Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 155

Europäische Förderpolitik: Reflexionspapier zum EU-Haushalt: Less money, more problems

Ulrike Truderung

Am 28. Juni 2017 hat die Europäische Kommission unter Federführung von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger und der EU-Kommissarin für Regionalpolitik, Corina Cretu, ihr Reflexionspapier „Zukunft der EU-Finanzen“ vorgelegt. Das Papier bildet den Abschluss einer Reihe von insgesamt fünf Reflexionspapieren, die die Kommission im Zuge des „Weißbuch-Prozesses“ zur Zukunft der Europäischen Union erarbeitet hat (EKD-Europa-Informationen 154). Mit diesen Reflexionspapieren soll die öffentliche Debatte über die Zukunft der EU strukturiert angeregt werden. Zu diesem Zweck stellen das Weißbuch wie auch die einzelnen Reflexionspapiere verschiedene Szenarien vor, die mögliche künftige Ausgestaltungen der EU durchspielen.


Das nun vorliegende Papier zur Zukunft der EU-Finanzen widmet sich primär der Frage, welche Aufgaben zukünftig aus dem EU-Haushalt finanziert werden sollen – und woher das Geld dafür stammen soll. Denn während die Wunschliste von Themen, derer sich die EU nach Willen der Mitgliedstaaten annehmen möge, weiter ansteigt – beispielsweise in den Bereichen Migration, Klimawandel, Verteidigung, Sicherheit und Terrorismusbekämpfung – ist es nicht absehbar, dass sich das verfügbare Budget der EU in Zukunft entsprechend erhöhen wird. Vielmehr wird nach dem Brexit damit gerechnet, dass sich die Einnahmen um 10 Milliarden Euro jährlich reduzieren werden. Offen ist daher die Frage, wie mit der Diskrepanz zwischen Erwartungen an die Leistungen der EU und den verfügbaren Haushaltsmitteln umgegangen werden soll: Sollen die Aktivitäten der EU, für die Gelder ausgegeben werden müssen, zurückgefahren bzw. beschnitten werden? Oder soll vielmehr versucht werden, die drohende Haushaltslücke zu schließen – durch höhere Beiträge der verbleibenden EU-Mitgliedstaaten, oder durch die Erschließung neuer Finanzierungsquellen, also neuer sogenannter „Eigenmittel“?


Derzeit finanziert sich die EU über Beiträge der Mitgliedstaaten entsprechend ihrem Bruttonationaleinkommen (BNE) sowie aus Zolleinnahmen und Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Mögliche neue Quellen für solche Eigenmittel könnten dem Reflexionspapier zufolge beispielsweise aus einer Finanztransaktionssteuer, Abgaben für Elektrizität und Kraftstoffen, aus körperschaftssteuerbasierten Einnahmequellen oder aus den Gebühren stammen, die durch von der Visumpflicht befreiten Nicht-EU-Staatsangehörigen für die Registrierung im angedachten Europäischen Reiseinformations- und Genehmigungssystem (ETIAS) entrichtet werden müssten. Da mit dem „Brexit“ auch der seinerzeit eigens für das Vereinigte Königreich ausgehandelte „Britenrabatt“ auf die britischen Beiträge zum EU-Haushalt wegfallen wird, wird angeregt, gleichzeitig auch das gesamte Rabattsystem für jene Staaten, die mehr in den Haushalt einzahlen als sie erhalten, abzuschaffen. Dieses Rabattsystem war ursprünglich als Folge des „Britenrabatts“ etabliert worden und würde mit dem Brexit hinfällig werden.


Doch auch mit der Erschließung neuer Einnahmequellen erscheint es notwendig, auch an der Ausgabenseite Abstriche zu machen, um der drohenden Finanzierungslücke im EU-Haushalt nach 2020 entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund fordert die Kommission, alle von der EU finanzierten Maßnahmen und Förderprogramme auf ihre Effektivität, Kohärenz und ihren Europäischen Mehrwert hin zu überprüfen und gegebenenfalls Programme zusammenzulegen oder gänzlich einzustellen. Ebenfalls wird auf die Möglichkeiten zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie der Kohäsionspolitik hingewiesen, um diese Politiken wirksamer und effizienter zu gestalten.


Die Kommission betont, dass ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität der EU-Finanzen gefunden werden müsse. Vorgeschlagen wird unter anderem die Einführung eines „5+5-Systems“ für den Mehrjährigen Finanzrahmen, bei dem ein Programmplanungszeitraum grundsätzlich auf zehn Jahre festgelegt würde, jedoch einer verpflichtenden, gründlichen Überprüfung und Revision nach fünf Jahren unterliegen würde. Dieses „5+5-System“ würde einerseits eine langfristigere Planungsperspektive und andererseits gleichzeitig eine frühere Revisionsmöglichkeit als im derzeit auf sieben Jahre angelegten System bieten. Die Revision würde in Umfang und Auswirkung über die derzeit vorgeschriebene Halbzeitbewertung des bestehenden siebenjährigen Finanzrahmens noch hinausgehen und bei Bedarf eine Neuausrichtung der Förderschwerpunkte ermöglichen. Um das Budget weiter zu flexibilisieren, schlägt die Kommission zudem vor, entweder einen Teil der verfügbaren Mittel innerhalb eines Programms nicht von vornherein zu verplanen, sondern als „unverplante Reserve“ für unvorhergesehene Ereignisse zu belassen – oder aber eine Krisenreserve aus nicht ausgeschöpften Mitteln der Vorjahre anzulegen, die im Notfall aktiviert werden könnte.


Ein favorisiertes Thema der Kommission, welches auch im Reflexionspapier betont wird, ist die Stärkung von Finanzierungsinstrumenten in Form von rückzahlbaren Zuschüssen wie Krediten, Bürgschaften und Beteiligungskapital. Während die Kommission mittlerweile einräumt, dass diese Finanzierungsinstrumente nur bei Projekten, die Erträge generieren, sinnvoll eingesetzt werden können und bei Projekten, die nicht ertragsorientiert sind, Finanzierungsinstrumente nicht zwangsläufig das Mittel der Wahl sein sollten, wird doch ein großer Nachdruck auf den Vorschlag gelegt, die Nutzung von Finanzierungsinstrumenten voranzutreiben und die verfügbaren europäischen Finanzierungsinstrumente gegebenenfalls in einem einzigen Fonds zu bündeln.
Aufgeworfen wird auch die Frage, in welche Bereiche der zukünftige EU-Haushalt primär investieren sollte. Vorgeschlagen werden von der Kommission dabei Investitionen in Humankapazitäten wie Bildung, Gesundheit, Gleichstellung und soziale Inklusion, Investitionen beispielsweise in eine CO2²-arme Energieinfrastruktur, aber auch die Einrichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds, die Schaffung von finanziellen Anreizen zur Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedstaaten sowie die Einführung von Instrumenten zur makroökonomischen Stabilisierung der EU oder der Eurozone. Ebenfalls wirft die Kommission die Frage auf, ob und inwiefern der Erhalt von europäischen Fördermitteln von der Achtung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig zu machen sei.


Wie auch im Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union sowie in den vier zuvor veröffentlichten Reflexionspapieren schlägt die Kommission schließlich fünf Szenarien vor, wie eine zukünftige Finanzierungs- und Ausgabenpolitik der EU nach 2020 aussehen könnte:


Szenario 1 – Weiter wie bisher: Die Ausgabenlogik bliebe hiernach  im Vergleich zur derzeitigen Situation weitestgehend stabil. Die Ausgaben im Bereich der Gemein-samen Agrarpolitik (GAP) und der Kohäsionspolitik würden anteilsmäßig gekürzt, um die entstehenden Kosten für neue Aufgabenbereiche, z.B. der inneren und äußeren Sicherheit, Migration und Grenzkontrollen sowie Verteidigung zu decken. Mehreinnahmen würden aus den bisherigen Quellen stammen – minus des im Zuge des „Britenrabatts“ eingeführten Rabattsystems – und aus anderen, neuen Einnahmequellen.


Szenario 2 – Weniger gemeinsames Handeln: In diesem Szenario konzentrieren sich die Tätigkeiten der EU ausschließlich auf das Funktionieren des Binnenmarkts. Der EU-Haushalt würde deutlich zusammengestrichen, die GAP sowie die Kohäsionspolitik auf ein Minimum reduziert. Für die Kohäsionspolitik bedeutete dies eine Unterstützung ausschließlich für Kohäsionsländer (d.h. Mitgliedstaaten, in denen das Pro-Kopf-BNE unter 90% des EU-Gemeinschaftsdurchschnitts liegt) und für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit (d.h. Interreg A). Die Finanzmittel der Kohäsionspolitik sollten sich danach auf die Themenfelder soziale Inklusion, Beschäftigung, Kompetenzen, Innovation, Klimawandel sowie Energie- / Ökologiewende beschränken. Eine Reihe von direkt verwalteten Förderprogrammen würde nicht weitergeführt werden. Beibehalten werden sollten demzufolge ausschließlich binnenmarktrelevante Förderprogramme wie z.B. zur Förderung transnationaler Infrastruktur oder zum Verbraucherschutz. Zur Finanzierung dieses Szenarios wäre das bestehende Einnahmenmodell – unter Abzug des bestehenden Rabattsystems – ausreichend.


Szenario 3 – Einige tun mehr: Die Ausgaben entsprechen in diesem Szenario denen in Szenario 1 und somit weitestgehend der bestehenden Situation, wenn auch in gekürzter Form. Der Einsatz von Finanzinstrumenten (wie beispielsweise Kredite, Bürgschaften) würde verstärkt. Für die Eurozone sollten Maßnahmen zur makroökonomischen Stabilisierung, wie z.B. Investitionsschutz und eine Rückversicherung für Arbeitslosenversicherungen, eingeführt werden. Die Einnahmequellen entsprächen weitestgehend denen in Szenario 1. Neue politische Maßnahmen sollten nur von den teilnehmenden Mitgliedstaaten finanziert werden.


Szenario 4 – Radikaler Umbau: Auch hier wird vorgeschlagen, die Kohäsionspolitik und die GAP drastisch zu kürzen und die Kohäsionspolitik ausschließlich auf die Unterstützung ärmerer Regionen und auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu beschränken. Wie in Szenario 2 sollte die thematische Ausrichtung auf die Themenfelder soziale Inklusion, Beschäftigung, Kompetenzen, Innovation, Klimawandel sowie Energie- / Ökologiewende begrenzt sein. Anders als in Szenario 2 würden in diesem Szenario jedoch die neuen Prioritäten (Sicherheit und Verteidigung, Terrorismusbekämpfung, Migration) neu eingeführt und ihre Umsetzung aus dem EU-Haushalt finanziert werden. Das bestehende Einnahmensystem würde radikal vereinfacht und mit der Erschließung von neuen Eigenmitteln angefüllt werden.


Szenario 5 – Erheblich mehr gemeinsames Handeln: Die Zuständigkeiten der EU würden erheblich ausgeweitet. Es würden deutlich mehr finanzielle Mittel im EU-Haushalt zur Verfügung gestellt, um die bestehenden Programme beispielsweise in der GAP und im sozialen Bereich auszuweiten und gleichzeitig die neuen Prioritäten im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Terrorbekämpfung sowie in der Steuerung der Migrationspolitik zu finanzieren. Das Einnahmensystem sollte tiefgreifend reformiert werden, neue Eigenmittel sollten dem-zufolge zukünftig einen Großteil des EU-Haushalts finanzieren.


Diese fünf Szenarien sind insgesamt mit einer Portion Gelassenheit zu betrachten: Die „extremeren“ Vorschläge sind durchaus als Provokationen zu betrachten, um die Debatte anzuregen. Medienberichten zufolge sind sie auch innerhalb der Kommission umstritten. Auch das Europäische Parlament sprach sich bereits vor der Veröffentlichung des Reflexionspapiers in einem von der deutschen Abgeordneten Kerstin Westphal erstellten Initiativbericht ausdrücklich gegen ein Zusammenstreichen der Kohäsionspolitik aus (siehe vorangehender Artikel). Insbesondere das zweite Szenario des Reflexionspapiers ist daher als ein Weckruf zu verstehen, der verdeutlichen soll, wie massiv sich ein strikter Sparkurs ohne zusätzliche Gelder aus Beiträgen der Mitgliedstaaten oder neue Einnahmequellen sowie ein radikaler Abbau der EU-Zuständigkeiten auswirken würde.


Realistischer erscheint es zum derzeitigen Zeitpunkt, dass sich schlussendlich größtenteils Szenario 1, vermischt mit einigen Elementen aus Szenario 3, durchsetzen wird. Jedoch ist unstrittig, dass die drohende Finanzierungslücke durch sinkende Einnahmen in Kombination mit steigenden Anforderungen an die Zuständigkeiten der EU einer Lösung bedarf. Mit gewissen Kürzungen bei den Förderprogrammen ist daher in jedem Fall zu rechnen, denn Szenario 5 („Erheblich mehr gemeinsames Handeln“) mit wundersam deutlich steigenden Finanzmitteln im EU-Haushalt erscheint utopisch. Wie stark diese Kürzungen sich auf jedes einzelne Förderprogramm auswirken werden, und ob tatsächlich starke Einschnitte bei der Kohäsionspolitik in weiter entwickelten Mitgliedstaaten zu erwarten sind, bleibt Gegenstand der laufenden Verhandlungen.

Den Link zum Reflexionspapier finden Sie hier: http://ekd.be/Reflexionspapier_Finanzen

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