Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

2.4 Für Frieden und Versöhnung arbeiten

  1. Quelle menschlicher Friedensfähigkeit und Grundlage jedes wahrhaften Friedens ist nach christlicher Überzeugung die versöhnende Zuwendung Gottes, die die gestörte Beziehung der Menschen zu ihm zurechtbringt und menschliche Schuld nicht zurechnet (2 Kor 5,19; Röm 5,10f.). Die von Gott gewährte Versöhnung mit ihm ermöglicht ein entsprechendes neues Verhältnis der Menschen untereinander, das sich zeichenhaft in der christlichen Gemeinde realisiert und ihr als umfassender Dienst der Versöhnung (2 Kor 5,18) aufgetragen ist. Der christliche Glaube versteht den Kreuzestod Jesu als endgültigen und unwiderruflichen Friedensschluss Gottes mit der gesamten Schöpfung und als grundsätzliche Überwindung menschlicher Feindschaft (Kol 1,19f; Eph 2,14ff.). Dabei gibt die Deutung des Todes Jesu als stellvertretendes Leiden (2 Kor 5,21) und als Sühne für unsere Sünde (Röm 3,25) zu verstehen: In diesem einen gewaltlosen Menschen hat sich Gott selbst an die tödlichen Konflikte der Welt preisgegeben. In einer von Gewalt durchwirkten Welt hat er selbst sich zum »Sündenbock« und zum Opfer der Gewalt machen lassen, das Gesetz der Vergeltung ein für alle Mal durchbrochen und zugleich den Tätern die Möglichkeit zur Umkehr aus Freiheit eingeräumt. In seiner Feindesliebe erweist Gott sich als Gott, und in unserer Feindesliebe erweisen wir uns als Kinder Gottes.
  2. Versöhnung gelingt nur, wo die Opfer zu ihrer Würde aufgerichtet werden und die Täter nicht ein für alle Mal mit ihren Taten identifiziert werden. Als Überwindung einer schuldbelasteten Vergangenheit zwischen Menschen und als Eröffnung einer neuen gemeinsamen Zukunft erfordert Versöhnung von den Konfliktparteien die Bereitschaft, Vergebung zu erbitten und zu gewähren. Versöhnung hat somit auf beiden Seiten eine tiefgreifende Veränderung von innen her zur Voraussetzung: seitens der Täter die Abkehr von der Gesinnung, in der die Tat erfolgte (Reue), seitens der Opfer den Verzicht auf Rache sowie darauf, die Täter mit ihrer Tat zu identifizieren (Verzeihung). Versöhnung setzt voraus, dass die Täter durch Schuldeinsicht und Reue zum Bekenntnis ihrer Schuld und (soweit möglich) zu Akten der Wiedergutmachung geführt werden, und dass sich andererseits die Opfer bereit finden, das ihnen zugefügte Unrecht nicht zu vergelten oder nachzutragen, sondern zu vergeben. Dabei ist die Frage nach dem Bedingungszusammenhang von Schuldbekenntnis und -vergebung nicht situationsunabhängig zu beantworten. Jesu Zuwendung zu den Sündern zeigt, dass Gottes Versöhnungshandeln bedingungslos geschieht – dies aber gerade deshalb, um so zur Erkenntnis der Sünde und zur Umkehr herauszufordern (Joh 8,11). Umgekehrt steht die menschliche Entscheidungsmacht darüber, ob und wann Vergebung möglich ist, allein den Opfern zu; auch sie dürfen aber die Schuld der Täter nicht als Machtmittel missbrauchen. Weil Versöhnungsprozesse durch das Spekulieren auf billige Gnade ebenso blockiert werden können wie durch die Instrumentalisierung fremder Schuld, und weil angesichts geschichtlicher Schuldverstrickungen die klare Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern dem menschlichen Urteil häufig entzogen ist, sehen sich Christen in ihrer Versöhnungshoffnung zuerst und zuletzt auf Gottes Vergebung angewiesen (Mt 6,12).
  3. Die jeden tiefen Versöhnungsprozess tragenden Momente von Schuldübernahme und Verzeihung sind auch in politischen Kontexten von Bedeutung, allerdings darf Sündenvergebung im religiösen Sinn nicht mit politischen Akten identifiziert werden. In der politischen Sphäre lautet die Frage, wie Versöhnung in Gerechtigkeit möglich ist, und das heißt: wie der Geist der Verzeihung die Idee des Rechts gebrauchen und ggf. modifizieren kann, ohne sie aufzuheben.
  4. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Staaten übersteigt die Last der geschichtlichen Schuld die moralische oder strafrechtliche Verantwortlichkeit individueller Täter; sie umfasst das politische Versagen, für das es auf Grund der Mitverantwortung aller Staatsbürger eine korporative, generationenübergreifende Haftung gibt. Zeit heilt nicht alle Wunden. Dem steht schon das kollektive Gedächtnis der Völker entgegen, das dazu neigt, die Traumata von Zerstörung und Gewalt, das Erleben von Sieg und Niederlage selektiv zu speichern und im Interesse eigener Selbstbehauptung zu deuten. Die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, welche Initiativen seitens eines für vergangenes Unrecht politisch verantwortlichen Volkes der Aussöhnung dienen können: Neben Akten kompensatorischer Gerechtigkeit wie materiellen Entschädigungsleistungen und dem Verzicht auf Rechtsansprüche waren und sind nichtstaatliche Aktivitäten wichtig. Dazu gehören der Jugendaustausch und zivilgesellschaftliche Aufbauhilfen (beispielhaft aus dem Raum der evangelischen Kirche die 1958 gegründete Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, eine Mitgliedsorganisation der AGDF), die Annäherung deutlich auseinander gehender historischer Deutungsperspektiven (z.B. durch die Erarbeitung gemeinsamer Schulbücher) und die Umbesetzung der Symbolik nationaler Gedenkrituale im Interesse internationaler Verständigung. Die mögliche Initialfunktion der Kirchen bei der Vorbereitung einer auf Verträge gestützten Politik der Entspannung und Aussöhnung belegen auf unterschiedliche Weise die Ostdenkschrift der EKD sowie der Briefwechsel der polnischen und deutschen katholischen Bischöfe von 1965. Der Versöhnungswille und die Vergebungsbitte können auf symbolpolitischer Ebene auch im internationalen Staatenverkehr Relevanz gewinnen, wenn sie durch herausgehobene politische Repräsentanten authentisch und sensibel eingebracht werden.
  5. In einer Zeit neuer Bürgerkriege sowie nach politischen Systemwechseln, in Transformationsgesellschaften beim Wechsel von einem Zustand der Rechtlosigkeit oder des Systemunrechts zu Rechtsstaat und Demokratie stellt Versöhnung vor allem eine innerstaatliche Herausforderung und Aufgabe dar. Wenn – wie in Deutschland nach dem Ende der DDR – der Neuaufbau der politischen Ordnung ohne die alten Machthaber erfolgen kann, liegt es nahe, dem Postulat der Gerechtigkeit mit juristischen Mitteln zu entsprechen. Das Strafrecht kann allerdings nicht politische, sondern (in engen rechtsstaatlichen Grenzen) nur kriminelle Schuld ahnden. Es setzt einen Gesinnungswandel der Täter weder voraus, noch sind Zwangsmittel geeignet, ihn zu bewirken. Die Rechtsstrafe bleibt ein äußerer Sanktionsmodus, dessen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration sich darauf beschränkt, das Rechtsvertrauen (auch der Opfer) zu stärken und die Resozialisierung der Täter zu ermöglichen, aber auch deren Menschenwürde gegen Vergeltungsbedürfnisse zu schützen. – In Fällen der »ausgehandelten Revolution«, also des historischen Kompromisses zwischen alten und neuen Eliten, ist eine strafrechtliche Verfolgung von Systemunrecht meist politisch unpraktikabel. Es liegt dann nahe, die Aufarbeitung der Vergangenheit auf die Offenlegung der Wahrheit ohne Rechtsfolgen zu konzentrieren. Eine Schlussstrichpolitik durch Amnestie, ohne Aufarbeitung der Schuld, mag zwar im Interesse »nationaler Einheit« liegen, verfehlt aber das anspruchsvolle Ziel der Versöhnung. Einen mittleren Weg hat unter maßgeblicher Beteiligung von Kirchenvertretern die ›Wahrheits- und Versöhnungskommission‹ nach dem Ende des Apartheidsregimes in Südafrika beschritten. Sie sollte in öffentlichen Verhandlungen schwerste Menschenrechtsverletzungen aufklären, aussagebereiten politisch motivierten Tätern Straffreiheit anbieten und darüber hinaus die Würde der Opfer wiederherstellen, indem ihnen nicht nur Entschädigung gewährt, sondern Gelegenheit zur Darstellung ihrer Leidensgeschichten gegeben wurde. Ohne Zweifel hat diese Kommission wichtige Beiträge zur Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet. Indem sie die Amnestie in den Dienst der Wahrheitsfindung stellte, wurden aber auch manche Gerechtigkeitserwartungen der Opfer enttäuscht, weil viele Täter die Offenlegung der Fakten zur Erlangung von Straffreiheit instrumentalisierten, ohne Reue zu zeigen, und weil diejenigen, die sich nicht offenbarten, entgegen vorheriger Ankündigung keinerlei Sanktionen zu erleiden hatten.
  6. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit können, richtig abgestimmt, Rechtsprechung und staatlich institutionalisierte Wahrheitsfindung Rahmenbedingungen für Versöhnung in Gerechtigkeit schaffen. Weitere Schritte müssen aber innergesellschaftlich vollzogen werden und bleiben damit der öffentlich ausgetragenen politisch-ethischen Verständigung sowie der religiösen und therapeutischen Kommunikation vorbehalten. Hier hat auch der Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften seinen Ort. Darüber hinaus muss alles dafür getan werden, die Zusammenarbeit mit dem seit 2001 in Den Haag tätigen Internationalen Strafgerichtshof bei der Verfolgung von Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sicherzustellen. Die konsequente Ahndung völkerrechtlichen Unrechts ist ein Schritt in eine bessere, gewaltfreie Zukunft. Und sie ist, richtig verstanden und praktiziert, das Gegenteil zu Vergeltung oder Rache.
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