Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

1.3 Bedrohungen durch Waffengewalt

1.3 Bedrohungen durch Waffengewalt

  1. Der Kontrast des Heute zur Zeit der Weltkriege und des Kalten Krieges ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass innerstaatliche Gewaltkonflikte im Verhältnis zu zwischenstaatlichen Kriegen stark zugenommen haben. Nach übereinstimmenden Befunden haben aber allgemein Zahl und Opfer zwischenstaatlicher Kriege und innerstaatlicher Gewaltkonflikte seit den 1990er Jahren abgenommen, wozu besonders auch Friedensbemühungen der UNO beigetragen haben. 1992 wurden 51 bewaffnete Konflikte gezählt (bei denen mindestens eine Kriegspartei eine Regierung war), 2005 dagegen nur noch 31. Zugleich ist allerdings eine Kriminalisierung und Kommerzialisierung von Gewaltkonflikten zu verzeichnen. Die »Privatisierung der Gewalt« wird von irregulären Kräften, »Kriegsunternehmern«, Kriegsherren (warlords) und organisierter Kriminalität getragen. Krieg wird zum Geschäft, und private Militärfirmen (private military companies) ohne erkennbare öffentliche Rechenschaftspflicht gewinnen Einfluss. Diese Entwicklung scheint in die Zeit vor der Monopolisierung militärischer Gewalt durch den Staat neuzeitlichen Typs zurückzuführen.
  2. Dem leisten die Verfügbarkeit von (Klein-) Waffen und Minen wie auch Rüstungsexport und internationaler Waffenhandel Vorschub. Daraus folgen die Vergeudung von Ressourcen unterentwickelter Länder für Rüstung statt für Minenräumung und die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. Zwar gibt es erste Erfolge hinsichtlich der Ächtung von Antipersonenminen. Wo sie nicht kartiert oder selbstzerlegbar verlegt sind, haben sie ganze Landstriche ehemaliger Bürgerkriegsgebiete zu lebensgefährlichen Regionen gemacht.
  3. In der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen liegt eine der großen Gefahren für die Menschheit. Heute ist das nukleare Nichtverbreitungsregelwerk, das lange Zeit die Wirkung eines normativen Verbots hatte, in Gefahr. Know-how, Technologie und nukleare Materialien werden verbreitet. Die etablierten Atommächte modernisieren weiterhin die nuklearen Arsenale. Neue Atomwaffenstaaten wie Indien, Pakistan, Nordkorea treten auf, teils ohne jemals Mitglied des NPT (Treaty on the Non-proliferation of Nuclear Weapons = Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen) gewesen zu sein. Andere verfügen über Atomwaffen, ohne dies offiziell zu erklären (Israel); weitere erklärten sich zur Atommacht oder treten vom Vertrag zurück (Nordkorea). Im Fall des umstrittenen iranischen Atomprogramms wird die Notwendigkeit und Problematik einer wirksamen Kontrolle des Transfers von Gütern nicht eindeutiger Verwendung (dual use) deutlich. Außerdem halten die etablierten Kernwaffenstaaten ihre im internationalen Nichtverbreitungsregelwerk (NPT) eingegangenen Verpflichtungen nur unzureichend ein.
  4. Hinzu kommt das wachsende Risiko radiologischer Waffen (»schmutziger Bomben«), welche in der Kombination aus konventionellem Sprengstoff mit radioaktiven Materialien lange nicht so hohe technische Ansprüche stellen wie nukleare Waffen, aber beim Einsatz verheerende Folgen haben können – unmittelbar, längerfristig und auch durch Massenpanik und Verunsicherung. Das Gesamtvolumen der Bestände radiologischen Materials ist Besorgnis erregend. Weltweit sind viele Lagerstätten unzureichend gesichert. Auch chemische und biologische Waffen stellen eine wachsende Bedrohung dar, da sie wie radiologische Bomben als »Massenvernichtungswaffen des armen Mannes« angesehen werden können. Gefährliche chemische Substanzen sind weit verbreitet, relativ einfach zu erwerben und waffentauglich zu machen. Weltweit gibt es etwa 6.000 industrielle Chemieanlagen, die die Möglichkeiten bieten, solche Materialien herzustellen. Ähnliches gilt für biologische Waffen, deren Herstellung noch schwerer nachzuweisen ist.
  5. Hinsichtlich des Terrorismus besteht politisch die Schwierigkeit eines gemeinsamen Verständnisses. Dessen ungeachtet ist der vom UN-Generalsekretär in seinem Bericht »In größerer Freiheit« (2005) vorgeschlagenen Definition zu folgen. Demnach ist unter Terrorismus jede Handlung zu verstehen, die »[…] zusätzlich zu den bereits nach den bestehenden Übereinkommen verbotenen Handlungen den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Zivilpersonen oder Nichtkombattanten herbeiführen soll und die darauf abzielt, die Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen«. Die Terrornetzwerke machen sich modernste Kommunikationstechnologien zunutze, verbinden sich mit dem organisierten Verbrechen und haben kaum durchdringbare Finanzierungs- und Geldwäschewege entwickelt. Doch hat der nach dem 11. September 2001 durch die US-Regierung ausgerufene »Krieg gegen den Terrorismus« die Gefahr mit sich gebracht, dass auch demokratische Staaten und ihre Organe im Kampf gegen Gruppen, die Gesetze nicht achten, rechtsstaatliche Prinzipien verletzen. Misshandlungen wie in Abu Ghraib, Inhaftierungen ohne Rechtsbasis und inhumane Haftbedingungen des Terrorismus beschuldigter Personen wie in Guantánamo, Übergriffe von Geheimdiensten oder privaten Sicherheitsdienstleistern und Geheimgefängnisse beschädigen die politische Glaubwürdigkeit und das rechtsstaatliche Anliegen und mobilisieren ihrerseits Unterstützung für Terroristen. Es stellt daher eine eigene Friedensgefährdung dar, wenn Rechtsstaaten nicht als solche handeln und nicht auch den Wurzeln des Terrorismus ihre Aufmerksamkeit widmen.
  6. Die Gründe für das Entstehen der terroristischen Netzwerke und Zellen wie auch für den Zulauf zu ihnen sind vielschichtig, haben unter anderem mit dem Verhältnis zwischen islamischer und westlicher Welt und mit dem Gefühl einer Demütigung durch den überlegenen Westen zu tun, aber insbesondere auch mit westlicher, vor allem US-amerikanischer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Reichen Nährboden für die Unterstützung, die radikale Bewegungen erhalten, bieten die genannten sozioökonomischen Probleme, vor allem die Perspektivlosigkeit junger Männer, und der Mangel an Partizipation. An vielen Stellen müssen Ursachen erforscht und behoben werden: Dazu ist ein intensiver Dialog und größeres Verständnis zwischen den Zivilisationen und Kulturen erforderlich. Diskriminierung und mangelhafte Integration von Einwanderern in westliche Länder spielen dort eine friedensbedrohende Rolle, wo in »Parallelgesellschaften« ein Spannungs- und Konfliktpotenzial von großer Brisanz entstanden ist. Der ungelöste Nahostkonflikt ist eine schwärende Wunde und trägt wegen der Ungleichbehandlung Israels in der Praxis von UN-Sicherheitsratsresolutionen immer erneut zur Radikalisierung bei. Und je stärker westliche Truppen in Ländern wie Irak und Afghanistan als Besatzungstruppen wahrgenommen werden, umso schwieriger wird das »Austrocknen« der terroristischen Netzwerke.
  7. Nicht verkannt werden dürfen in diesem Zusammenhang auch »Doppelstandards« des Westens z.B. in der Handels-, Klima- und Nuklearpolitik sowie der Widerspruch zwischen westlichem Universalitätsanspruch und schwindender westlicher Bestimmungsmacht. Gegenwärtig ist die Entwicklung neuer Gravitationszentren der Weltwirtschaft und Weltpolitik in Asien zu erleben. Mit China und Indien, beides Atommächte, streben zwei große, wachstumsstarke und bevölkerungsreiche (gegenwärtig 38 Prozent der Weltbevölkerung) Staaten nach dem Erwerb modernster Technologien und strategischer Rohstoffe wie Erdöl. Diese Situation verstärkt bei den bisher maßgeblichen Akteuren der Weltpolitik den Hang zu geopolitisch und geoökonomisch motivierter Politik. Dadurch entsteht die Gefahr neuer weltpolitisch dominanter Konfliktlagen, die militärische Implikationen haben können. Auch die zunehmende Entschlossenheit einiger westlicher Länder, eigene Interessen mit Gewalt durchzusetzen, führt zu einer Beschädigung des westlichen Ansehens.
  8. Enge Verflechtung der Weltwirtschaft, weltweit steigender Energiebedarf auch aufstrebender Länder, Rohstoffabhängigkeit entwickelter Staaten, zunehmende Sorgen um Energiesicherheit und sicheren Zugang zu fossilen Energieträgern begründen ein besonderes Interesse auch Deutschlands an internationaler Stabilität, freiem Welthandel und ungehindertem Warenaustausch. Diese können u.a. bedroht werden durch die Gefährdung von Seewegen z.B. durch Piraterie oder Regionalkonflikte, Monopolisierung von Rohstoffquellen und Verteilungsinfrastruktur sowie Störungen der globalen Kommunikation. All dies hat sicherheitspolitische Dimensionen, doch muss einer Militarisierung des Themas entgegengewirkt werden. Zugang zu strategischen Ressourcen ist nicht durch militärische Eingreifoptionen zu sichern. Vorrangig ist Kooperation zwischen Förder-, Transit- und Verbraucherländern unter Einbezug der Wirtschaft.
  9. Sog. »asymmetrische Bedrohungen« von hochtechnisierten Staaten, Versorgungseinrichtungen, Infrastrukturen, Bank- und Computernetzwerken sowie der zivilen Bevölkerung durch nicht-militärische Gegner machen die Verwundbarkeit unserer modernen Gesellschaften deutlich. Asymmetrie hat viele Aspekte: Der Gegner ist nicht greifbar, hält sich nicht an gewaltbegrenzende Regeln; Schutz ist nicht flächendeckend möglich. An der Gefährdung moderner Gesellschaften und ihrer Infrastruktur beteiligt ist auch die organisierte Kriminalität. Sie hat, weit über die Kooperation mit dem Terrorismus hinaus, gesellschaftszerstörende, rechtsstaatsschwächende und damit den Frieden bedrohende Wirkungen.
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