Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

1.5 Schwächung des Multilateralismus

  1. Aus der Summe heutiger Friedensgefährdungen werden gegenwärtig verschiedene Schlussfolgerungen gezogen. Unilateralismus und Multilateralismus bezeichnen zwei gegenläufige Strategien der Außenpolitik. Während Unilateralismus sich an den nationalen Interessen eines Staates orientiert, die aus eigener Kraft oder mit einem »Bündnis von Willigen« verfolgt werden, steht Multilateralismus für kooperatives Handeln auf der Grundlage regelgeleiteter und gleichberechtigter Beziehungen, innerhalb derer die Interessen aller Partner Berücksichtigung finden. Multilateralismus ist auch deshalb erforderlich, weil die Lösung vieler Probleme nicht oder nicht mehr von einzelnen Staaten bewältigt werden kann: Lasten können geteilt, Risiken gemeinsam eingeschätzt, Handlungen koordiniert werden. Multilaterale, vor allem universelle Regelwerke, allen voran die der Vereinten Nationen, geraten jedoch – zusätzlich zu ihren ohnehin bestehenden Defiziten – durch eine zunehmende Tendenz zum Unilateralismus unter Druck.
  2. Kritiker bemängeln, dass längst nicht alle Mitgliedsstaaten der UNO durch demokratisch legitimierte Regierungen vertreten sind, dass sich im Weltsicherheitsrat die Verhältnisse bei Gründung der UN, d.h. am Ende des Zweiten Weltkrieges, widerspiegeln und nicht die zu Beginn des 21. Jahrhunderts, und dass die Regionen der Welt, nicht zuletzt reiche Länder und Entwicklungsländer, durchaus ungleich an den Entscheidungsmechanismen teilhaben. Auch berücksichtigen die Vereinten Nationen zu wenig, dass – ungeachtet der fortdauernden Rolle der Nationalstaaten hinsichtlich Machtausübung, Verantwortung, Bestimmung der Politik – mehr und mehr andere Akteure auf der Weltbühne präsent sind: Vor allem regionale Zusammenschlüsse verschiedenen Typs, multilaterale Wirtschafts- und Handelsinstitutionen, multinationale Konzerne, Nichtregierungsorganisationen. Globale Netzwerke werden von den unterschiedlichsten Akteuren gebildet. In vielfacher Hinsicht mangelt es aber an Konsens über die politisch-praktische Bedeutung der in der Charta und in Resolutionen niedergelegten Normen und Pflichten für die Mitgliedsstaaten. Entsprechend fehlt es an Durchsetzungskraft, an Früherkennungs- und Frühwarnkapazität sowie an Instrumenten, Ressourcen und Unterstützung durch die Mitgliedsstaaten.
  3. Große Mächte neigen in besonderem Maße dazu, sich auf multilaterale Institutionen nur insoweit zu stützen, wie es eigenen Interessen dient. Sie sind nur begrenzt bereit, sich in multilaterale Regelungs- und Handlungsgeflechte zu integrieren und sind versucht, existente multilaterale Institutionen und Arrangements zu umgehen und damit zu schwächen. Ein Handeln, das dem multilateralen Geist nicht entspricht oder geradeheraus unilaterales oder willkürliches Handeln provoziert den Widerstand anderer Akteure, die in der Folge ebenfalls unilateralen Handlungsweisen zuneigen. In der Summe besteht die Gefahr, dass multilaterale Verpflichtungen nur noch eingeschränkt respektiert werden, mit der Folge von Rechtsunsicherheit und einer Gefährdung des Rechtsfriedens.
  4. Mit Sorge sind deshalb in der Folge der Terrorangriffe vom 11. September 2001 die Handlungen zu beobachten, die das multilaterale Regelwerk der UN-Charta schwächen. Bedingt durch die Unvorhersehbarkeit konkreter Bedrohungen und das potenziell verheerende Ausmaß von möglichen Terrorakten spitzt sich die Kontroverse darüber zu, ob Staaten wie den USA einseitig das Recht zustehen soll, zur Gefahrenabwehr militärische Gewalt »präventiv« [6] anzuwenden. Die große Mehrheit der Staatengemeinschaft, gestützt von Analysen des UN-Generalsekretärs sowie zahlreichen Experten, sieht in dem bestehenden Sanktionssystem nach Kapitel VII (Artikel 39, 41, 42 UN-Charta), zusammen mit dem den Staaten traditionell zustehenden Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta eine hinreichende Grundlage, um unmittelbar drohenden Gefahren, latente Bedrohungen eingeschlossen, zu begegnen. Aber Verstöße gegen multilaterale Regelwerke dürfen nicht unkommentiert hingenommen werden, weil, wer im zwischenstaatlichen Verkehr Rechtsverstöße über einen längeren Zeitraum duldet, allgemein gültige Rechtsregeln untergräbt und unter Umständen seine eigene Rechtsposition verwirkt. Einige Staaten sind daher mit Recht der fehlenden Autorisierung des Angriffs gegen den Irak im Jahr 2003 durch den UN-Sicherheitsrat entgegengetreten. Nur wer heute aktiv für die multilaterale Friedensordnung der UN-Charta eintritt, kann morgen darauf hoffen, dass deren Regeln größtmöglichen Schutz, auch zu seinen Gunsten, entfalten werden. Dies gilt auch für den gesamten Bereich des humanitären Völkerrechts (ius in bello), bei dem seit Jahren ein erschreckendes Ausmaß an unkommentierten und sanktionslos hingenommenen Rechtsverletzungen festzustellen ist. Würde stattdessen eine internationale, auf den Frieden bezogene Rechtsordnung wie die UN-Charta nachhaltig gefördert und gestärkt, verbesserte dies auch die Chancen und Möglichkeiten der Christenheit, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zum Frieden in der Welt beizutragen.

EKD-Friedensdenkschrift (pdf)

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