Europa-Informationen, Ausgabe 153, Dezember 2016

Nichts dazu gelernt - Christliche Organisationen kritisieren geplante Dublinreform

OKR'in Katrin Hatzinger

Der für die Bereiche Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos hat am 8. Dezember 2016 angekündigt, dass die EU-Kommission empfehle, ab März 2017 sukzessive wieder Rücküberstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-Systems durchzuführen. Damit Griechenland nicht übermäßig belastet werde, sollten die Überstellungen nicht rückwirkend wiederaufgenommen werden, sondern "sich nur auf Asylbewerber erstrecken, die ab dem 15. März 2017 irregulär über eine Außengrenze nach Griechenland gelangt seien oder für die Griechenland aufgrund anderer als der Dublin-Kriterien ab diesem Zeitpunkt zuständig sei", so die EU-Kommission in einer Pressemitteilung. Asylbewerber sollten nur dann nach Griechenland überstellt werden, wenn die griechischen Behörden in jedem Einzelfall eine mit EU-Recht konforme Behandlung zusicherten. Schutzbedürftige Asylbewerber wie unbegleitete Minderjährige sollten vorläufig nicht nach Griechenland überstellt werden. Ein Team des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), bestehend aus Sachverständigen der Mitgliedstaaten, solle die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten unterstützen und darüber berichten, ob die gemäß der Dublin-Verordnung nach Griechenland rücküberstellten Personen entsprechend den Zusicherungen der griechischen Behörden behandelt würden. Um die griechischen Bemühungen zu unterstützen, forderte die Kommission die Mitgliedstaaten ferner auf, ihren Umverteilungspflichten vollumfänglich nachzukommen und in ausreichendem Umfang Asylexperten nach Griechenland abzustellen.


Die Empfehlung erfolgte im Zusammenhang mit der Vorstellung verschieder Berichte über die Fortschritte bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, darunter über die Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung und den aktuellen Stand bei der Umverteilung und Neuansiedlung von Flüchtlingen. So seien bislang mehr als 8000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in andere EU-Staaten umgesiedelt worden, allein im November 2016 1400 Menschen. Ziel sei es, im Laufe des kommenden Jahres sämtliche Personen in Griechenland und Italien, die für eine Umverteilung in Frage kommen, umzusiedeln. Darüber hinaus seien bislang 13 887 Flüchtlinge in der EU neuangesiedelt worden ("resettlement"). Der EU-Türkei-Deal funktioniere und zeige weiterhin Wirkung. Die Zahl der irregulären Grenzübertritte über die Ägäis sei im Berichtszeitraum deutlich unter dem Stand vor Abschluss des EU-Türkei-Deals geblieben. Seit März 2016 liege die durchschnittliche Zahl der Neuankömmlinge bei 92 pro Tag, während im vergangenen Jahr an einem einzigen Oktobertag 10.000 Flüchtlinge eingetroffen seien. Erhebliche Unzulänglichkeiten bestünden jedoch weiter: so dauere die Rücküberstellung aus Griechenland in die Türkei weiterhin zu lange, was den Druck auf den griechischen Inseln verstärke. Daher müssten zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, um die Situation auf den griechischen Inseln zu verbessern.
Daneben habe Griechenland aber große Fortschritte bei der Verbesserung seines Asylsystems gemacht und mittlerweile mehr als 70 000 permanente und vorübergehende Aufnahmeplätze geschaffen. Allerdings blieben Probleme im griechischen Asylsystem bestehen, etwa im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen, die Behandlung schutzbedürftiger Antragsteller und die Geschwindigkeit der Registrierung und Bearbeitung von Asylanträgen.


Die Empfehlung zur Wiederaufnahme der Rücküberstellungen nach Griechenland begründete Avramopoulos mit vier Argumenten wie folgt: zum einen hätte sich die Situation in Griechenland stark verbessert, darüber hinaus würden durch diesen Schritt die Umverteilungsbemühungen verstärkt. Denn den Asylsuchenden müsse verdeutlicht werden, dass sie sich ihr Asylland nicht aussuchen könnten, sondern dass einzig und allein die Umverteilung und die Neuansiedlung als Instrumente zur Verfügung stünden. Ferner sei die Wiederaufnahme der Rücküberstellungen (die bislang aufgrund der menschenunwürdigen Zustände im griechischen Asylsystem durch (höchst-) richterliche Beschlüsse europaweit gestoppt wurden) im Hinblick auf die geplante Reform des Dublin-Systems (vgl. EKD- Europa-Informationen Nr. 152) notwendig, damit der darin vorgesehene Fairness-Mechanismus angewandt werden könne. Schließlich sei die Rückkehr zu einem funktionierenden Dublin-System essentiell, um das Schengen-System wiederherzustellen, sprich auf die vorübergehend wieder eingeführten Grenzkontrollen zwischen einigen EU-Staaten zu verzichten. Er betonte auch, dass es nicht an der Kommission, sondern an den Mitgliedstaaten und deren Gerichten liege, die Rücküberstellungen wieder aufzunehmen.


Angesichts der weiterhin miserablen Lage der vielen in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge erscheint die Empfehlung des EU-Kommissars zynisch, verdeutlicht aber auch, wie stark der Druck auf die politisch Verantwortlichen ist, wieder Herr des Verfahrens zu werden und die geplante Reform der Dublin-Verordnung zum "Erfolg" zu führen. Aus Sicht der christlichen Organisationen ist jedoch der gesamte Reformansatz verfehlt und macht deutlich, dass die Politik aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt hat. Im Oktober 2016 hat die "Christian Group", der neben der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME), Caritas Europa, der Jesuitenflüchtlingsdienst, unter anderem auch das Entwicklungshilfe-Netzwerk "Act Alliance EU" und das EKD-Büro Brüssel angehören, in einer Stellungnahme die von der EU-Kommission vorgeschlagene Reform stark kritisiert. Der im Mai 2016 ohne ausreichende vorherige Konsultation der Zivilgesellschaft vorgelegte Entwurf der EU-Kommission (vgl. EKD-Europa-Informationen Nr. 152) setzt massiv auf Sanktionen, um die Weiterwanderung von Asylsuchenden zu unterbinden und schafft humanitäre Ermessensspielräume von Mitgliedstaaten zur Übernahme von Verantwortung für Schutzsuchende weitestgehend ab. In ihrer Stellungnahme kritisieren die christlichen Organisationen folgerichtig das Festhalten am Zuständigkeitskriterium der irregulären Einreise, das die Hauptverantwortung für die Schutzsuchende bei den Ländern an den EU-Außengrenzen belässt und das Fehlen jeglicher Rücksichtnahme auf bestehende sprachliche, berufliche, medizinische oder andere Bedürfnisse von Schutzsuchenden, wenn es um die Frage geht, wo das Asylverfahren durchgeführt werden muss. Lediglich der Schutz von unbegleiteten Minderjährigen oder der Familieneinheit können Ausnahmen von der Zuständigkeitsregel ermöglichen. Die Organisationen plädieren weiterhin für ein "Matching-System", das die Präferenzen von Schutzsuchenden und Mitgliedstaaten in Einklang bringt. Hoch problematisch ist auch, dass künftig kein Zuständigkeitsübergang von einen auf einen anderen Mitgliedstaat mehr durch den Ablauf der im Dublin-Verfahren vorgesehenen Fristen erfolgen soll. Das Problem der "Refugees in orbit", das Dublin eigentlich verhindern soll, könnte dadurch wieder verstärkt auftreten. Menschen werden vom Zugang zum Asylverfahren abgeschnitten.


Ebenso schwierig sind die geplanten Sanktionen bei Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat, um dort den Asylantrag zu stellen, in Form der umgehenden Abschiebung in den zuständigen Staat, beschleunigte Verfahren mit beschränkten Rechten und eine Reduktion der Aufnahmebedingungen auf ein Minimum. Im Lichte des oben gesagten ist diese Regelung schlicht lebensfremd.


Positiv wird die Erweiterung des Familienbegriffs in dem Entwurf der Dublin-Verordnung bewertet. Allerdings wird das Recht auf Familieneinheit durch den geplanten vor die Zuständigkeitsprüfung gesetzten zwingenden Zulässigkeitstest gefährdet, durch den zunächst festgestellt werden soll, ob ein Asylsuchender nicht in einen "sicheren Drittstaat" oder "ersten Asylstaat" abgeschoben werden kann. Dieses zusätzliche Verfahren bringe nicht nur einen erhöhten Verwaltungsaufwand für die Staaten an den EU-Außengrenzen mit sich, sondern führe auch zu einer weiteren Externalisierung der EU-Asylpolitik, indem die Verantwortung auf Drittstaaten abgeschoben werde, deren "Sicherheit" fraglich sei. In der Stellungnahme wenden sich die Organisationen gegen die massive Ausweitung des "sicheren Drittstaats-" und "ersten Asylstaat"-Konzeptes, da angesichts der übereilten und politischen Anwendung die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen bestehe. Gleiches gilt für die in Zukunft obligatorische Anwendung des Konzeptes der "Sicheren Herkunftsstaaten". Das Recht auf Familienzusammenführung soll in diesen Konstellationen zudem nicht mehr vorrangig sein, was höchst bedenklich ist. Positiv hingegen sind die neuen detaillierten Vorschriften zur Feststellung des Kindeswohls und die Bestellung eines Vormunds fünf Tage nach Ankunft. Dennoch ist die geplante Reform aus Sicht der "Christian Group" ein Rückschritt für den Schutz von Minderjährigen. Denn entgegen der aktuellen EuGH-Rechtsprechung ist künftig der Staat für den unbegleiteten Minderjährigen zuständig, in dem der "erste" Asylantrag gestellt worden ist, d.h. Rücküberstellungen sollen möglich sein, auch wenn das laut EuGH nicht dem Kindeswohl entspricht.


Kritisch sehen die Organisationen ebenfalls die massive Kürzung von Fristen, um schnelle Rücküberstellungen von Antragsstellern sicherzustellen, etwa die First für die Berufung gegen eine Überstellung von nur sieben Tagen. Zu begrüßen ist jedoch, dass die Berufungen gegen Rücküberstellungen zwingend eine aufschiebende Wirkung entfalten sollen. Neu vorgesehen ist ferner ein Fairness-Mechanismus, der automatisch feststellen soll, wenn das Asylbewerberaufkommen in einzelnen Ländern gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße und ihrem Bruttoinlandsprodukt unverhältnismäßige Ausmaße annimmt. Steigt die Zahl der Asylsuchenden auf 150% eines auf dieser Grundlage berechneten Schwellenwerts, werden alle weiteren neuen Asylbewerber (ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit) nach einer Prüfung ihres Antrags auf Zulässigkeit auf die übrigen EU-Mitgliedstaaten verteilt, bis das Asylbewerberaufkommen wieder unter den betreffenden Schwellenwert sinkt. Ein Mitgliedstaat hat auch die Möglichkeit, vorübergehend nicht an diesem Umverteilungsmechanismus teilzunehmen. In diesem Fall soll er einen Solidaritätsbeitrag von 250 000 EUR pro Asylbewerber an den Mitgliedstaat zahlen, der an seiner Stelle diesen aufnimmt.


Für die "Christian Group" greift der Fairness-Mechanismus zu spät, nämlich wenn die Asylsysteme der betreffenden Staaten schon unter enormen Druck stehen, und durch die vorgesehene Automatisierung wird weiterhin den Präferenzen und Bedürfnissen von Staaten und Flüchtlingen nicht entsprochen. Auch werden diejenigen, die aus "sicheren Herkunftsstaaten", einem "ersten Asylstaat" oder "sicheren Drittstaaten" kommen gar nicht erfasst. Das würde dazu führen, dass Griechenland beispielsweise weiterhin stark überlastet bliebe, da der Fairness-Mechanismus erst nach der zusätzlichen Zulässigkeitsprüfungen greift. Einzig positiver Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Neuansiedlungsbemühungen von Mitgliedstaaten bei der Berechnung der Umverteilungskontingente berücksichtigt werden sollen. Die Stellungnahme kommt zu dem Schluss, dass statt eines fairen, effizienten und menschenrechtsbasierten Dublin-Systems nur noch mehr Bürokratie geschaffen wird zu Lasten der Schutzsuchenden und der überlasteten Staaten. Statt positive Anreize zu setzen, um eine Weiterwanderung zu unterbinden, wie etwa die gegenseitige Anerkennung positiver Asylentscheidungen in der EU, wird allein auf Sanktionen und Bestrafung von Asylsuchenden gesetzt, die Asylbewerber noch häufiger in die Irregularität drängen werden. Die Organisationen fordern ferner mehr legale Wege für Schutzsuchende in die EU. Doch es scheint so, als seien weder die EU-Kommission noch die Mitgliedstaaten bereit, von ihrem Kurs abzuweichen.


Unter der maltesischen Ratspräsidentschaft (siehe vorangehender Artikel) wird über die Reform weiterberaten. Die christlichen Organisationen stehen in engem Austausch mit dem Europäischen Parlament und der schwedischen Berichterstatterin im zuständigen Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, Cecilia Wikström.

Die Stellungnahme finden Sie auf Englisch unter: http://ekd.be/Stellungnahme_engl

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