Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa -Informationen Nr. 156

Orientierung für eine Welt aus den Fugen

Katrin Hatzinger / Julia Maria Eichler (Juristische Referentin)

Wer wollen wir sein, und wo wollen wir gemeinsam hin? Was benötigen wir, um die Europäische Union und Europa insgesamt als politisches, wirtschaftliches, kulturelles und gesellschaftliches Projekt voranzubringen? Das waren die Fragen, die am 26. Oktober 2017 die Reformationsbotschafterin der EKD, Margot Käßmann, mit der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments (EP), Mairead McGuinness (EVP) diskutierten. Die Veranstaltung unter dem Titel „Die Welt aus den Fugen — Orientierung dringend gesucht“ war eine gemeinsame Veranstaltung des Goethe-Instituts, des ARD-Verbindungsbüros Brüssel und „Die Zeit“ in Zusammenarbeit  mit dem Brüsseler EKD-Büro.

In ihrer Begrüßung dankte die Leiterin der Brüsseler EKD-Vertretung, Katrin Hatzinger, Margot Käßmann für ihre große Präsenz in Brüssel während der Reformationsdekade. Der Abend sei der Abschluss der Dekade in Brüssel und verdeutliche das gute Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Akteure, denn das Reformationsjubiläum sei ein gesamtgesellschaftliches Datum.

Die irische Vize-Präsidentin des EP McGuinness erinnerte eingangs daran, dass es lange Zeit keine Möglichkeit in Irland für Eheschließungen zwischen Protestanten und Katholiken gegeben habe. Es würde Generationen dauern, um die Gräben, die aufgerissen worden seien, wieder zu schließen. Heute wären die Konfessionslinien allerdings zunehmend verschwommener und die Menschen toleranter. Der Frieden, den es heute auf der irischen Insel gebe, sei jedoch immer noch fragil. Zudem hätte die kirchliche Verbundenheit stark abgenommen.

Margot Käßmann bekräftigte, dass es heute eine viel stärkere Verbindung zwischen den christlichen Konfessionen gebe. Dies könne auch ein Hoffnungszeichen für andere Religionen sein, wie etwa für die Sunniten und Schiiten. Die Erfolge der Ökumene zeigten, dass es möglich sei, die eigene Wahrheit gefunden zu haben und gleichzeitig die Wahrheit des anderen anzuerkennen. Den religiösen und politischen Führern komme heute eine immense Verantwortung zu, betonte die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.

Angesprochen auf sinkende kirchliche Mitgliederzahlen, hob Frau Käßman hervor, dass Kirche auch heute noch eine wichtige Rolle spielen könne. Auch wenn es gerade in Ostdeutschland viele Orte mit wenigen Mitgliedern gebe, würden sich in Deutschland immer noch sehr viele Menschen zum christlichen Glauben bekennen. Gerade in der Flüchtlingskrise habe die Kirche viel geleistet. Sie habe Flüchtlinge aufgenommen, Deutschkurse angeboten, aber auch als Diskussionsplattform gedient. Das Evangelium und seine Botschaft seien dabei eine Herausforderung, der man sich als Christ stellen müsse. Man sehe, dass die biblische Botschaft in Ländern wie etwa Polen durch nationale Interessen verdunkelt werde.

Angesprochen auf die wachsende Zahl von Muslimen in Europa durch Zuwanderung, sagte die Europaabgeordnete, dass der Islam immer sehr deutlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Anders als das Christentum werde der Islam mit bestimmten Symbolen wie etwa dem Kopftuch verbunden. Sie habe mit jungen Muslimen aus 24 Mitgliedstaaten über die Zukunft der EU gesprochen und die größte Angst dieser Jugendlichen sei ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft gewesen. Ängste würden wachsen, wenn sie nicht angesprochen würden und man sich nur in „seinen“ Kreisen bewege. Margot Käßmann sprach sich für mehr Dialog aus. Am Ende müssten es die moderaten Kräfte sein, die sich für das Gemeinsame einsetzen und sich gegen Machtinteressen verwahren.

Frau McGuinness betonte, dass man den Begriff des christlichen Abendlandes entpolitisieren müsse. Das christliche Abendland sei eine riesige Migrationsgeschichte. In homogenen Gesellschaften vergesse man schnell, dass man  Sachen auch anders sehen könne. Momentan reagiere man aber auf alles Fremde sofort, anstatt erst zu versuchen, es vor einer Reaktion zu verstehen.

Auf die Leitkulturdebatte angesprochen betonte Margot Käßmann in der Diskussion mit dem Publikum, dass die deutsche Kultur mehr sei als Sprache. Stammtische, Kirchenchöre, Vereine und Geselligkeit, das alles sei typisch deutsch. Die 10-Punkte von Bundesinnenminister De Maizière seien ihres Erachtens nicht sehr hilfreich. Was deutsch sei, verändere sich im Laufe der Zeit. Angesprochen auf die Rolle der Kirchen in der EU unterstrich sie die Verantwortung der Kirchen für die Debatte um die Zukunft der EU. Hier ginge es darum, mehr vor Ort in den Mitgliedstaaten die Frage nach dem Zusammenhalt in der EU zu stellen.

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