Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

3.2 »Rechtserhaltende Gewalt« statt »gerechter Krieg«

  1. Recht ist auf Durchsetzbarkeit angelegt. In der Perspektive einer auf Recht gegründeten Friedensordnung sind Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür stellt. Das Problem ist in Ethik und Rechtsphilosophie seit der Antike im Rahmen der auch im Christentum rezipierten »Lehre vom gerechten Krieg« bedacht worden. Dabei ist der »gerechte Krieg« vom »Heiligen Krieg« grundlegend zu unterscheiden. Während das Motiv des Heiligen Kriegs die Option zu organisierter kollektiver Gewaltanwendung gegen die »Ungläubigen« mit religiöser Autorisierung und Motivation einschließt, waren die Lehren vom »gerechten Krieg« politisch-ethischer Natur: Sie enthielten allgemeingültige Kriterien praktischer Vernunft, durch die geprüft werden sollte, ob in einer bestimmten Situation militärischer Gewaltgebrauch moralisch gerechtfertigt sein kann. Nicht zuletzt die reformatorische Unterscheidung von Gottes geistlicher und weltlicher Regierweise (regimentum) hat dazu beigetragen, den um der Erhaltung des weltlichen Zusammenlebens willen gegebenenfalls verantwortbaren Gewaltgebrauch klar von einem aus religiös-weltanschaulichen Gründen geführten »heiligen Krieg« abzugrenzen und so auch jeden Religionskrieg und jeden Einsatz militärischer Gewalt mit weltanschaulicher Zielsetzung zu verwerfen.
  2. Auch wer nicht die Position des unbedingten Pazifismus vertritt (also bereit ist, in jeder denkbaren Situation auf die Anwendung potenziell tötender Gewalt zu verzichten), sondern von einer vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit ausgeht, wird, wenn er sich in einer äußersten Notsituation vor die Frage des Gewaltgebrauchs gestellt sieht, immer kritische Fragen stellen wie etwa diese: Gibt es dafür einen hinreichenden Grund? Sind diejenigen, die zur Gewalt greifen, dazu ausreichend legitimiert? Verfolgen sie ein verantwortbares Ziel? Beantworten sie ein eingetretenes Übel nicht mit einem noch größeren? Gibt es eine Aussicht auf Erfolg? Wird die Verhältnismäßigkeit gewahrt? Bleiben Unschuldige verschont? Genau dies sind Prüfkriterien, die traditionell auch in den Lehren vom gerechten Krieg – verteilt auf die Fragen nach dem Recht zum Krieg (ius ad bellum: causa iusta, legitima potestas, recta intentio, ultima ratio, Verhältnismäßigkeit der Folgen) und nach der rechtmäßigen Kriegführung (ius in bello: Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidungsprinzip) – herangezogen wurden. Diese Prüfkriterien zielten ursprünglich auf die Disziplinierung, nicht etwa auf die Förderung der Bereitschaft zum Krieg. Nicht gegen Kriterien dieser Art als solche, wohl aber gegen die überkommenen Rahmentheorien des gerechten Kriegs, in die sie eingefügt waren, bestehen prinzipielle Einwände. Denn die Theorien des bellum iustum entstammen politischen Kontextbedingungen, in denen es eine rechtlich institutionalisierte Instanz zur transnationalen Rechtsdurchsetzung ebenso wenig gab wie eine generelle Ächtung des Krieges.
  3. Die im Deutungshorizont des traditionellen Naturrechts entwickelten Lehren vom »gerechten Krieg« konnten die gerechtfertigte Kriegführung im asymmetrischen Modell der Beziehung von Richter und Straffälligem, d.h. als Akt der gerechten Bestrafung eines Rechtsbrechers und zur Wiederherstellung des Friedens verstehen, weil sie die Anerkennung allgemeinverbindlicher materialer Gerechtigkeitsmaßstäbe im Rahmen des Corpus Christianum voraussetzten. Schon die Reformation hat auf das Zerbrechen einer solchen homogenen Gemeinwohlkonzeption reagiert: Luther schränkte die möglichen Kriegsgründe strikt auf die Selbstverteidigung im Fall eines tatsächlich erfolgten Angriffs ein. Und der viel umstrittene Artikel XVI des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 enthält bei genauer Beachtung des Wortlauts keine Lehre vom »gerechten Krieg«, vielmehr erlaubt er die Beteiligung an rechtmäßiger Kriegführung als Konsequenz christlicher Weltverantwortung, soweit ihr nicht das an Gottes Wort gebundene Gewissen entgegensteht: Er legt erstens dar, dass es Christen erlaubt (»liceat«), d.h., dass es ihnen im Prinzip »ohne Sünde« möglich ist, im Rahmen einer legitimen Ordnung öffentliche Ämter auszuüben. Dabei wird der rechtmäßige Gebrauch militärischer Gewalt (»iure bellare, militare«) als ein Beispiel unter anderen für die freigestellte Teilnahme an der Rechtsordnung eines Gemeinwesens genannt. Zweitens wird gesagt, dass es Christen geboten ist, den öffentlichen Amtsinhabern und Gesetzen zu folgen, wenn und soweit es auch im Einzelfall »ohne Sünde geschehen mag«. [13]
  4. Das klassische, als zwischenstaatliches Recht (ius inter gentes) verstandene Völkerrecht der Neuzeit hatte die Frage nach einem vorrechtlichen materiellen Gerechtigkeitsmaßstab für das ius ad bellum zunächst als unentscheidbar abgewiesen. Das freie Kriegführungsrecht galt jetzt als herausgehobenes Merkmal der unumschränkten gleichen Staatensouveränität, so dass prinzipiell ein »gerechter Krieg von beiden Seiten« (bellum iustum ab utraque parte) denkbar wurde. Das moderne Völkerrecht hingegen hat das (bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen entwickelte) Kriegsächtungsprogramm in ein allgemeines Gewaltverbot (Artikel 2 Ziffer 4 UN-Charta) überführt und die normativen Begrenzungsregeln der Kriegführung (ius in bello) im humanitären Kriegsvölkerrecht konsequent verrechtlicht. Von dem grundsätzlichen Verbot militärischer Gewaltanwendung gibt es im Rahmen des von der UN-Charta vorgesehenen Systems kollektiver Sicherheit nur zwei Ausnahmen: zum einen die Befugnis des Sicherheitsrats, selbst unter Kapitel VII der UN-Charta neben nicht-militärischen Sanktionen auch militärische Zwangsmaßnahmen zu beschließen; zum andern den Fall des Selbstverteidigungsrechts, das einem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe im Fall eines bewaffneten Angriffs zusteht – aber nur als ein provisorisches, subsidiäres Notrecht, solange der Sicherheitsrat nicht selbst Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens unternommen hat (Artikel 51 UN-Charta). Das Selbstverteidigungsrecht verbleibt den Staaten nur noch als Notwehr oder Nothilfe; gerade die Analogie zur innerstaatlichen Notwehr oder Nothilfe hebt aber den grundsätzlichen Deliktcharakter zwischenstaatlicher Gewalt nicht auf, sondern unterstreicht ihn.
  5. Das moderne Völkerrecht hat das Konzept des gerechten Kriegs aufgehoben. Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr. Daraus folgt aber nicht, dass auch die moralischen Prüfkriterien aufgegeben werden müssten oder dürften, die in den bellum-iustum-Lehren enthalten waren. Denn ihnen liegen Maßstäbe zugrunde, die nicht nur für den Kriegsfall Geltung beanspruchen, sondern die sich (ausgehend vom Grundgedanken individueller Notwehr oder Nothilfe) ebenso auf das Polizeirecht, die innerstaatliche Ausübung des Widerstandsrechts und einen legitimen Befreiungskampf beziehen lassen. Ihnen liegen allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zugrunde, die – unabhängig vom jeweiligen Anwendungskontext – wie folgt formuliert werden können:
    • Erlaubnisgrund: Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem »Recht des Stärkeren« nicht wehrlos bleiben.
    • Autorisierung: Zur Gegengewalt darf nur greifen, wer dazu legitimiert ist, im Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller potenziell Betroffenen zu handeln; deshalb muss der Einsatz von Gegengewalt der Herrschaft des Rechts unterworfen werden.
    • Richtige Absicht: Der Gewaltgebrauch ist nur zur Abwehr eines evidenten, gegenwärtigen Angriffs zulässig; er muss durch das Ziel begrenzt sein, die Bedingungen gewaltfreien Zusammenlebens (wieder-) herzustellen und muss über eine darauf bezogene Konzeption verfügen.
    • Äußerstes Mittel: Der Gewaltgebrauch muss als äußerstes Mittel erforderlich sein, d.h., alle wirksamen milderen Mittel der Konfliktregelung sind auszuloten. Das Kriterium des »äußersten Mittels« heißt zwar nicht notwendigerweise »zeitlich letztes«, es bedeutet aber, dass unter allen geeigneten (also wirksamen) Mitteln das jeweils gewaltärmste vorzuziehen ist.
    • Verhältnismäßigkeit der Folgen: Das durch den Erstgebrauch der Gewalt verursachte Übel darf nicht durch die Herbeiführung eines noch größeren Übels beantwortet werden; dabei sind politisch-institutionelle ebenso wie ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Folgen zu bedenken.
    • Verhältnismäßigkeit der Mittel: Das Mittel der Gewalt muss einerseits geeignet, d.h. aller Voraussicht nach hinreichend wirksam sein, um mit Aussicht auf Erfolg die Bedrohung abzuwenden oder eine Beendigung des Konflikts herbeizuführen; andererseits müssen Umfang, Dauer und Intensität der eingesetzten Mittel darauf gerichtet sein, Leid und Schaden auf das notwendige Mindestmaß zu begrenzen.
    • Unterscheidungsprinzip: An der Ausübung primärer Gewalt nicht direkt beteiligte Personen und Einrichtungen sind zu schonen.
  6. Nach herkömmlicher Auffassung der Ethik müssen für den Gebrauch von legitimer Gegengewalt alle diese Kriterien erfüllt sein, gleichgültig ob im Fall eines innerstaatlichen Widerstands, eines Befreiungskampfes oder militärischer Konflikte zwischen Staaten. Aber auch in Fällen, in denen alle Kriterien erfüllt zu sein scheinen, ist es aus der Sicht christlicher Ethik problematisch und missverständlich, von einer »Rechtfertigung« des Gewaltgebrauchs zu sprechen. In Situationen, in denen die Verantwortung für eigenes oder fremdes Leben zu einem Handeln nötigt, durch das zugleich Leben bedroht oder vernichtet wird, kann keine noch so sorgfältige Güterabwägung von dem Risiko des Schuldigwerdens befreien.
Nächstes Kapitel