Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

2.3 Die Gewissen schützen und beraten

  1. In reformatorischer Tradition erkennt die evangelische Kirche dem Gewissen des Einzelnen eine zentrale Bedeutung für die christliche Lehre und das christliche Leben und damit für die ethische Verantwortung und Urteilsbildung zu [10]. Seit jeher gilt dies in besonderer Weise für die Frage der Beteiligung am Militärdienst – schließt dieser doch die Bereitschaft zum Verletzen und Töten von Menschen ein. Die Gewissen zu beraten, zu schärfen und für ihren Schutz einzutreten, gehört zu den elementaren friedensethischen Aufgaben der Kirche.
  2. Im Gewissen wird sich der Mensch der sittlichen Qualität seines eigenen Handelns oder Unterlassens – es sei gut oder böse – bewusst und zwar auf unhintergehbar individuelle, ihn in seiner persönlichen Existenz betreffenden Weise. In der Gewissenserfahrung, durch die »Gedanken, die sich untereinander verklagen oder auch entschuldigen« (Röm 2,15), wird der Einzelne angesichts einer begangenen oder drohenden Verfehlung dessen gewahr, dass er zur Einheit mit sich selbst bestimmt ist. Das Gewissen ist Hüter der persönlichen Identität und Integrität. Es ist zwar keine irrtumsfreie Instanz, auch dann nicht, wenn Menschen sich zu gemeinsamem gewissensbestimmten Handeln verbinden. Aber gegen das eigene Gewissen zu handeln ist immer verkehrt, weil es niemals gut sein kann, im Widerspruch zu seinen eigenen ethischen Überzeugungen zu handeln. Deshalb darf niemand zu gewissenswidrigem Tun gezwungen werden; auch sollte niemand absichtlich in eine Lage gebracht werden, die ihn voraussehbar in schwere Gewissenskonflikte versetzt (vgl. 1 Kor 10). Die unbedingte Achtung des Gewissens, auch gegensätzlicher Gewissensentscheidungen, ist eine unmittelbare Konsequenz der unantastbaren Würde jedes Einzelnen und Grundbedingung jedes friedlichen und toleranten Zusammenlebens; das heißt freilich nicht, dass alle Handlungen geduldet werden müssten, die Menschen unter Berufung auf ihr Gewissen planen oder durchführen. Die Gewissensfreiheit ist ein Schutz- und Abwehrrecht, keine Handlungslegitimation.
  3. Der Respekt vor dem Gewissen des Einzelnen ist eine Mindestbedingung für die Legitimität jeder kollektiven Ordnung. Auch der Staat muss das Gewissen des Einzelnen achten, schützen und stärken. Er tut dies durch die Gewährleistung der Gewissensfreiheit als Menschenrecht. Gewissensfreiheit gehört zum Grundbestand jedes die Menschenrechte achtenden Staates und zwar sowohl um der Menschen wie auch um des Staates selbst willen. Die im Gewissen verankerte freie Zustimmung seiner Bürger ist Existenzbedingung des demokratischen Rechtsstaates, sie ist fundierende Voraussetzung der demokratischen Rechtsordnung. Das Grundgesetz erklärt in Artikel 4 Absatz 1 die Freiheit des Gewissens (zusammen mit der Freiheit des Glaubens) ohne Gesetzesvorbehalt für unverletzlich und unverwirkbar.
  4. Für Christen bemisst sich die im Gewissen erfahrene (oder aber bedrohte bzw. verfehlte) Identität an dem durch das Evangelium eröffneten neuen Selbstverständnis. Der Zuspruch des Evangeliums befreit gleichermaßen von skrupulöser Selbstanklage wie von überheblicher Selbstgerechtigkeit. Nach reformatorischer Einsicht ist der Glaube, der diesen Zuspruch für das eigene Leben vertrauensvoll gelten lässt, Ursprung und Quelle der Freiheit des Gewissens. Letztlich bestimmend für den im Gewissen erfahrenen Gegensatz von Gut und Böse ist für Christen die Bindung an Gottes Wort in einer konkreten Situation. Auch das Urteil des im Glauben befreiten Gewissens bleibt allerdings fehlbar.
  5. Die christliche Freiheit des Gewissens bewährt sich in der aktiven Liebe zum Nächsten und im Dienst am Mitmenschen. Das Eintreten und die Verantwortung für den weltlichen Frieden gehört zu den herausgehobenen Konsequenzen dieses dem gemeinsamen Zusammenleben gewidmeten Dienstes. Mit der in der Bergpredigt Jesu überlieferten Seligpreisung der Friedensstifter, der pacifici (Mt 5,9), verbindet sich für alle Christen der Auftrag, nach Kräften den Frieden zu fördern und auszubreiten, gleichviel welche Rolle sie innehaben und an welchem Ort sie sich in Staat und Gesellschaft engagieren. Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38ff.) und vorrangig von der Option für die Gewaltfreiheit bestimmt. In einer nach wie vor friedlosen, unerlösten Welt kann der Dienst am Nächsten aber auch die Notwendigkeit einschließen, den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,1–7). Beide Wege, nicht nur der Waffenverzicht, sondern ebenso der Militärdienst setzen im Gewissen und voreinander verantwortete Entscheidungen voraus.
  6. Diejenigen, die für sich selbst den Gebrauch von Waffengewalt ablehnen, machen durch ihre Haltung sichtbar, welcher Zustand im Interesse eines dauerhaften Friedens künftig der allgemein herrschende sein soll: eine internationale Rechtsordnung, in der der Verzicht auf Selbsthilfe und Selbstjustiz allgemein geworden ist und niemand mehr Richter in eigener Sache sein muss. Sie sollten deshalb anerkennen, dass es andere gibt, die im Dienst dieser Ordnung dafür sorgen, dass nicht Situationen eintreten, in denen das Recht ohne Durchsetzungskraft ist. Außerdem sollten die Kriegsdienstverweigerer ihrem Engagement für den Frieden durch Übernahme eines zivilen Dienstes Glaubwürdigkeit und Nachdruck verleihen.
  7. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung folgt aus der allgemeinen Gewissensfreiheit. Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden (Artikel 4 Absatz 3 GG). Die evangelische Kirche betrachtet die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Menschenrecht und setzt sich dafür ein, es auch im Bereich der Europäischen Union verbindlich zu gewährleisten. Als Menschen- und Grundrecht besitzt die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Vorrang auch gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsdurchsetzung. Dies gilt unabhängig von der Wehrform. Es besteht ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung nicht erst im Kriegsfall, sondern schon bei der Heranziehung zu militärischer Ausbildung. Dabei ist es legitim, wenn der Staat eine alternative Dienstpflicht vorsieht oder freiwillige zivile Friedensdienste als Äquivalent anerkennt. Der gesetzliche Schutz der gewissensbestimmten Kriegsdienstverweigerung ist nicht auf die Position des prinzipiellen Pazifismus zu beschränken; er muss auch die situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung umfassen, die sich bei der Gewissensbildung an ethischen Kriterien rechtserhaltenden Gewaltgebrauchs, an den Regeln des Völker- und Verfassungsrechts oder auch an politischen Überzeugungen orientiert.
  8. Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerer (EAK) innerhalb der EKD ist ein kirchlicher Dienst für Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende sowie diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, Militärdienst zu leisten oder den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Die EAK steht jedem zur Seite, der eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat, informiert über Fragen zu Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst und hilft Kriegsdienstverweigerern (unabhängig von ihrer Religion), ihr Grundrecht nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes wahrzunehmen. Die friedensethischen Kompetenzen von EAK und AGDF ergänzen einander in sinnvoller Weise. Die Zivildienstseelsorge bietet Zivildienstleistenden unterschiedliche Veranstaltungen und Informationsmaterialien an. Auch Personen, die aus christlicher Überzeugung in Freiwilligen- oder Fachdiensten für den Frieden tätig sind, bedürfen einer verlässlichen seelsorglichen Begleitung; hierfür gibt es bislang noch keine institutionalisierten Angebote seitens der evangelischen Kirche.
  9. Auch von allen, die bereit sind, sich an der Ausübung von Waffengewalt zu beteiligen, ist ein hohes Maß an ethischem Verantwortungsbewusstsein gefordert. Sie werden ihre Entscheidung von vornherein nur verantworten können mit dem Ziel, menschliches Leben zu schützen und internationales Recht zu wahren. Gleichzeitig sollten sie sich immer dessen bewusst bleiben und von denen, die für Gewaltfreiheit eintreten, daran erinnern lassen, dass die Möglichkeiten militärischer Mittel begrenzt sind, dass ihr Einsatz ohnehin nur als äußerstes Mittel in Frage kommt, und dass mit Waffengewalt Friede unter bestimmten Umständen vielleicht gesichert, aber nicht geschaffen werden kann. Militärdienst ist eine staatsbürgerliche Pflicht, die dem Menschenrecht auf Gewissensfreiheit ethisch nicht gleichrangig ist.
  10. In Übereinstimmung mit dem OSZE-Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit vom Dezember 1994 ist den Angehörigen der Streitkräfte durch Ausbildung und Führung auch weiterhin mit Nachdruck bewusst zu machen, dass sie verfassungs- und völkerrechtlich für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind und die Verantwortung der Vorgesetzten die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung entbindet. Allen Soldaten steht unabhängig von ihrem Dienstgrad ein durch Artikel 4 Absatz 1 GG grundrechtlich geschütztes Befehlsverweigerungsrecht zu, das nicht gegen die von den Streitkräften definierten Anforderungen abgewogen werden darf [11]. Befehlsbefugnis und Gehorsamspflicht sind durch das Soldatengesetz eindeutig begrenzt. Die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen und ihre Transformation für Aufgaben »internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung« machen es erforderlich, den Grundsätzen der Inneren Führung auch weiterhin hohes Gewicht zu geben.
  11. Die evangelische Kirche begleitet die Soldatinnen und Soldaten in ihrem schwierigen Dienst. Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr erfolgt auf der Grundlage des Vertrages der Bundesrepublik Deutschland mit der EKD zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge. Dieser kirchliche Arbeitsbereich dient der Ermöglichung der Verkündigung in Wort und Sakrament, d.h. der freien Religionsausübung unter den besonderen organisatorischen und praktischen Bedingungen, die für die Angehörigen der Streitkräfte kennzeichnend sind. Zu den zentralen Aufgaben evangelischer Soldatenseelsorge gehört die Schärfung und Beratung der Gewissen im Sinn der friedensethischen Urteilsbildung der Kirche. Dem dienen Einzelseelsorge und Rüstzeiten ebenso wie der von Militärgeistlichen wahrgenommene ›Lebenskundliche Unterricht‹. Darüber hinaus versteht sich die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr als Gruppenseelsorge, die sich bei ihrer Verantwortung für die Bundeswehr im Ganzen vom Gedanken der kritischen Solidarität leiten lässt. Das bedeutet, dass die evangelische Soldatenseelsorge einerseits eine an Recht und Gesetz gebundene militärische Schutzaufgabe als im Grundsatz ethisch verantwortbar bejaht, sich andererseits aber keinesfalls unkritisch mit konkreten sicherheitspolitischen Vorgaben, militärstrategischen Doktrinen oder gruppenspezifischen Mentalitäten identifizieren darf. Mit den stark gestiegenen Belastungen, die Auslandseinsätze der Bundeswehr für die Soldatinnen und Soldaten mit sich bringen, sind auch die Anforderungen an die seelsorgliche wie ethische Kompetenz und Sensibilität der sie begleitenden Militärgeistlichen erheblich gewachsen.
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