Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

2.2 Für den Frieden bilden und erziehen

  1. »Jeder Gottesdienst kann und soll zum Frieden bilden.« [8] Grundsätzlich kann die christliche Kirche in ihrer Gesamtheit, insbesondere in ihrer evangelischen Gestalt, als Bildungsinstitution verstanden werden, wenn mit Bildung ein nicht auf das Kognitive begrenzter Prozess des Wissenserwerbs, sondern ein ganzheitliches Geschehen der Persönlichkeitsbildung gemeint ist. Dieses Bildungsverständnis richtet sich an der Einsicht aus, dass der Mensch zu Gottes Ebenbild bestimmt ist, meint daher wesentlich »Herzensbildung« und schließt auch die Bildung und Erziehung zum Frieden ein. Die Kirchen haben außer dem Gottesdienst im Lauf der Jahrhunderte eine große Zahl von Bildungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aller Altersstufen aufgebaut. Dabei geht es immer sowohl um Bildung im genannten grundlegenden Sinn als auch um die konkrete erzieherische Vermittlung von Werten und Normen, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben. Herzensbildung, ethische Orientierung und die praktische Arbeit für den Frieden gehören zueinander und können nicht voneinander getrennt werden.
  2. Bildung zum Frieden hat theoretische und praktische Aspekte. Die Einsicht in die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Praxis und Theorie einerseits sowie von Pädagogik, Politik und der Lehre vom Frieden (Irenik) andererseits findet sich in der evangelischen Theologie spätestens bei Johann Amos Comenius (1592– 1670). Von ihm kann man u.a. lernen, dass konkrete Programme 8. Frieden wahren, fördern und erneuern, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei der EKD, Gütersloh 1981, S.66. der Erziehung und Bildung zum Frieden von einem realistischen Menschenbild ausgehen müssen, wenn sie nachhaltig Wirkung erzielen wollen. Ein solches Menschenbild wird mindestens drei Elemente enthalten: Zum einen versteht es den Menschen als Geschöpf Gottes. Seine Geschöpflichkeit verbindet ihn mit allen anderen Kreaturen und ist die Voraussetzung dafür, die Beziehung zu seiner Umwelt einfühlsam und solidarisch gestalten zu können. Zum anderen ist der Mensch ein verantwortliches Geschöpf. Wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, existiert er faktisch im Widerspruch zu Gott und ist zu abgrundtiefer Bösartigkeit und Grausamkeit fähig. Deshalb ist die Überwindung von Gewalt eine überlebensnotwendige Aufgabe. Schließlich ist der Mensch zum Ebenbild Gottes bestimmt. Darauf beruht die Möglichkeit einer wirksamen Eindämmung der Macht der Sünde sowie von Bildung und Erziehung zum Frieden als einer notwendigen Bedingung der Überwindung von Gewalt. Weil Menschen zu Ebenbildern Gottes bestimmt sind, können sie in seinem Sinne liebevoll, vergebungs- und versöhnungsbereit mit anderen Menschen umgehen.
  3. Bildung kann im menschlichen Leben gar nicht früh genug beginnen. Ein christliches Bildungsverständnis zielt deshalb auf eine Bildung zu Frieden und Gerechtigkeit von Anfang an. Daher muss bereits die christliche Elementarbildung, die zu weiten Teilen in Kindertagesstätten geschieht, wesentlich Friedenserziehung sein. Die Gliedkirchen der EKD tragen mit ihren mehr als 8.000 Kindertagesstätten zur Elementarbildung bei, beide großen Kirchen zusammen sind Träger von fast 40 Prozent aller Kindertagesstätten in der Bundesrepublik Deutschland [9]. In der praktischen Arbeit dieser Einrichtungen kommt es zum einen darauf an, die Wurzeln von Frieden und Gerechtigkeit in der christlichen Religion, etwa am Beispiel Jesu, aufzuzeigen und den Kindern verständlich zu machen. Zum anderen muss das christliche Friedensverständnis in konkreten Alltagssituationen eingeübt werden. Sodann ist es wichtig, die in christlichen Kindertagesstätten auftretenden sozialen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Differenzen zwischen den Kindern wahrzunehmen, ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen zu machen. Dies schließt die Kenntnis der eigenen Wurzeln, Respekt vor dem Anderen und Fremden und die Entwicklung einer fruchtbaren und fairen Streitkultur ein. Erziehung und Bildung zum Frieden ist eine lebenslange Aufgabe.
  4. Am menschlichen Lebenslauf orientiert nimmt die evangelische Kirche ihre Bildungsverantwortung auf unterschiedliche Weise und durch ganz unterschiedliche Typen von Einrichtungen wahr. Außer den Kindertagesstätten sind kirchliche Schulen, die Erteilung von Religionsunterricht im öffentlichen Schulsystem, der Kindergottesdienst sowie die Kinder-, Jugend- und Konfirmandenarbeit von besonderer Bedeutung. Jugendliche und Erwachsene werden durch den Deutschen Evangelischen Kirchentag, die Angebote der Jugendarbeit und/oder der Evangelischen Erwachsenenbildung sowie durch die Evangelischen Akademien erreicht. Kirchliche Publizistik und die Präsenz der Kirche in den Medien einschließlich des Internets leisten ihren spezifischen Beitrag. Die thematisch zuständigen Kammern und Kommissionen des Rates bearbeiten regelmäßig Fragen der Friedensethik und Friedenspolitik, vor allem die Kammer für Öffentliche Verantwortung. Als Publikationsmedien dienen die Denkschriften der EKD. Die sog. »Ostdenkschrift« (1965), »Friedensaufgaben der Deutschen« (1968), »Der Friedensdienst der Christen« (1969), »Frieden wahren, fördern und erneuern« (1981), »Schritte auf dem Weg des Friedens: Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik« (1994/2001) und »Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens« (2002) und viele weitere Texte sind von einer großen inhaltlichen Kontinuität bestimmt, in deren Zentrum ein durch Versöhnung, Wahrheit und Gerechtigkeit bestimmter Friedensgedanke steht. Praktisch ausgerichtete Ausbildungsangebote werden von den christlichen Friedensdiensten unterhalten, die in der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) versammelt sind. Dabei kann es sich um einfache und eher kurzfristig angelegte Trainings im Bereich Gewaltprävention und -überwindung oder aber um langwierige und komplexe Ausbildungen für Tätigkeiten in Friedensfach- und Entwicklungsdiensten handeln. Neben der AGDF ist ein wichtiger Akteur in diesem Bereich der Evangelische Entwicklungsdienst (EED), dessen vielfältige Aktivitäten zeigen, dass zivile Friedensförderung und Entwicklungshilfe nicht nur benachbart sind, sondern einander gegenseitig stützen.
  5. In Comenius’ Lebensmotto: »Alles fließe von selbst – Gewalt sei ferne den Dingen« ist ein pädagogisches Programm enthalten, das in mancher Hinsicht Parallelen zur aktuellen Ökumenischen »Dekade zur Überwindung von Gewalt« (Decade to overcome violence) aufweist, die vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) im Februar 2001 in Berlin eröffnet wurde. Sie steht bewusst in zeitlicher und inhaltlicher Entsprechung zu der für den gleichen Zeitraum angesetzten UN-Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit für die Kinder der Welt. Wenn die christlichen Kirchen fordern, Gewalt zu überwinden, dann wenden sie sich nicht gegen Gewalt im Sinne von power (Macht allgemein), force (durchsetzungsfähige, auch bewaffnete Macht) oder authority (legitime Autorität). Die Kirchen wenden sich vielmehr gegen Gewalt als violence. Das heißt, sie wollen verletzende, zerstörerische, lebensbedrohliche und von ihrem Charakter her zur Eskalation neigende Formen gewalttätigen Handelns überwinden oder zumindest wirksam begrenzen. Die Dekade bietet christlichen Kirchen, Gruppen und Einzelpersonen ein strukturelles Dach und einen organisatorischen Raum, in dem diese agieren und konstruktive Beiträge zur Gewaltüberwindung leisten können. Die friedenspolitischen und friedenspädagogischen Aspekte der Dekade enthalten eine umfassende »Querschnittsaufgabe« für das kirchliche Handeln. Dies verlangt eine sorgfältige Koordinierung der zahlreichen vorhandenen Ansätze, Programme und Initiativen sowie Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.
  6. Am Beispiel der Dekade zur Überwindung der Gewalt wird deutlich, dass Bildung und Erziehung für den Frieden eine Aufgabe ist, die auf ökumenischer Ebene wahrgenommen werden muss. Die EKD und ihre Mitgliedskirchen pflegen durch ihr weltweites Netz ökumenischer Verbundenheit Kontakte zu Kirchen in vielen anderen Völkern und Nationen der globalisierten Welt. Sie wirken de-eskalierend, indem sie zum Verständnis füreinander und zur Kommunikation untereinander und damit zur Versöhnung beitragen. Konziliare Verbundenheit der Kirchen meint in diesem Kontext immer auch die Präsenz einer weltweiten Lerngemeinschaft, die sich im Engagement zahlreicher ökumenischer Gruppen, Kreise und Initiativen vor Ort konkretisiert. Die spirituelle Verwurzelung ihres Engagements stärkt die Kirchen in ihrer weltweiten Friedensarbeit. Damit werden sie auch zu wichtigen Partnern für Staaten, zivilgesellschaftliche Gruppen und Nichtregierungsorganisationen, die sich ebenfalls für den Frieden in der Welt einsetzen.
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