige in seinem Hoheitsgebiet befinde.

Die Sondersituation der „Flüchtlingskrise“ ändere daran nichts. Der Unionsgesetzgeber kenne eine solche Gefahr und habe hierfür Instrumente geschaffen, die einen angemessen Umgang gewährleisten sollten, ohne dass er für diesen Fall eine spezielle Regelung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehen habe. Die Dublin-III-VO enthalte in Art. 33 einen Mechanismus zur Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung. Die sog. „Massenzustromrichtlinie“ (2001/55/EG) regele, dass im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen die Kriterien und Verfahren für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats Anwendung finden. Art. 78 Abs. 3 AEUV erlaubt den Mitgliedstaaten Notfallmaßnahmen im Asylbereich zu erlassen. Zudem könne jeder Mitgliedstaat im Geiste der Solidarität von seinem Eintrittsrecht im Sinne des Art. 17 der Dublin-III-VO Gebrauch machen.

Zuletzt verweist der EuGH noch darauf, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt habe, dann nicht an einen Mitgliedstaat überstellt werden dürfe, wenn infolge der Ankunft einer außergewöhnlichen hohen Zahl internationalen Schutz beantragenden Drittstaatsangehöriger die Überstellung für sie mit der tatsächlichen Gefahr verbunden ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.

Die Generalanwältin Eleanor Sharpston hatte in ihren Schlussanträgen noch zu beiden Rechtssachen argumentiert, dass unter den außergewöhnlichen Umständen der Flüchtlingskrise der Mitgliedstaat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in dem der Antrag zuerst gestellt wurde. Einen illegalen Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-VO lehnt sie für den Fall ab, dass die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Union, die mit einem Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert seien, diesen Menschen gestatteten, auf dem Weg in andere Mitgliedstaaten in ihr Hoheitsgebiet einzureisen und es zu durchqueren. Der Grenzübertritt könne nicht als „illegal“ angesehen werden, vor allem weil die Transitmitgliedstaaten der Union die massenhaften Grenzübertritte nicht nur toleriert, sondern sowohl die Einreise als auch die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet aktiv erleichtert hätten. Die Verordnung sei schlicht nicht für solche außergewöhnlichen Umstände gedacht gewesen, und deshalb liege unter den Umständen der vorgelegten Rechtssachen kein illegaler Grenzübertritt vor. Alternativ argumentiert die Generalanwältin, dass unter diesen außergewöhnlichen Umständen ein Mitgliedstaat berechtigt gewesen wäre, Drittstaatsangehörigen gestützt auf die Ausnahme im Schengener Grenzkodex die Überschreitung seiner Außengrenze aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen zu gestatten.

Dieser Argumentation ist der EuGH nicht gefolgt. Das Urteil ist zu begrüßen, weil der EuGH die ihm vorgelegten Fälle auf Grundlage der anzuwendenden Gesetzeslage gelöst hat und sich nicht dazu hinreißen lassen hat, ein politisches Urteil über die während der sog. „Flüchtlingskrise“ herrschende Politik des „Durchwinkens“ zu treffen. So unbefriedigend wie die durch die Dublin-III-VO geregelte Zuständigkeitsverteilung sein mag, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, hier Abhilfe und Rechtssicherheit zu schaffen.

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