Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

4.2 Europas Friedensverantwortung wahrnehmen

  1. Nach Jahrhunderten kriegerischer Gewalt im Innern und kolonialer Expansion nach außen ist in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – zunächst im Westen – ein großes Friedensprojekt in Gang gekommen, das von den Menschenrechten und Normen der UNO inspiriert und von stetig dichter werdenden ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Austauschprozessen getragen wird. Welche positive friedenspolitische Bedeutung es hat, wenn Menschen in vielfältige, rechtsbasierte Kooperationsbeziehungen miteinander kommen, zeigt Europa. Die völkerrechtlichen Prinzipien der Kooperation und der Verständigung in Europa und auf der Ebene der Weltgemeinschaft sind besonders nachhaltig ausgebaut worden.

4.2.1 Organisationen auf regionaler Ebene

  1. Die OSZE als eine von den Vereinten Nationen anerkannte Regional-Organisation nach Kapitel VIII der UN-Charta übernimmt wichtige Funktionen etwa im Hinblick auf die Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, Frühwarnung, Wahlbeobachtung, den Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen oder auch den Aufbau von Polizeikomponenten. Die von der OSZE angebotene Kooperation, speziell im Bereich des Krisenmanagements, erscheint grundsätzlich geeignet, stabilisierend zu wirken. Auch die OSZE muss allerdings mit einem vergleichsweise niedrigen Budget und einer relativ geringen Zahl von Mitarbeitern auskommen. Die besonderen Stärken der OSZE im Zusammenwirken mit anderen Organisationen sollten angemessene Beachtung finden und ausgebaut werden.
  2. Die NATO versteht sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr als reines Verteidigungsbündnis, sondern als eine Sicherheitsorganisation, die neben der Aufrechterhaltung einer Sicherheitsgarantie für ihre Mitglieder den Stabilitätsraum Europa durch Kooperation und Aufnahme von Neumitgliedern ausweitete. Mit ihren Truppen, ihrer Kommandostruktur und ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in multinationaler militärischer Zusammenarbeit hält sie sich darüber hinaus für Maßnahmen internationaler Krisenbewältigung und Friedenssicherung bereit. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Wegfall der alle Mitglieder einigenden Bedrohung ist allerdings unter ihnen Konsens über Rolle, Strategien und konkrete Operationen des Bündnisses schwieriger geworden. Auffassungsunterschiede müssen offener ausgetragen werden und sollten nicht der Bündnistreue untergeordnet werden. In den Einsatzgebieten, z.B. in Afghanistan, ist immer deutlicher erkennbar, dass militärischer Einsatz allein nicht Frieden, wirtschaftlichen Aufschwung und demokratisches Zusammenleben bewirkt, dass die Herstellung eines »sicheren Umfelds« und der Wiederaufbau gleichzeitig und nicht nacheinander zu verwirklichen sind. Eine wesentlich engere Zusammenarbeit mit den Internationalen Organisationen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie lokalen Kräften ist erforderlich. Ein Einsatz der NATO außerhalb des Beistandsgebietes (oder gar weltweit) ohne Mandatierung durch die UN entspricht nicht den oben genannten Anforderungen an den Einsatz rechtserhaltender militärischer Gewalt.
  3. Der Friedensbeitrag des Europarats als der ältesten demokratischen Organisation Europas ist nicht zu unterschätzen. Der Europarat bietet die Möglichkeit, auf der Grundlage von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit an der Gestaltung eines gemeinsamen Europas mitzuwirken. Im Kosovo ist er beispielsweise zum Schutz der Menschenrechte und des Kulturerbes, bei der Wahlbeobachtung, dem Aufbau der lokalen Selbstverwaltung und der Verhütung von Kriminalität tätig. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verfügt der Europarat für rund 800 Millionen Menschen über ein gut funktionierendes, bindendes Kontrollsystem zur Überwachung der Grund- und Menschenrechte und damit über ein wichtiges, die Gerechtigkeit förderndes Instrument. Um die friedenspolitischen Ziele des Europarates zu befördern, sollte sich der Rat der Außenminister künftig deutlicher äußern, wenn Mitgliedstaaten gegen ihre Pflichten zur Gewährleistung von Menschenrechten und Grundfreiheiten verstoßen.

4.2.2 Die Europäische Union als Friedensmacht

  1. Die Europäische Union (EU), entstanden aus den nach dem Zweiten Weltkrieg gebildeten Europäischen Gemeinschaften, ist eine epochale Friedensleistung, welche in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Geschicke und Zusammenleben der Staaten in gänzlich andere Bahnen gelenkt hat als bis 1945. Mit ihren Werten und Institutionen sowie dank gelungener Verrechtlichung und wirksamer Mechanismen der friedlichen Streitschlichtung ist sie ein Modell für andere Regionen und von unverändert großer Anziehungskraft. Durch die Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staaten kommt sie – im Zusammenwirken mit der NATO und deren Konzept des Stabilitätstransfers durch Erweiterung und Friedenspartnerschaften – einem freien Gesamteuropa immer näher. Dem entspricht ein durch den konventionellen Rüstungskontrollvertrag und das Wiener Dokument über Vertrauensbildende Maßnahmen entstandener Raum von nie da gewesener Transparenz und Vertrauensbildung in militärischen Angelegenheiten. Gleichwohl sind interne regionale Gewaltkonflikte bis heute nicht dauerhaft gelöst (z.B. Nordirland, Baskenland, Ex-Jugoslawien), und vorhandenes Misstrauen insbesondere im Verhältnis Russlands zur EU muss weiterhin überwunden werden.
  2. Besonders das Unvermögen der Europäer, die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zu verhindern und eine umfassende Schutzverantwortung (responsibility to protect) auf dem Balkan wahrzunehmen, war für die EU ein Auslöser dafür, sich ihrer friedenspolitischen Verantwortung stärker zu stellen. Sie hat im Rahmen der »Petersberg-Aufgaben« deutlich gemacht, dass sie auch über Europa hinaus zur Übernahme von humanitären und Rettungseinsätzen sowie zu Operationen der Friedenserhaltung und -erzwingung bereit ist. Die auf der Grundlage der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) sich herausbildende »Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (ESVP) hat sich Instrumente und Strukturen für Entscheidungsprozesse und Einsatzführung geschaffen (u.a. das Politisch-sicherheitspolitische Komitee, Militärausschuss und -stab, den Zivilen Ausschuss sowie Hauptquartiere) und entwickelt neben vielen anderen Mitteln auch eine begrenzte militärische Handlungsfähigkeit. Erste Operationen verschiedenen Typs hat die EU bereits durchgeführt, so z.B. in Mazedonien, Bosnien und im Ost-Kongo.
  3. Die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 mit dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« fordert die Stärkung internationaler Institutionen und des Völkerrechts und unterstreicht das präventive Gesamtinstrumentarium der EU. Bisher vollzieht sich aber der Prozess der steigenden Verantwortung der EU in der Welt sowohl in militärischer als auch in ziviler Hinsicht wenig transparent für Bürger und unter geringen Mitspracherechten der Parlamente. Vorwürfen einer Militarisierung ihrer Politik (z.B. durch die Einrichtung von Battle Groups) muss die EU durch transparente, glaubwürdige Darlegung ihrer Lagebeurteilung und ihrer friedenspolitisch relevanten Strategien entgegenwirken.
  4. Zur Stabilitätssicherung und zur Unterstützung von EU-Sonderbeauftragten und Missionen betont die EU die Verbindung von militärischer Kompetenz mit Polizeikräften, Rechtsstaatsexperten und Fachkräften für Zivilverwaltung und Katastrophenschutz. Ein Einsatz militärischer Gewalt als äußerstes Mittel zur Beendigung von Gewaltkonflikten und zur Krisenbewältigung wird nicht ausgeschlossen. Dazu werden Kampfverbände von jeweils ca. 1500 Mann (EU Battle Groups) mit kurzer Reaktionszeit für Operationen zur Befriedung von Krisenregionen aufgestellt. Als besonderes Problem, das um der friedenspolitischen Glaubwürdigkeit willen überwunden werden muss, erwies sich allerdings bisher immer wieder die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Polizeikräften. Wenn die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ihrer erklärten Friedensverantwortung entsprechen soll, dürfen militärische Einsätze im Rahmen der ESVP künftig nur in Übereinstimmung mit friedensethischen Kriterien und völkerrechtlichen Normen beschlossen und durchgeführt werden und bedürfen eines Mandats des UN-Sicherheitsrats. Eine Befolgung auch der Grundsätze des humanitären Völkerrechts muss selbstverständlich sein. Deutlich weiter auszubilden und materiell zu stärken sind Strukturen zur wirksamen Einbeziehung europäischer zivilgesellschaftlicher Kompetenzen für zivile Konfliktbearbeitung. Ihr Aufbau in der Perspektive einer umfassenden Präventionspolitik und nachhaltigen Friedenskonsolidierung ist dringend geboten und sollte um der friedenspolitischen Glaubwürdigkeit willen aus allen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kommission und Rat der EU herausgehalten werden.
  5. Eine besondere friedenspolitische Stärke der EU liegt in ihren diplomatischen Möglichkeiten und zivilen Fähigkeiten. »Zivile Planziele« sollten daher konsequent weiterentwickelt werden. Das Potenzial für die »Partnerschaft zur Prävention von Gewaltkonflikten« im Rahmen der Göteborg-Agenda [16] sollte ausgestaltet werden, vor allem mit Blick auf Europäische Nachbarschaftspolitik, Unterstützung der »menschlichen Sicherheit« und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. In Spannungsgebieten und Nachkriegssituationen bedarf es des Ausbaus von Kapazitäten für ein umsetzungsorientiertes Monitoring unter Einschluss der Anhörung zivilgesellschaftlicher Kräfte vor Ort. Für die sorgfältige Ausbildung von staatlichen Sicherheitskräften innerhalb der Regionen mit hoher Gewaltträchtigkeit müssen ausreichend Mittel bereitgestellt werden. Alle Erfahrungen mit bisherigen Friedenseinsätzen weisen auf die Notwendigkeit hin, sehr genaue Kenntnisse vor Ort einzuholen, dabei zivilen Kräften starke Mitsprache zu geben und für ein längerfristiges Engagement unter geklärten politischen Bedingungen bereit zu sein. Zwischen Soldaten und zivilen Kräften kommt es auf situationsangemessene Kooperation an. Hier wie in anderen Politikfeldern der EU sollte eine systematische Auswertung von Erfahrungen, vor allem aber auch deren Umsetzung, die Politik anleiten. [17]
  6. Die EU muss ihren Beitrag zur Prävention gewaltsamer Konflikte insbesondere in der Behandlung von Gewaltursachen leisten. Dazu ist hier wie auf der Ebene der Vereinten Nationen eine stimmige Politik in der Zielperspektive des gerechten Friedens und der menschlichen Sicherheit nötig. Eine Politik kooperativer Sicherheit muss auch Nachbarstaaten einbeziehen, die nicht EU-Mitglieder sind, und insbesondere mit Russland ein Verhältnis entwickeln, in dem in beider Wahrnehmung des einen Sicherheit nicht auf Kosten des anderen geht. Der breiten nationalen wie internationalen Öffentlichkeit muss die EU ihre sicherheitspolitischen Ziele, Interessen und Entscheidungen überzeugend darlegen. Die Übernahme wachsender Verantwortung im Weltmaßstab muss sich transparent und unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente vollziehen, um nicht auf dem Gebiet von GASP und ESVP noch eher als im Hinblick auf europäische Identität, Rechtssetzung oder Erweiterung, die Bürger Europas zu »verlieren« und den Argwohn anderer zu erregen. Die Gestaltung der EU als Friedensmacht ist eine Aufgabe, welche der Aufmerksamkeit und Unterstützung aller Bürger Europas und besonders auch der Kirchen bedarf. Vielfältige Aktivitäten auf der Ebene der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) liefern dazu wichtige Beiträge.

4.2.3 Rolle und Auftrag der Bundeswehr

  1. Überaus einschneidend waren für die deutschen Streitkräfte die Veränderungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Damit erlosch ein Auftrag, der in der Bereitschaft zu grenznaher Landesverteidigung (im Zusammenwirken mit alliierten Stationierungstruppen) auf dem eigenen Territorium bestanden hatte. Auflösung der Nationalen Volksarmee, Schaffung der »Armee der Einheit«, Reduzierung, Umgliederung und Standortschließungen fanden unter den Bedingungen von Finanzenge, Planungsunsicherheit und sich rasch ausweitenden Auslandseinsätzen statt. Heute hat die Bundeswehr als »Einsatzarmee« fast 8.000 Soldaten und Soldatinnen in neun Friedensmissionen auf drei Kontinenten stehen, an die 200.000 haben bislang an Auslandseinsätzen teilgenommen. Die neuen Prioritätensetzungen, darunter die, dass Gefährdungen wie der Terrorismus am Ursprungsort bekämpft werden sollen und Bedrohungen »auf Abstand gehalten« werden müssten, unterstreichen die Notwendigkeit einer breiten öffentlichen Diskussion über den Auftrag der deutschen Streitkräfte.
  2. Die Neuausrichtung der Bundeswehr vorwiegend auf Auslandseinsätze wirft viele ernste Fragen auf. Zwar ist aufgrund seiner Größe, geographischen Lage, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft die Mitverantwortung des vereinigten Deutschland für Frieden und Sicherheit in Europa und darüber hinaus unstrittig, und die an es gerichteten Erwartungen sind offenkundig. Dies erfordert jedoch ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept, das bisher noch nicht hinreichend erkennbar ist, jedenfalls keines, in das sich militärische Mittel und die Teilnahme an Militäraktionen überzeugend einfügen. Der Verdacht, es gehe bei Auslandseinsätzen vor allem ums »Dabeisein« oder um bündniskonformes Verhalten, bzw. die Außenpolitik greife aus Ratlosigkeit zum militärischen Instrument, kann nur widerlegt werden, wenn ein klares völkerrechtliches Mandat der Vereinten Nationen vorliegt und wenn Gründe, Ziele, Aufträge sowie Erfolgsaussichten friedenspolitisch plausibel dargelegt werden.
  3. Doch zeigen die bisherigen Erfahrungen mit militärischen Interventionen unter deutscher Beteiligung (Kosovo, Bosnien, Afghanistan) und die Situation im Irak, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Ländern mit anderen Gesellschaftsstrukturen und geschichtlichen Traditionen nicht aufgezwungen werden können. Aufwändig von UN, OSZE, NATO und EU organisierte, abgesicherte und überwachte Wahlen sind noch keine Garantie für nachhaltige Stabilisierung oder gar demokratische Strukturen. Zwar kann Entwicklung in kriegsgeplagten Staaten nur in einem gesicherten Umfeld gelingen, aber wenn die Bevölkerung keinen wirtschaftlichen und Entwicklungsfortschritt verspürt, droht der militärische Schutz zum Selbstzweck zu werden, und die Soldaten der Friedensmission werden in zunehmendem Maße als »Besatzer« angesehen. Die internationale Gemeinschaft muss für ein Land, in dem sie militärisch interveniert, umfassend Verantwortung übernehmen, und die Internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und multinationalen Truppen müssen gut abgestimmt vorgehen. Für »Erfolg« im Sinne des Konzepts »Menschlicher Sicherheit« bedarf es angemessener Kriterien. Die Gleichzeitigkeit von Kriegführung und Wiederaufbau, wie vermehrt in Afghanistan zu beobachten, kann den Fortschritt in Entwicklung und Vertrauensbildung beinträchtigen, besonders wenn erhebliche Verluste der einheimischen Bevölkerung zu beklagen sind. All dies spricht dafür, dass ein friedenspolitisches Gesamtkonzept erarbeitet werden muss.
  4. Der Erörterung bedarf auch das gegenüber bisheriger Interpretation des Artikel 87a GG erweiterte Verständnis von »Verteidigung«. Einsätze der bundesdeutschen Streitkräfte, die über die Landesverteidigung hinausgehen, sind auf der Grundlage des Artikel 24 Absatz 2 GG nur im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit verfassungsgemäß. Dies ist in Anbetracht der hier entfalteten ethischen, völkerrechtlichen und friedenspolitischen Prinzipien nur im Falle eines durch den UN-Sicherheitsrat mandatierten Einsatzes legitimiert. Eine Ausrichtung der Bundeswehr auf »Expeditions- und Interventionsfähigkeit« muss sich strikt dem beschriebenen Rahmen einordnen, und die Implikationen einer solchen Ausrichtung müssen öffentlich deutlich gemacht werden.
  5. Weiterhin ist problematisch, dass bei der gegenwärtigen »Transformation« der Bundeswehr eine einseitige Prioritätensetzung zugunsten der Auslandseinsätze erfolgt. Zwar haben die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« und das Weißbuch von 2006 die in der hergebrachten Form überholte »Landesverteidigung« durch die Formel »Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger« ersetzt. Dieser Aufgabe wird zwar ein hoher Stellenwert eingeräumt, sie scheint aber konzeptionell noch wenig ausgestaltet und der Öffentlichkeit nicht ausreichend bewusst zu sein. Angesichts der verdichteten globalen Abhängigkeiten wird deutlich, dass dem Schutzziel nicht mehr mit herkömmlichen Konzepten nationaler Sicherheit gedient ist. Das hier angesprochene Verhältnis von innerer und äußerer Sicherheit bedarf sorgfältiger Klärung.
  6. Bei ihrer »Transformation« wird die Bundeswehr in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte umgegliedert, und dies bei knappem Haushalt und immer noch erheblichen Ausgaben für während des Kalten Krieges konzipiertes Gerät. Wichtig bleibt dabei die Bereitstellung geeigneter Ausrüstung und optimalen Schutzes für die im Ausland eingesetzten Soldaten. Auch müssen die Truppen für den Auslandseinsatz hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Ausrüstung und Ausbildung in mancher Hinsicht zwischen Militär und Polizei angesiedelt sein. Eine gründliche, offene Auswertung der Erfahrungen in Einsatzregionen ist hierfür dringend erforderlich. Auch das veränderte Anforderungsprofil und das »Bild des deutschen Soldaten« bedürfen großer Aufmerksamkeit. Verstärkt werden interkulturelle Kompetenz, Vermittlungstätigkeit und Aufbauhilfe von ihnen verlangt. Fraglich ist, ob dieselben Truppen für militärische Intervention ebenso wie für Stabilisierungsaufgaben geeignet sind. Angesichts der friedenspolitischen Verpflichtungen Deutschlands und seiner gewachsenen »Kultur militärischer Zurückhaltung« ist es nicht wünschenswert, dass die Bundeswehr ebenso »interventionistisch« wird wie manche Verbündeten-Streitkräfte. Aber auch das Entstehen einer »Zwei-Klassen-Bundeswehr« aus »Kämpfern« und »Aufbauhelfern« sollte verhindert werden. Hier stellen sich Fragen berufsethischer und kriegsvölkerrechtlicher Art und besondere Aufgaben für die Ausbildung – nicht zuletzt auch im Hinblick auf den Umgang mit privaten Militärunternehmen (siehe unten, Kapitel 4.3.3) und Nichtregierungsorganisationen in Einsatzgebieten. Untersuchungen gravierenden Fehlverhaltens auch auf Seiten der Angehörigen von UN-Friedensmissionen zeigen die außerordentlich große Bedeutung kultureller und ethischer Sensibilität.
  7. Das ethisch, historisch und rechtlich begründete Konzept der Inneren Führung ist eine große Errungenschaft und ist in 50 Jahren zum Qualitätsmerkmal der neuen deutschen Streitkräfte geworden. Das Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform«, der Primat der Politik, der Grundrechtsschutz, die Gewissensfreiheit, Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht, die Integration der Streitkräfte in die demokratische Ordnung, eine an der Menschenwürde orientierte Ausgestaltung des Dienstes sowie zeitgemäße Menschenführung – all dies ist in der Bundeswehr weitgehend verwirklicht. Gleichwohl machen die in den jährlichen Berichten des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages wiedergegebenen Verfehlungen – auch von Vorgesetzten – die Notwendigkeit ständigen Einübens der Grundsätze der Inneren Führung und der Überwachung ihrer Befolgung durch konsequente Dienstaufsicht deutlich. Unter den neuen Bedingungen multinationaler Einsätze und des damit einhergehenden Strebens nach »Interoperabilität«, also der Befähigung zu militärischem Zusammenwirken, dürfen auch angesichts unterschiedlicher Wehrrechtssysteme die Prinzipien der Inneren Führung nicht preisgegeben, relativiert oder nivelliert werden. Vielmehr sollten sie auch für multinationale Streitkräfte als wegweisend betrachtet und vertreten werden. Ein Aspekt der Inneren Führung, der angesichts der Auslandseinsätze Gewicht gewinnt, ist die Fürsorge, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Betreuung der Familien am Standort, Betreuung von Soldaten nach Einsätzen, besonders solchen mit sehr belastenden Erlebnissen und Erfahrungen, Versorgung von verletzten und insbesondere von dauerhaft versehrten Soldaten. Die Soldatenseelsorge leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Soldaten und ihre Angehörigen in schwierigen und angefochtenen Lebenssituationen kompetente und qualifizierte Begleitung und Unterstützung erfahren.
  8. Mit der allgemeinen Wehrpflicht werden die von ihr erfassten Bürger einer einzigartigen Zwangspflicht, äußerstenfalls zum Einsatz des eigenen Lebens im Kampf unterworfen. Die Wehrpflicht ist mit so tiefen Eingriffen in die Grundfreiheiten, vor allem in das elementare Recht auf Leben, verbunden, dass sie der demokratische Rechtsstaat seinen Bürgern nur zumutet, wenn sie ausschließlich auf die Aufgabe der Landesverteidigung bezogen und zu diesem Zweck sicherheitspolitisch erforderlich ist. Deshalb setzt die Bundeswehr richtigerweise bei den Auslandseinsätzen nur Berufs- und Zeitsoldaten sowie »Freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistende« (FWDL) ein. Falls die allgemeine Wehrpflicht auch künftig beibehalten werden soll, sind zwei Gesichtspunkte zu beachten: 1. Gerechtigkeit bei der Heranziehung zum Wehrdienst, die auch so empfunden werden kann, 2. eine Gestaltung des Wehrdienstes, die den Wehrpflichtigen eine gute Ausbildung vermittelt, angemessene Ausrüstung bereitstellt und das Bewusstsein gibt, gebraucht zu werden. Beides besitzt entscheidende Bedeutung für eine weitere gesellschaftliche Akzeptanz der Wehrpflicht.
  9. Zu all diesen Themen sind eine breite öffentliche Debatte und parlamentarische Erörterung nicht nur aus dem punktuellen Anlass einer Mandatsverlängerung für die Entsendung von Truppen erforderlich. Eine Enquetekommission zu Fragen der deutschen Sicherheitspolitik wäre dafür nützlich. Auch innerhalb der Bundeswehr werden derartige Diskussionen zu wenig geführt, obwohl diese Themen zentral für das Selbstverständnis einer »Armee im Einsatz« sind und in engem Zusammenhang mit Aspekten der Legalität und Legitimität, der Rechtssicherheit der Soldaten und ihres politischen Rückhalts bei Auslandseinsätzen stehen.
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