Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 155

Wohin mit Europa? Wahlprogramme im Vergleich

Valentin Wendebourg (Sondervikar)

Wohin soll sich Europa politisch entwickeln? Nach Jahrzehnten eines scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden politischen Einigungsprozesses haben die Wahlen in Frankreich, den Niederlanden sowie die britische Abstimmung über den Brexit gezeigt, wie unterschiedlich und teils widersprüchlich die Erwartungen an Europa und die EU vielerorts sind. Das im März 2017 veröffentliche Weißbuch der Kommission zur Zukunft der EU (EKD-Europa-Informationen 154) hat auf die wachsenden Meinungsverschiedenheiten reagiert und verschiedene Zukunftsszenarien zur Debatte gestellt.

Auch wenn in Deutschland – anders als in Frankreich oder den Niederlanden – eine radikale Ablehnung des mit der EU eingeschlagenen politischen Gemeinwesens bisher keine breitere gesellschaftliche Unterstützung gefunden hat, so unterscheiden sich die zur Bundestagswahl im September antretenden Parteien in ihren europapolitischen Vorstellungen teils doch maßgeblich. Angesichts der herausgehobenen politischen Bedeutung, die Deutschland innerhalb der EU besitzt, sind die europapolitischen Vorstellungen der Parteien durchaus relevant. Aus diesem Grunde sollen hier Grundzüge der verschiedenen Positionen in Hinblick auf ihre Ziele für Europa sowie die Entwicklung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Überblick dargestellt werden.

CDU/CSU

CDU/CSU setzen in ihrem Programm auf ein „starkes, selbstbewusstes und dynamisches Europa“, dessen vorrangige Aufgabe die Sicherung von Frieden und Freiheit ist. Angesichts der Herausforderungen in der Welt komme Deutschland dabei die Aufgabe zu, „Stabilitätsanker in der Welt zu sein“. CDU/CSU betonen Deutschlands Einbindung und Verantwortung in UNO und NATO.

CDU/CSU setzen auf eine zunehmende verteidigungspolitische Souveränität der EU und unterstützen daher sowohl den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungsunion als auch eines EU-Verteidigungsfonds. CDU/CSU befürworten zudem das Ziel, 2 Prozent des BIP für den Verteidigungshaushalt einzusetzen.

Aufgrund der Einschränkung der Grundrechte sowie der beabsichtigen Einführung der Todesstrafe lehnen die beiden Parteien einen Beitritt der Türkei zur EU ab, wollen sich jedoch weiter für enge Beziehungen einsetzen. Außenpolitisch hervorgehoben werden zudem der Einsatz für das Existenzrechts Israels sowie die engen Beziehungen zu den USA als „wichtigster außereuropäischer Partner“. Angesichts des Brexits setzen CDU/CSU auf neue europäische Impulse aus den deutsch-französischen Beziehungen sowie dem Weimarer Dreieck unter Einbeziehung Polens.

SPD

Die SPD hat bereits im Titel ihres Programms „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit: Zukunft sichern, Europa stärken. Das Regierungsprogramm 2017 bis 2021“ Europa als Thema aufgenommen. Deutschland und Frankreich sollen eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Einigung Europas übernehmen. Die SPD befürwortet „ein Europa der zwei Geschwindigkeiten“, in dem einzelne Gruppen von Staaten bei gemeinsamen Projekten vorangehen sollen. Gefordert werden zudem eine Ausweitung der Kompetenzen des EU-Parlaments sowie Maßnahmen zur Durchsetzung der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und Grundwerte in den Mitgliedstaaten. Hinsichtlich des Brexit betont die SPD das Bestehen auf den vier Grundfreiheiten als Voraussetzung für die Teilhabe am Binnenmarkt. Dauerhaft strebt die SPD eine Europäische Verfassung an, welche den Vertrag von Lissabon ersetzen soll.

Die SPD fordert, die europäischen Außengrenzen stärker zu schützen und Frontex sowie Europol zunehmend an der Terrorismusbekämpfung zu beteiligen. Vorgesehen ist zudem der Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft. Außenpolitisch strebt die SPD eine engere europäische Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung mit dem langfristigen Ziel einer europäischen Armee an. Eine europäische Verteidigungsunion wird hierbei als Ergänzung zur NATO betrachtet. Die Außenpolitik soll wesentlich deeskalierend, präventiv und auf Entspannung ausgerichtet sein. Ein EU-Beitritt der Türkei wird als auf absehbare Zeit unmöglich betrachtet und eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen an den Verzicht auf die Einführung der Todesstrafe gebunden.

DIE LINKE

Unter dem Motto „Für ein Europa der Menschen statt der Banken und Konzerne“ formuliert die LINKE eine grundlegende Neuausrichtung der Europapolitik. Gefordert wird ein Neustart der derzeit als unsolidarisch und undemokratisch wahrgenommenen EU „mit neuen Verträgen, neuen Strukturen, neuen Hoffnungen“. Diese Verträge sollen in den Mitgliedstaaten durch Volksabstimmung zur Wahl gestellt werden. Mit ihrer Hilfe sollen die Finanzmärkte „entmachtet“ und der Bankensektor demokratisch kontrolliert werden.

Eine Vertiefung der Kapitalmarktunion unter den EU-Mitgliedstaaten wird abgelehnt. Angestrebt werden durch eine Bewegung „von unten“ ein „soziales und solidarisches Europa“.

Zu den Kernpunkten des Wahlprogramms der LINKEN gehört die außenpolitische Forderung einer strikten Entmilitarisierung. Aus diesem Grund werden ein Ende aller Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie ein Verbot von Rüstungsgütern und Waffen angestrebt. Die EU-Außenpolitik soll sich dem Frieden verpflichten und „ist strikt auf zivile Instrumente zu orientieren.“

Eine militärische Ausrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes wird abgelehnt. Zudem soll die NATO aufgelöst und „durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Einbeziehung von Russland“ ersetzt werden, um zur allgemeinen Abrüstung beizutragen. Auf EU-Ebene ist die Abschaffung der Rüstungsagentur vorgesehen.
In den Brexit-Verhandlungen fordert die LINKE sowohl die beidseitige Anerkennung der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie des Bleiberechts der Bürgerinnen und Bürger in der EU und Großbritannien.

Eine Vertiefung der Beitrittsgespräche mit der Türkei wird aufgrund des autoritären Regierungsstils Erdogans abgelehnt.

Die Grünen

Die Grünen treten für ein sozial-ökologisches Europa ein. Angesichts der aktuellen transnationalen Herausforderungen wie Terrorismus, Armut, Hunger oder der Klimakrise betonen die Grünen die Notwendigkeit eines vereinten und solidarischen Europas.

Als Beitrag zur Demokratisierung der EU fordern die Grünen das Initiativrecht für das EU-Parlament und eine vereinfachte Abwahlmöglichkeit der Kommission. Zudem sollen die Ministerratstreffen und das Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten öffentlich gemacht werden. Hürden für europäische Bürgerinitiativen sollen reduziert werden und alle EU-Bürger die vollen bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte in den Staaten erhalten, in denen sie leben. Vorgesehen ist, die Unionsbürgerschaft zukünftig zu einer europäischen Staatsbürgerschaft weiter zu entwickeln.

Dir Grünen treten für eine stärkere Europäisierung der Außen-, Entwicklungs,- Friedens- und Sicherheitspolitik ein. Sie betonen den Vorrang der zivilen vor den militärischen Mitteln und lehnen daher die Verwendung entwicklungspolitischer EU-Gelder für militärische Unterstützung bzw. den Ausbau von Grenzanlagen strikt ab. Anstelle der Militärausgaben sollen die Gelder für Krisenprävention und Rechtsstaatsmissionen erhöht werden. Die Grünen treten für eine verstärkte Koordination der Verteidigungspolitik auf EU-Ebene ein und wollen hier eine restriktive Rüstungsexportpolitik durchsetzen. Von der NATO fordern die Grünen eine intensivierte Kooperation mit Dritten wie beispielsweise im Nato-Russland-Rat. Gegenüber der Türkei treten die Grünen für ein Ende des Visumszwangs ein, knüpfen die Ausweitung der Zollunion mit der EU jedoch an die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit. Einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen lehnen sie ab.

Für die Beziehungen der EU zu Afrika wird ein Zukunftspakt angestrebt, um die Perspektiven der Menschen in Afrika zu verbessern und Fluchtursachen zu bekämpfen. Auszubildende und Studierende aus Afrika sollen vereinfachte Einreisebedingungen erhalten.

FDP

Die FDP spricht sich klar für ein vereintes Europa aus und strebt danach, die Effizienz der europäischen Institutionen zu erhöhen. So soll das Parlament nach einem einheitlichen Wahlrecht und staatsübergreifenden Listen gewählt werden und das Initiativerecht erhalten. Das EU-Parlament soll auf Brüssel konzentriert und die Zahl der EU-Kommissare von 28 auf 16 reduziert werden. In dem Prozess der europäischen Integration setzt die FDP auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten mit dem Ziel einer dezentralen, bundesstaatlich verfassten Europäischen Union.

Angestrebt werden eine intensivierte Außen- und Sicherheitspolitik, die u.a. in der Umbenennung der Hohen Vertreterin in „EU-Außenministerin“ zum Ausdruck kommen soll. Die FDP fordert eine strengere internationale Rüstungskontrolle sowie Abrüstungsbemühungen. In der europäischen Rüstungsentwicklung und -beschaffung sollten zunehmend Synergien genutzt werden. Ziel ist die Einrichtung einer gemeinsamen Europäischen Armee unter einem gemeinsamen Oberbefehl und parlamentarischer Kontrolle. Auch eine engere Zusammenarbeit zwischen NATO und EU sind vorgesehen. Die Beziehungen zu Russland sollen verbessert werden, während die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzustellen sind.

AfD

Die AfD tritt für eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Europapolitik ein. Die Kernforderungen der AfD lautet: „Wir wollen den souveränen, demokratischen Nationalstaat erhalten!“ Ziel ist es, anstatt einer wachsenden politischen Union die Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten und Regionen zu stärken. Konkret folgt daraus u.a. die Forderung nach einem deutschen Ausstieg aus dem Euro und dem Schengen Abkommen.
Die deutsche Außenpolitik hat sich an nationalen Interessen auszurichten. Eine Vertiefung der europäischen Union oder eine weitere Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf EU-Ebene wird entschieden abgelehnt. Zugleich strebt die AfD einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat an. Gefordert werden zudem ein verstärktes Engagement Deutschlands in der NATO sowie die Stärkung der nationalen Verantwortlichkeit in der Verteidigungspolitik, weshalb die Schaffung einer gemeinsamen EU-Armee abgelehnt wird. Außenpolitisch tritt die AfD für eine partnerschaftliche Emanzipation von den USA ein und fordert ein konkretes Ende der EU-Sanktionen gegenüber Russland. Die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei sollen beendet werden.

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