Zusammenfassung Friedensdenkschrift 2025
Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick – Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen
Friedensethik in Kriegszeiten – Die neue Friedensdenkschrift der EKD
Unter dem Titel „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im November 2025 eine neue Friedensdenkschrift veröffentlicht. Die EKD ringt darin um Antworten für neue Herausforderungen durch die Zunahme an kriegerischen Konflikten weltweit, geopolitische Verschiebungen, hybride Kriegsführung, neue Waffentechnologien, die Klimakrise und den Druck, dem liberale Demokratien weltweit ausgesetzt sind. Zugleich gibt sie Antworten auf Fragen in Themenfeldern, deren Bearbeitung eine lange Tradition im Raum der evangelischen Kirche haben. Dazu gehören die nukleare Abschreckung, Rüstungsexporte sowie Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung.
Ziel der ethischen Überlegungen ist es, sowohl dem christlichen Ideal der Gewaltfreiheit als auch den komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angesichts der aktuellen Weltlage gerecht zu werden. Die Denkschrift markiert dabei eine deutliche Neuausrichtung der protestantischen Friedensethik.
Die Grundlage: Was Christ*innen glauben
Christliche Friedensethik wurzelt in vier Grundüberzeugungen:
- Jesus Christus lehrte den vollständigen Verzicht auf Gewalt. Er schlug nicht zurück. Er vergab seinen Feinden. Sogar am Kreuz betete er für seine Peiniger.
- Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ist ein ethischer Kompass. Christ*innen sind dazu aufgerufen, nicht nur ihre Freunde, sondern auch ihre Feinde zu lieben.
- Jeder Mensch ist ein gleichberechtigtes Geschöpf Gottes. Egal, welche Hautfarbe, Religion oder Nation jemand hat – vor Gott sind alle Menschen gleich. Diese Überzeugung steht im Widerspruch zu Rassismus, Nationalismus und anderen diskriminierenden Haltungen.
- Unsere Welt ist unerlöst. Hass und Gewalt stehen der von Gott gewollten Gerechtigkeit und Nächstenliebe entgegen. Der Mensch ist „gerecht und Sünder zugleich“, wie es der Reformator Martin Luther ausdrückte. Das bedeutet, dass jeder Mensch sowohl zum Guten als auch zum Bösen fähig ist.
Menschen können sich um Frieden und Gerechtigkeit bemühen. Doch menschliches Tun kann kein Paradies auf Erden schaffen. Jesu Bergpredigt ist zentrale Orientierung für christliches Handeln. Aber die Bergpredigt kann keine Gesellschaft organisieren in einer unerlösten Welt, die auch von Gewalt geprägt ist. Es braucht Gesetze, Gerichte und notfalls Militär, um Eskalationen der Gewalt zu stoppen.
Das Leitbild: Gerechter Friede
Das Leitbild evangelischer Friedensethik und das Herzstück der Denkschrift bildet der ökumenisch geprägte Begriff Gerechter Frieden. Frieden wird als Prozess verstanden, in dem Gewalt abnimmt und Gerechtigkeit zunimmt. Das Konzept des Gerechten Friedens verbindet zwei Aspekte miteinander, die nicht selten als Gegensätze wahrgenommen worden sind. Denn im Namen der Gerechtigkeit sind oft Kriege geführt worden. Frieden kann jedoch nur da gedeihen, wo es auch eine gerechte Ordnung gibt. Ist sie bedroht, kann es sein, dass sie durch Zwangsmaßnahmen gegen Angriffe geschützt werden muss – etwa, wenn ein Aggressor ein Nachbarland überfällt, wenn Terroristen Zivilist*innen ermorden oder wenn ein Diktator sein Volk unterdrückt.
Wichtig dabei ist: Die evangelische Friedensethik versteht den Gerechten Frieden als Ideal, nach dem es sich zu streben lohnt. Er wird nie ganz erreicht werden. Aber das Leitbild des Gerechten Friedens bietet Orientierung im Spannungsfeld zwischen Glaubenshoffnung und den Bedrohungen in der realen Welt.
Die vier Dimensionen des Gerechten Friedens
Der Gerechte Frieden stützt sich auf vier Grundpfeiler, die Dimensionen genannt werden. Jede ist wichtig. Aber die Dimensionen sind nicht gleichrangig:
- Schutz vor Gewalt. Menschen müssen sicher leben können. Ohne Angst vor Überfällen. Ohne Furcht vor Willkür. Ohne Bedrohung durch Krieg. Dieser Schutz ist die Voraussetzung für alles andere.
- Förderung von Freiheit. Menschen brauchen Freiräume. Sie müssen ihre Meinung sagen können, ihren Glauben leben, ihren Beruf wählen dürfen. Doch Freiheit in Gemeinschaft muss auch Grenzen haben – da, wo sie anderen ihre Freiheiten raubt.
- Abbau von Ungleichheiten. Nicht alle Menschen müssen gleich viel haben, aber alle brauchen genug zum Leben. Extreme Ungleichheit birgt Konfliktpotenzial.
- Friedensfördernder Umgang mit Vielfalt. Menschen leben in verschiedenen Kulturen, gehören unterschiedlichen Religionen an, haben differierende Lebensentwürfe. Das kann bereichernd sein, führt aber auch zu Konflikten. Gerechter Frieden sucht einen klugen Umgang damit. Vielfalt ja – aber nicht um jeden Preis. Sie darf Frieden und Freiheit nicht gefährden.
Eine wesentliche Neuerung in der evangelischen Friedensethik ist die zentrale Bedeutung, die die Denkschrift der ersten Dimension, Schutz vor Gewalt, beimisst. Schutz vor Gewalt bildet die Grundlage für die anderen Dimensionen des Gerechten Friedens. Denn ohne Sicherheit vor physischer Bedrohung können die Förderung von Freiheit, der Abbau von Ungleichheiten und der friedensfördernde Umgang mit Vielfalt nicht verwirklicht werden. Umgekehrt bleibt allerdings auch ein rein auf Gewaltfreiheit beruhender Friede ohne Gerechtigkeit instabil.
Der Primat der Gewaltfreiheit und Gegenwalt als letztes Mittel
Bei der Neuausrichtung der Friedensethik vollzieht die EKD einen Balanceakt zwischen dem christlichen Ideal der Gewaltfreiheit und der Anerkennung der Tatsache, dass zum Schutz vor Gewalt notfalls auch Gegengewalt nötig ist. Jesu Botschaft der Gewaltlosigkeit steht im Zentrum christlicher Ethik. Pazifistische Positionen der absoluten Gewaltlosigkeit würdigt die EKD als „Ausdruck gelebter Frömmigkeit“ und wichtige Stimmen, die daran erinnern, dass jede Gewaltanwendung schuldig macht – auch die ethisch gerechtfertigte. Gewalt bleibt immer Sünde.
Obwohl die Überwindung von Gewalt das oberste Ziel bleibt, verwirft die Denkschrift den absoluten Pazifismus als politische Theorie. Die EKD distanziert sich damit von einer Position, die den Dienst ohne Waffe als „deutlicheres Zeichen“ christlichen Friedenshandelns wertet. Sie geht davon aus, dass radikaler Pazifismus nur eine persönliche Entscheidung Einzelner sein kann. Denn die Erfahrung zeigt, dass ganze Gesellschaften in einer „erlösungsbedürftigen Welt“ nicht gewaltfrei funktionieren und sich gegen bösartige Gewalt schützen müssen.
Christ*innen befinden sich also in einer Situation, die es gilt, sorgsam abzuwägen: Zwar sollen sie grundsätzlich gewaltfrei handeln. Aber der Verzicht auf (Gegen)gewalt kann dazu führen, dass ein Staat seine Bürger*innen nicht vor Gewalt schützen kann. Die Denkschrift spricht von einer „Schuldverstrickung“, der niemand ganz entkommt.
Gegengewalt zur Verteidigung muss aber immer sehr strengen Regeln folgen. Sie dient dem Recht, nicht der Rache. Sie verfolgt das Ziel, Gewalt zu beenden, statt sie fortzuführen oder zu eskalieren.
Neue Bedrohungen, neue Antworten
Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa wachgerüttelt. Auch der eskalierende Nahostkonflikt führt die Brutalität unserer Zeit vor Augen. Die meisten Konfliktherde der Welt befinden sich aber auf dem afrikanischen Kontinent. Sie werden in Deutschland und Europa nur deutlich weniger wahrgenommen. Nachdem jahrelang die Zahl der Kriegstoten zurückgegangen ist, war 2024 ein trauriger Höhepunkt an Kriegstoten in jüngerer Zeit.
Der liberale Rechtsstaat ist weltweit bedroht. Von innen greifen ihn Extremist*innen an, von außen autoritäre Regime. Drohnen und Künstliche Intelligenz treiben die Entmenschlichung der Gewalt voran. Hybride Kriegsführung, die über militärische Auseinandersetzungen hinaus auch auf andere Gesellschaftsbereiche wie Wirtschaft, Kultur und die öffentliche Meinung einwirkt, lässt die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen. Umweltzerstörungen und die Klimakrise verschärfen Konflikte oder schaffen neue.
All das stellt auch die Friedensethik vor neue Herausforderungen. Die Denkschrift bezieht unter anderem zu folgenden Aspekten Stellung:
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Hybride Kriegsführung
Die Denkschrift warnt vor der Verwundbarkeit demokratischer Gesellschaften, die auf informierte Bürger*innen angewiesen sind. Der zunehmenden Destabilisierung von Gesellschaften durch hybride Kriegsführung, die unter anderem auf Fake News und Verschwörungstheorien setzt, muss durch Aufklärung und Bildung entgegengetreten werden. Bildung sollte daher eine zentrale Aufgabe präventiver Friedenspolitik sein.
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Terrorismus
Auch der Terrorismus wird als Herausforderung benannt, wobei die EKD vor einer „Politik der Angst“ warnt, die dem Terrorismus in die Hände spielt. Pauschale Restriktionen gegen Schutzsuchende seien sicherheitspolitisch wirkungslos und daher ethisch nicht zu vertreten.
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Atomwaffen
Die Denkschrift bezeichnet Atomwaffen als ethisch verwerflich, da sie dem Gerechten Frieden völlig widersprechen. Dennoch erkennt sie an, dass der Besitz von Atomwaffen politisch notwendig sein kann, um die eigene Verhandlungsposition gegenüber Atommächten zu sichern. Daraus ergibt sich ein ethisches Dilemma, das für die Verantwortlichen nicht ohne Schuld auflösbar ist.
Friedensethik heute: Das Dilemma nuklearer Abschreckung
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Rüstungsexporte
Waffenlieferungen dürfen nur dem Schutz der Bevölkerung und der Wiederherstellung des Friedens dienen. Es gibt keine generelle Pflicht zur Nothilfe durch Waffenlieferungen. Wenn es um den Beistand für einen zu Unrecht angegriffenen Staat geht, kann die Lieferung von Waffen nach gründlicher Einzelfallabwägung aber ethisch verantwortbar sein. Dabei muss Gewalteskalation vermieden und Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.
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Präventivangriffe
In Extremsituationen, wenn eine unmittelbare Gefahr von Staaten mit einsatzbereiten Massenvernichtungswaffen ausgeht und alle friedlichen Mittel zur Konfliktbearbeitung ausgeschöpft sind, hält die Denkschrift eine präventive militärische Reaktion als letztes Mittel zum Schutz der eigenen Bevölkerung für ethisch vertretbar. Dabei ist jedoch immer genau darauf zu achten, dass das Argument der Selbstverteidigung nicht missbraucht wird.
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Dienstpflicht und Wehrpflicht
In der aktuellen Diskussion um die Neugestaltung des Wehrdienstes betont die EKD den Vorrang der Freiwilligkeit. Sie hält fest, dass das Engagement für den Schutz vor Gewalt, für Sicherheit und Frieden eine Form des Dienstes für den Nächsten sein kann, den Christ*innen aus innerer Überzeugung leisten. Es fällt in den Verantwortungsbereich des Staates, zu bestimmen, welche Formen dieses Dienstes vorrangig gebraucht werden – bis hin zu einer möglichen Wehrpflicht, sollte dies unabdingbar sein. Dies muss aber offen und nachvollziehbar kommuniziert werden. Im Licht des Gerechten Friedens ist an der derzeitigen Diskussion zu kritisieren, dass angesichts der Vielschichtigkeit der Wege zum Gerechten Frieden der Dienst für Sicherheit und Frieden nicht auf das Militärische eingeengt werden darf. Daher wäre aus ethischer Sicht eine allgemeine Dienstpflicht, die berücksichtigt, dass auch Krankenversorgung, der Schutz der Infrastruktur und die Förderung des sozialen Zusammenhalts dem Frieden dienen, anzustreben. Allerdings ist zu konstatieren, dass die Einführung einer solchen Dienstpflicht rechtlich und politisch vor sehr hohen Hürden steht. Die Gewissensentscheidung zur Kriegsdienstverweigerung muss unverzichtbares Grundrecht bleiben. Bei der Einführung einer Dienstpflicht für Frauen soll deren Anteil an der Care-Arbeit berücksichtigt werden.
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„Friedenstauglichkeit“
In der aktuellen sicherheitspolitischen Debatte ist oft von „Kriegstauglichkeit“ oder „-tüchtigkeit“ die Rede. Die evangelische Friedensethik erkennt die Notwendigkeit an, für die Verteidigungsfähigkeit des Staates sorgen zu müssen. Den Begriff „Kriegstauglichkeit“ lehnt sie jedoch ab, da er dazu verleiten könnte, mit militärischen Fähigkeiten zu drohen oder den Krieg zu verherrlichen. Stattdessen bevorzugt sie den Begriff „Friedenstauglichkeit“.
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Klimagerechtigkeit als Friedensaufgabe
Die Denkschrift versteht die Klimagerechtigkeit als „integralen Bestandteil“ der Friedenspolitik. Denn Umweltzerstörung und die ungleiche Verteilung der Folgen der Klimakatastrophe sind Konflikttreiber, die präventiv angegangen werden müssen. Zudem führen auch Kriege selbst oft zu massiven Umweltschäden mit generationenübergreifenden Folgen.
Mehr zu Klimagerechtigkeit
Evangelischer Beitrag zur friedensethischen Debatte
Die Welt ist aus den Fugen geraten. Sie wird wieder kriegerischer und brutaler. Das lässt sich nicht schönreden. Neue Technologien erhöhen das Gewaltpotenzial. Das Völkerrecht wird verhöhnt, die UN sind oft machtlos und Diktaturen sind auf dem Vormarsch.
Aufgabe und Möglichkeit der EKD ist es nicht, politische Entscheidungen zu treffen. Aber sie will das öffentliche Ringen um Orientierung mit theologischer Stimme begleiten. Sie will zur Versachlichung polarisierter Debatten beitragen, gegen Desinformation vorgehen, Räume für Diskurse öffnen und den Hoffnungshorizont des Evangeliums aufzeigen. Denn Frieden fällt nicht vom Himmel, er muss erarbeitet werden. Daran kann jede und jeder täglich aufs Neue mitwirken.
Mit ihrer Denkschrift stellt sich die EKD den komplexen Herausforderungen einer „Welt in Unordnung“. Sie reagiert darin auf die aktuellen Krisen und stößt die Suche nach einer angemessenen christliche Friedensethik für das 21. Jahrhundert an.
Dabei hält sie an ihren friedensethischen Grundüberzeugungen und an der Vision eines Gerechten Friedens fest, ohne die Realität von Gewalt und Bedrohung zu leugnen.
Theologisch fundiert und um politische Konkretheit bemüht, ringt der Text mit den Spannungen zwischen christlichem Friedensideal und politischer Verantwortung. Dabei wird deutlich: Die evangelische Friedensethik befindet sich in einem Prozess der Neuorientierung, der noch nicht abgeschlossen ist.
Die Denkschrift will daher auch keine fertigen Antworten liefern. Stattdessen versteht sie sich als Beitrag zur Gewissens- und Meinungsbildung und liefert differenzierte ethische Orientierungspunkte für die gesellschaftliche Debatte.
© Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick. Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland, EVA GmbH, Leipzig 2025.