Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

2.5 Vom gerechten Frieden her denken

  1. Für die christliche Ethik stehen Friede und Gerechtigkeit in unauflöslichem Zusammenhang. Spätestens seit der Ökumenischen Versammlung der Kirchen, die 1988 in der DDR stattfand, gilt der »gerechte Friede« als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik. Die im sog. »Konziliaren Prozess« für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entwickelte Grundorientierung am »gerechten Frieden« korrigierte das während des Ost-West-Konflikts und unter den Bedingungen des nuklearen Abschreckungssystems in der nördlichen Hemisphäre vielfach vorherrschende Verständnis von Friedenspolitik als abrüstungsorientierter Kriegsverhütung, indem sie einerseits die Forderung des Südens nach globaler Verteilungsgerechtigkeit, andererseits den Schutz der Menschenrechte mit der Friedensaufgabe verband. Das Wort der katholischen deutschen Bischöfe von 2000 steht programmatisch unter dem Titel »Gerechter Friede« und profiliert ihn als kirchliches Leitbild. Auch die EKD hat in den Orientierungspunkten für Friedensethik und Friedenspolitik »Schritte auf dem Weg des Friedens« von 1994 und in der Zwischenbilanz »Friedensethik in der Bewährung« von 2001 diesen Begriff aufgenommen, allerdings bislang nicht systematisch entfaltet.

2.5.1 Die Verheißung von Frieden und Gerechtigkeit

  1. Die Einheit von Frieden und Gerechtigkeit ist in den biblischen Überlieferungen Gegenstand göttlicher Verheißung. Die Psalmen sprechen in überschwänglichen Worten davon, dass »Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (Ps 85,11). Die messianische Herrschaft wird dadurch charakterisiert, dass unter ihr »die Berge Frieden bringen und die Hügel Gerechtigkeit«, den Elenden Recht geschaffen und den Armen geholfen wird (Ps 72,3; vgl. Jes 9,1ff.). Der prophetischen Überlieferung verdankt die Christenheit die Vision einer friedensstiftenden, Konflikte schlichtenden Weisung Gottes, die die Bereithaltung von Waffen überflüssig macht und neue Wege des Zusammenlebens der Völker eröffnet (Jes 2,2–4; Mi 4,1–5). Jes 32,17 heißt es: »Die Frucht der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit auf immer.« Und im Neuen Testament definieren »Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist« dezidiert das Reich Gottes (Röm 14,17). Die biblische Hoffnung auf eine Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden stützt sich jedoch nicht auf einen geschichtsphilosophisch begründeten Fortschrittsoptimismus. Gerade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben neue Bürgerkriege und internationaler Terrorismus die Diagnose eines durch den Sieg von Demokratie und Freiheit innerweltlich heraufgeführten »Endes der Geschichte« widerlegt. Dem biblischen Zeugnis gemäß ist die Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden Kennzeichen des Reiches Gottes, nicht einer politischen Ordnung. Inwiefern kann in dieser Perspektive ein »gerechter Friede« dennoch zum ethischen Leitbild politischen Handelns werden?
  2. Für den christlichen Glauben gründet das Ethos der Friedensstifter (Mt 5,9) in der von Gott gewährten Versöhnung der Menschen mit ihm und untereinander; es hat sein Ziel im kommenden Reich Gottes. Ursprung und Vollendung des Friedens sind somit für menschliches Handeln unverfügbar, aber keineswegs bedeutungslos. Die Bedeutung der Einheit von Friede und Gerechtigkeit als Inhalt göttlicher Verheißung für menschliche Friedenspraxis liegt vielmehr darin, dass sie das gängige Verständnis von Frieden von Grund auf neu orientiert: Friede im Sinn der biblischen Tradition bezeichnet eine umfassende Wohlordnung, ein intaktes Verhältnis der Menschen untereinander und zur Gemeinschaft, zu sich selbst, zur Mitwelt und zu Gott, das allem menschlichen Handeln vorausliegt und nicht erst von ihm hervorgebracht wird. Die biblische Rede vom Frieden beschränkt sich nicht auf die Distanzierung von kriegerischer Gewalt, auch wenn diese zu ihren Konsequenzen gehört. Das auf den Gegensatz zum Krieg fixierte Verständnis des Friedens war jahrhundertelang verbunden mit der Maxime si vis pacem para bellum (»wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor«). Sie korrespondiert ursprünglich einem Konzept des Friedens als zentralistischer Herrschaftsordnung, die innerhalb ihrer Grenzen Sicherheit garantiert. Auf dem Weg so verstandener Sicherheit ist jedoch der verheißene, dauerhafte Friede nicht zu erreichen. Da er stets mehr ist als die Abwesenheit oder Beendigung von Krieg, kann Krieg niemals ein zureichendes Mittel zum Frieden sein. Vom gerechten Frieden her denken heißt deshalb, dass die para-bellum-Maxime ersetzt werden muss durch den Grundsatz si vis pacem para pacem (»wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor«).
  3. Das biblische Friedensverständnis enthält durch seinen unauflöslichen Bezug zur Gerechtigkeit einen Gesichtspunkt zur Unterscheidung von »wahrem« und »faulem« Frieden, der schon von den Propheten des Alten Testaments geltend gemacht wurde (Jer 6,13f.). Im Anschluss an Jes 32,17 ist wahrer Friede traditionell als »Werk der Gerechtigkeit« (opus iustitiae pax) bezeichnet worden. Allerdings ist im biblischen Kontext »Gerechtigkeit« nicht als ein verfügbares Mittel zur Herstellung des Friedens aufzufassen. Gerechtigkeit und Friede stehen nicht in einem einfachen Mittel-Zweck-Verhältnis zueinander. In Jak 3,18 heißt es präzisierend: »Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.« Der Friede als »Frucht« oder »Werk« der Gerechtigkeit ist nicht äußerliches Resultat eines davon unabhängigen Handelns, vielmehr kann das friedensstiftende gerechte Handeln seinerseits nur im Frieden geschehen und aus ihm hervorgehen. In einer bekannten Formulierung gesagt: Schon der Weg ist das Ziel – genauer: Die Mittel zum Frieden müssen bereits durch den Zweck qualifiziert, die Methoden müssen dem Ziel angemessen sein.
  4. Friede und Gerechtigkeit interpretieren sich wechselseitig, weil in den biblischen Schriften auch die Gerechtigkeit mehr ist als eine abstrakte Norm oder ein bloßes Sollen. Im Alten Testament bezeichnet Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen Menschen die Gemeinschaftstreue, in der die Geschöpfe dem Bund entsprechen, den Gott in seiner Gemeinschaftstreue mit ihnen geschlossen hat. Gerechtigkeit bezeichnet hier nicht einen Standpunkt bloßer Neutralität und Unparteilichkeit. Sie ist Kategorie einer sozialen Praxis der Solidarität, die sich – der rettenden Macht Gottes entsprechend – vorrangig den Schwachen und Benachteiligten zuwendet. Die »bessere Gerechtigkeit«, von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5,20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten) und sie berücksichtigt zugleich die relevante Verschiedenheit der Einzelnen in ihren Lebensbedingungen und -äußerungen. Gerechtigkeit kommt hier als Tugend in den Blick, als eine personale Qualität und Haltung, die allerdings nicht aus sich heraus besteht, sondern sich einer göttlichen Zusage verdankt: als nicht-selbstgerechte Gerechtigkeit (Röm 3,28). Eine solche nichtselbstgerechte Gerechtigkeit ist darauf bedacht, auch berechtigte Ansprüche und Interessen des anderen zu berücksichtigen.

2.5.2 Dimensionen des gerechten Friedens

  1. Die Praxis des gerechten Friedens, die als Merkmal der weltweiten Gemeinschaft von Christinnen und Christen betrachtet werden kann, wird zwar in ihrer spirituellen Tiefenschicht nicht von allen Menschen geteilt und kann keine praktische Friedenspolitik ersetzen. Sie konvergiert aber mit einem mehrdimensionalen Konzept des Friedens, das sich als sozialethisches Leitbild in die politische Friedensaufgabe einbringen lässt:
  2. Gerechter Friede dient menschlicher Existenzerhaltung und Existenzentfaltung; er muss deshalb immer und in jeder seiner Dimensionen auf der Achtung der gleichen menschlichen Würde aufbauen. Nach christlichem Verständnis besteht die Menschenwürde in der Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit, d.h. zu einer Gemeinschaft mit Gott, durch die der Mensch zugleich als Repräsentant Gottes und als der Verantwortung fähiges Subjekt ausgezeichnet wird. Auch wer die Menschenwürde auf andere Weise begründet, kann der Folgerung zustimmen, dass ein menschliches Leben in Würde als Minimum den Schutz vor Demütigung, d.h. der sozialen Bedingungen der Selbstachtung erfordert. Die Achtung der Menschenwürde verlangt darum über die Respektierung des Rechts auf Leben hinaus jedenfalls den Schutz jedes Menschen vor willkürlicher Ungleichbehandlung und Diskriminierung, die Achtung seiner Subjektstellung, die Gewährleistung des materiellen und sozialen Existenzminimums sowie die Ermöglichung des Aufbaus selbstbestimmter Lebensformen, die immer auch Chancen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffnen sollten.
  3. Die biblische Sicht stützt ein prozessuales Konzept des Friedens. Friede ist kein Zustand (weder der bloßen Abwesenheit von Krieg, noch der Stillstellung aller Konflikte), sondern ein gesellschaftlicher Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit – letztere jetzt verstanden als politische und soziale Gerechtigkeit, d.h. als normatives Prinzip gesellschaftlicher Institutionen. Friedensfördernde Prozesse sind dadurch charakterisiert, dass sie in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie auf den Abbau von Not gerichtet sind. Friede erschöpft sich nicht in der Abwesenheit von Gewalt, sondern hat ein Zusammenleben in Gerechtigkeit zum Ziel. In diesem Sinn bezeichnet ein gerechter Friede die Zielperspektive politischer Ethik. Auf dem Weg zu diesem Ziel sind Schritte, die dem Frieden dienen ebenso wichtig wie solche, die Gerechtigkeit schaffen. Unangemessen ist es jedoch, wenn Forderungen nach Frieden und nach Gerechtigkeit sich gegenseitig blockieren. Wo dies der Fall ist, muss danach gesucht werden, wie durch einseitiges Entgegenkommen und andere vertrauensbildende Maßnahmen solche Blockaden überwunden werden können, so dass Schritte auf dem Weg des Friedens und Schritte auf dem Weg der Gerechtigkeit sich gegenseitig ermöglichen, ermutigen und fördern.
  4. Ein Grundelement eines gerechten Friedens ist Vermeidung von und Schutz vor Gewalt. Innerstaatlich ist die Entprivatisierung der Gewalt durch das staatliche Gewaltmonopol eine wesentliche zivilisatorische Errungenschaft der Neuzeit. Wo das staatliche Gewaltmonopol zusammenbricht und die Bewaffnung nichtstaatlicher Akteure eine Chance bekommt, ist in den neuen Bürgerkriegen ein Rückfall in einen vorstaatlichen Zustand zu erleben. Zwischenstaatlich ist dieser quasianarchische Zustand trotz des prinzipiellen Gewaltverbots der UN-Charta (Artikel 2 Ziffer 4) in der politischen Realität noch nicht überwunden.
  5. Der gerechte Friede umfasst nicht nur das faktische Überleben, sondern eine bestimmte Qualität menschlichen Lebens, ein Leben in Würde; er erfordert deshalb die Förderung der Freiheit. Das christliche Verständnis des Menschen favorisiert ein positives Verständnis der Freiheit zur Kommunikation und Kooperation. Friede in Freiheit ist die Chance, ein gegen Gewalt und Unterdrückung geschütztes Zusammenleben zu führen, in dem Menschen von ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten kraft eigener Entscheidung gemeinschaftlichen Gebrauch machen können. Wenn sie nicht mit dem Schutz der Freiheit einherginge, bliebe auch die innerstaatliche Monopolisierung von Gewalt Ausdruck willkürlicher Übermacht und bloßer Herrschaft des Stärkeren. Innerstaatlich ist es in demokratischen Rechtsstaaten gelungen, das Gewaltmonopol rechtlich einzuhegen, durch Gewaltenteilung zu kontrollieren, durch den Schutz von Grundfreiheiten zu begrenzen und für demokratische Beteiligung zu öffnen. In Analogie dazu besteht auch auf zwischenstaatlicher Ebene die Aufgabe darin, das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen. Eine der rechtsstaatlichen Ordnung des einzelnen Staats analoge Befolgung der Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen muss die Garantie der Menschenrechte einschließen.
  6. In der Menschheitsgeschichte war Not immer wieder ein auslösender Faktor gewaltsamer Auseinandersetzungen. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen ist eine der wichtigsten Ursachen kriegerischer Konflikte. Der Abbau von Not erfordert zweierlei: Zum einen setzt er die Bewahrung der für menschliches Leben natürlichen Ressourcen voraus; zum anderen müssen Ungerechtigkeiten in der Verteilung materieller Güter und des Zugangs zu ihnen verringert werden. Wie der innere Friede in einer Gesellschaft ohne eine Politik des aktiven sozialen Ausgleichs gefährdet ist, so hängt auch der Weltfriede von der Korrektur sozio-ökonomischer Asymmetrien ab.
  7. Gerechter Friede auf der Basis der gleichen personalen Würde aller Menschen ist ohne die Anerkennung kultureller Verschiedenheit nicht tragfähig. Das gilt ganz besonders in einer Welt, in der durch vielfältige transnationale Beziehungen und Medien das Wissen um die Lebensbedingungen der je anderen wächst und für das Zusammenleben von unmittelbarer Bedeutung ist: Anerkennung ermöglicht es, ein stabiles, in sich ruhendes Selbstwertgefühl auszubilden. Wenn die Sorge für das Selbst mit der Anteilnahme am Leben anderer zusammenfindet, können identitätsbestimmte Konflikte konstruktiv bewältigt werden. Unter den heutigen Bedingungen gesellschaftlicher und kultureller Pluralität sind Bemühungen um eine gleichberechtigte Koexistenz unabdingbar. Hierzu bedarf es der Entwicklung gemeinsam anerkannter Regeln des Dialogs und einer konstruktiven Konfliktkultur.
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