Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

1.1 Globale sozioökonomische Probleme

  1. Die »Friedensdividende« nach dem Ende des Kalten Krieges ist einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von vielen Millionen Armen nicht zugute gekommen. Zwar hat das schon in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts vom UN-Programm für Entwicklung (UNDP) entwickelte Konzept »Menschliche Sicherheit« das Schicksal der Menschen (anstelle national-staatlicher Interessen) in den Mittelpunkt gerückt, und im Jahre 2000 wurden die »Millenniumsziele« der Vereinten Nationen von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Doch diese harren weiterhin einer auch nur annähernden Verwirklichung. Einige Schwellenländer weisen zwar hohe Wachstumsraten auf, aber in vielen Regionen greifen Verteilungsungerechtigkeit, Armut, Verelendung, Überschuldung, Misswirtschaft, Gewalt, Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Krankheiten, Bildungsdefizite, Umweltzerstörung, unzureichende Maßnahmen der Entwicklungshilfe, unfähige Staatsstrukturen und Politiker ineinander und setzen den Teufelskreis der Fehl- und Unterentwicklung fort.
  2. An den positiven Auswirkungen der Globalisierung haben die ärmsten Länder und ihre Bevölkerung viel zu geringen Anteil. Die Nord-Süd-Problematik verschärft sich, die Kluft zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern wird in vielen Bereichen immer größer. Zwar hat sich seit Mitte der 1990er Jahre der Welthandel mehr als verdreifacht, und mit der Entwicklung der Kommunikationstechnologien wachsen rapide Kapitaltransfer, Produktion und Handel, jedoch weiterhin vor allem innerhalb der OECD-Welt und zwischen der OECD-Welt und wenigen Schwellenländern. Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben weiterhin in Armut und Elend. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind über fünfmal so viele Menschen wie im Zweiten Weltkrieg an armutsbedingten Ursachen gestorben – nämlich etwa 270 Millionen; aktuell sterben jährlich 18 Millionen Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen; fast 900 Millionen Menschen sind unterernährt.
  3. Armut und Unterernährung in der unterentwickelten Welt verbinden sich mit völlig unzureichenden Gesundheitssystemen. Jährlich sterben 11 Millionen Kinder an vermeidbaren Krankheiten und eine halbe Million Frauen während Schwangerschaft oder Geburt.
  4. Der Raubbau an der Natur, häufig aus Sorge ums nackte Überleben, aber auch durch niedrigen Agrarisierungsgrad, falsche Ausrichtung der Agrarproduktion oder Industrialisierung betrieben, erschwert eine kohärente Entwicklung. In Afrika droht nahezu die Hälfte aller Flächen zu Wüsten zu werden, was zu Verelendung und Unbewohnbarkeit führen würde. Die Menschen in Industrie- und Transformationsländern sind durch ihren hohen Energie- und Wasserbedarf, ihre große Mobilität (Individualverkehr; Tourismus) sowie ihre Konsumgewohnheiten (z.B. Rindfleischverzehr) mitursächlich an der alle Staaten der Welt bedrohenden Ressourcenverschlechterung beteiligt, ohne dass eine Trendwende erkennbar wäre. Inwieweit auch der aktuell viel diskutierte Klimawandel möglicherweise zu spezifischen Friedensgefährdungen führen kann, bleibt zu klären; auszuschließen ist es jedenfalls nicht.
  5. Es ist heute weitgehend anerkannt, dass für dauerhafte Friedensstrukturen nachhaltige Entwicklung notwendig ist. Doch wird diese erstens durch die unzureichende Zahlungsbereitschaft der reichen Länder begrenzt: 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts galt schon 1964 als akzeptiertes Ziel für ihren Beitrag; Deutschland kommt bisher nur auf einen Entwicklungshilfehaushalt von 0,3Prozent des Bruttosozialprodukts, wobei nach OECD-Statistiken darin mehr als 3,5 Milliarden allein zur Schuldentilgung dienen. Zweitens wird die Wirksamkeit offizieller Entwicklungshilfe durch zahlreiche Mängel beeinträchtigt. Es ist bedrückend, dass ein Teil der Entwicklungshilfe zumindest indirekt in Rüstung, Waffen und Krieg fließt.
  6. Mit dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, der Welthandelsorganisation usw. verfügt unsere Welt über ein Institutionengeflecht, das heute in die Lage versetzt werden sollte, die Globalisierung einem menschenwürdigen Leben aller Erdenbewohner dienstbar zu machen. Es ist allerdings festzustellen, dass Schwierigkeiten durch die vorrangig auf Liberalisierung, Deregulierung und Anpassung an westliche Wirtschaftsformen ausgerichteten Maßnahmen und Konditionen häufig eher noch vergrößert wurden. Ein wirksamerer Beitrag zum Abbau von Not, Unfreiheit und Gewalt wäre nicht nur ein Akt der Solidarität, sondern auch des wohlverstandenen Eigeninteresses. Europa ist auf seiner »Wohlstandsinsel« schon jetzt nicht mehr unbehelligt. »Bootsflüchtlinge« und die Menschen vor Teneriffa, Lampedusa und anderswo, die sich aus verzweifelter Hoffnung in Lebensgefahr begeben, zeigen, wie die sozioökonomischen Probleme und die Perspektivlosigkeit junger Menschen in afrikanischen und anderen Ländern des Südens unser Ufer des Mittelmeers erreichen. Sie sind vermutlich nur Vorboten, die Stoßwellen sozialer Erdbeben wirken sich in zunehmendem Maße auch bei uns aus.
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