Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 155

Soziales und Beschäftigung: Noch ein langer Weg – Die Debatte um das soziale Europa kommt (nur) in kleinen Schritten voran

Yonas Thiele (Rechtsreferendar) / OKR‘in Katrin Hatzinger

Die EU-Kommission hat am 26. April 2017 ihren Vorschlag für eine europäische Säule sozialer Rechte (European Pillar of Social Rights) vorgestellt. Bereits 2015 hatte Kommissionspräsident Junker in seiner ersten Rede zur Lage der Union angekündigt, die Sozialpolitik der EU stärken zu wollen.


Anfang 2016 legte die Kommission einen ersten Entwurf vor; es folgte ein Prozess von Konsultationen, den auch die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände mit einer Stellungnahme begleiteten (EKD-Europa-Informationen 153). Auf dieser Grundlage erfolgte nun der Vorschlag der Kommission.


Bei der vorgelegten „sozialen Säule“ handelt es sich um „Grundsätze und Rechte“, die jedoch keine bindende Wirkung entfalten.


Die Säule umfasst 20 Grundsätze in drei Hauptkategorien:


• Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang
• Faire Arbeitsbedingungen
• Sozialschutz und soziale Inklusion


Dazu gehören u.a. das Recht auf Unterstützung bei der Arbeitssuche und das Recht auf gerechte Entlohnung. Die Umsetzung der Säule wird durch ein sozialpolitisches „Scoreboard“ unterstützt, mit dem die Leistungen und Entwicklungen der EU-Mitgliedstaaten verfolgt werden sollen.


Die Säule soll nach dem Willen der EU-Kommission als Kompass für einen erneuerten Konvergenzprozess in Richtung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen in den teilnehmenden Mitgliedstaaten dienen. Letztlich liegt die Umsetzung der dort festgeschriebenen Grundsätze, aufgrund des Subsidiaritätsprinzips, weitestgehend in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sie ist in erster Linie für das Euro-Währungsgebiet konzipiert, doch sie gilt für alle Mitgliedstaaten, die sich beteiligen wollen.


Die soziale Säule wurde in zwei verschiedenen Rechtsformen mit identischem Inhalt vorgestellt. Einmal als Empfehlung der Kommission und als Vorschlag für eine gemeinsame Proklamation des Parlaments, des Rates und der Kommission. Der Grund für die gewählten Rechtsformen liegt darin, dass nach dem Willen der Kommission, ein gemeinsamer Wille von Parlament, Rat und Kommission zum Ausdruck gebracht werden und ein Diskussionsprozess in allen Gremien initiiert werden soll. Trotzdem wird auch eine gemeinsame Proklamation (COM (2017)251 final) keine unmittelbar durchsetzbaren Rechte gewährleisten.


Die EU hat durch Richtlinien und Initiativen bereits Einiges zur Verwirklichung sozialer Rechte beigetragen. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Gestaltungsspielraum der Union aufgrund der Kompetenzordnung eingeschränkt ist. Dementsprechend war die Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten für eine starke verbindliche europäische Säule sozialer Rechte auch gering. Der Vorschlag der EU-Kommission ist daher ein erster kleiner Schritt, um die Arbeits- und Lebensbedingungen in der EU im Sinne einer Aufwärtskonvergenz zu verbessern und anzugleichen. Den großen Durchbruch hin zu einem sozialen Europa stellt die  Säule nicht dar. Dazu sind seine Inhalte und Prinzipien zu unverbindlich.


Wichtig ist der Schritt aber durchaus, und auch der Ansatz, ein sozialpolitisches „Scoreboard“ einzurichten, das die Umsetzung der Säule in den Mitgliedstaaten verfolgt und damit eine gewisse Bindungswirkung entfalten soll, ist durchaus begrüßenswert. Die Trends und Fortschritte in allen EU-Mitgliedstaaten sollen dann auch in das Europäische Semester zur wirtschaftspolitischen Koordinierung einfließen. Auf diese Weise sollen die Staaten angehalten werden, ihre sozialpolitische Verantwortung wahrzunehmen.


Von Seiten der Gewerkschaften, insbesondere des DGB gab es heftige Kritik an der sozialen Säule. DGB–Chef Hofmann monierte, die EU-Kommission habe die Chance für mehr Glaubwürdigkeit „regelrecht verspielt“. Die Kritik des Österreichischen Gewerkschaftsbundes ging in die gleiche Richtung: „Also eher heiße Luft statt einer echten sozialen Kursänderung“, hieß es dort. Die Gewerkschaften haben angekündigt, bis zum EU-Sozialgipfel am 17. November in Göteborg weitere Vorschläge vorlegen zu wollen. In Göteborg soll die soziale Säule feierlich proklamiert werden, aber auch über ein weiteres Papier diskutiert werden, das am 26. April 2017 vorgestellt wurde.


Unter der Federführung der Kommissare Valdis Dombrovskis (Lettland, u.a. zuständig für den Euro und den sozialen Dialog), und Marianne Thyssen (Belgien, zuständig für Beschäftigung und Soziales) wurde das „Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas“ vorgestellt. Es soll nach dem Willen der Kommission einen Beitrag zur Debatte um die soziale Dimension Europas leisten. Ausgehend von einigen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Eckdaten werden darin mögliche Entwicklungen bis zum Jahr 2025 aufgezeigt.
Gefragt wird danach, wie wir in der Gesellschaft und Arbeitswelt der Zukunft unseren Lebensstandard aufrechterhalten können, mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen, die Menschen mit den richtigen Kompetenzen ausstatten und einen größeren Zusammenhalt unserer Gesellschaft sicherstellen wollen? Im Hinblick auf mögliche Ansätze einer künftigen europäischen Sozialpolitik beschränkt sich die Kommission auf drei Zukunftsszenarien:


Szenario 1


Eine Begrenzung der sozialen Dimension auf den freien Personenverkehr im Binnenmarkt, wie sie die erste Option vorsieht, würde europäische Vorschriften über den Schutz von Arbeitnehmern sowie die Sicherheit am Arbeitsplatz und über Mindestansprüche (z. B. zum Mutterschutz, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Gleichstellung) abschaffen. Sozialprogramme in den Mitgliedstaaten, die in beträchtlichem Umfang von der EU bezuschusst werden, müssten eingestellt oder aus innerstaatlichen Mitteln weiterfinanziert werden. Eine der Konsequenzen wäre: die Kluft zwischen den nationalen Arbeitsmärkten würde weiter wachsen.


Szenario 2


Eine zweite Option könnte darin bestehen, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die den sozialen Bereich weiterentwickeln wollen, den Weg der verstärkten Zusammenarbeit wählen. So könnte z. B. die Einführung einer europaweiten Sozialversicherungsnummer sowie einheitlicher Preise für Arzneimittel und Impfstoffe oder die gemeinsame Anerkennung von Abschlüssen geprüft werden. Eine verstärkte Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten hätte jedoch den Nachteil, dass sich der Abstand zu den restlichen Mitgliedstaaten vertiefen und Wettbewerbsverzerrungen eintreten könnten.


Szenario 3


Im dritten Szenario würde die EU-27 gemeinsam die soziale Dimension vertiefen. Trotz vorrangiger nationaler Zuständigkeiten, wäre es mittels Rechtsvorschriften möglich, die Bürgerrechte innerhalb der EU vollständig zu harmonisieren.


So könnten verbindliche Richtwerte festgelegt werden z.B. im Hinblick auf Beschäftigungs-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme. Die EU könnte ihre Unterstützung in Form von Fördergeldern zudem von der Zusage abhängig machen, dass bestimmte Richtwerte erreicht werden. Zudem könnten bestimmte europäische Einrichtungen geschaffen (z.B. eine Europäische Arbeitsaufsicht) und mit Durchsetzungsbefugnissen ausgestattet werden. Als mögliche positive Resultate werden u. a. eine EU-weit gültige Sozialversicherungsnummer, ein einheitliches Ruhestandsalter, gemeinsame Tarifverträge und ein europäischer Behindertenausweis genannt. In diesem Szenario würde die Einheit Europas weiter vorangetrieben und die Gefahr eines Sozialdumpings verhindert.


Nun kann die Debatte um das soziale Europa in die nächste Runde gehen.


Sie finden den Link zur Sozialen Säule hier: http://ekd.be/die_europaeische_saeule_sozialer_rechte

Hier geht es zum Reflexionspapier: http://ekd.be/reflexionspapier_zur_sozialen_dimension_europas

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