Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen

Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007

4.5 Menschliche Sicherheit und menschliche Entwicklung verwirklichen

  1. Das Streben nach »Gerechtigkeit und Menschlichkeit«, das politische Ziel, »Weltfrieden und Welteintracht« durch entsprechende soziale Bedingungen zu verankern und das Interesse an fairen Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Tauschbeziehungen waren schon 1919 für die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) handlungsleitend. Auch die 1945 angenommene Charta der Organisation der Vereinten Nationen enthält in Artikel 55 wirtschaftliche und soziale Ziele, »um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen.« Menschenrechtlich sind diese Ziele 1966 im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) verankert worden. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind aber nach wie vor von dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker weit entfernt. Die gewaltträchtige Situation skandalös großer und immer weiter wachsender Unterschiede in den Lebensbedingungen der Menschen im Norden und Süden muss entschlossen überwunden werden.

4.5.1 Menschliche Sicherheit und menschliche Entwicklung

  1. Das vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in seinem Bericht von 1990 entwickelte Konzept »Menschliche Entwicklung« (human development) stellt die Verbesserung der Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen in den Vordergrund und misst die Erfolge einzelstaatlicher und internationaler Wirtschafts-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik an diesem Maßstab. Es ist darauf angelegt, Statistiken und ökonomische Kennziffern unter dem Gesichtspunkt der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Rechte zu analysieren und Wissensbestände aufzubauen, die dem Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit entsprechen. Die im UNDP-Bericht 1994 vorgenommene Verknüpfung des Konzepts »Menschliche Entwicklung« mit dem Konzept »Menschliche Sicherheit« (human security) hebt auf Sicherheitsbedürfnisse der Menschen in ihrem Alltagsleben ab und basiert auf der Idee, dass es zu den Aufgaben der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gehört, die einzelnen Menschen sowohl vor Gewalt als auch vor Not zu schützen. Aus dieser zentralen Perspektive kommen die unterschiedlichen Existenzbedrohungen im konkreten Lebensalltag der Menschen in den Blick: Waffensysteme beispielsweise ebenso wie die katastrophalen Folgen globaler Finanztransaktionen für die soziale Existenz vieler Menschen.
  2. Seit den 1990er Jahren ist das Konzept »Menschliche Sicherheit« auf unterschiedliche Weise konkretisiert worden: Beispielhaft ist hierfür die Kampagne gegen Antipersonenminen zu nennen. 2005 erschien in Kanada außerdem ein erster Human Security Report, der auf die Fortschritte bei den Bemühungen der UNO um Verminderung der Gewaltkonflikte aufmerksam machte. Eine andere Schwerpunktsetzung bei der Konkretisierung menschlicher Sicherheit ist unter japanischer Führung erfolgt, die angesichts der Erfahrungen mit der asiatischen Finanzkrise 1998 auf den Schutz vor Not, die Sicherung des »Überlebens und die Würde der Einzelnen« im Alltag abhebt.
  3. Die im UNDP-Ansatz miteinander verbundenen Konzepte »Menschliche Entwicklung« und »Menschliche Sicherheit« richten das Augenmerk auf die Überlebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen Menschen unter den verschiedenen gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen. Die Verknüpfung beider Konzepte entspricht dem auf der menschlichen Würde basierenden Konzept des Gerechten Friedens. Darin liegt ihre politische Neuerungskraft: In einer vernetzten, aber sozial zerklüfteten Welt, in der Schutz für die Einzelnen nicht (mehr) nur innerhalb staatlicher Grenzen, sondern auch von der internationalen Kooperation erwartet werden muss, kommt es u.a. bei Investitionsentscheidungen öffentlicher Finanzmittel darauf an, gleichermaßen unmittelbare Gefahrenquellen (bewaffnete Gewalt, Hungerkatastrophen, Umweltzerstörung) zu beachten und die Förderung langfristig unabdingbarer Entfaltungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Konzepte »Menschliche Sicherheit« und »Menschliche Entwicklung« geben Anlass zu differenzierenden Fragen wie: Wessen Sicherheit und wessen Entwicklung werden gefördert bzw. ignoriert? Werden gleichermaßen Belange des Südens und des Nordens, der Frauen und der Männer, der Menschen in verschiedenen Schichten und Lebenslagen berücksichtigt (auch hierzulande)? Nur wenn solche Fragen ernsthaft gestellt und beantwortet werden, ist jenes Maß an Weitblick und Beharrlichkeit gegeben, das friedenspolitisch geboten ist.
  4. Handlungsermächtigung und Befähigung (empowerment) bezeichnen Strategien, um grundlegende Rechte praktisch zur Geltung zu bringen und zu verwirklichen. Sie knüpfen an Ideen der Hilfe zur Selbsthilfe an. Für den kirchlichen Entwicklungsdienst spielt heute der Gedanke, dass Menschen ermächtigt werden und Mittel an die Hand bekommen müssen, um ihre grundlegenden Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen zu können, eine zentrale Rolle. Wenn grundlegende Rechte im Sinne der Befähigungsgerechtigkeit verstanden werden, so ist es – wie in Kapitel 3 dargelegt – möglich, sowohl ihre Unveräußerlichkeit als auch die Tatsache entgegenstehender, aber veränderbarer soziokultureller Gewohnheiten und Rechtsverhältnisse in den Blick zu nehmen. Dem Anspruch von Frauen auf Gleichberechtigung in den Rechtssystemen kommt dabei eine hohe Bedeutung zu.
  5. Die dauerhafte Befähigung Einzelner und die Stärkung ihrer sozialen Rechte ist allerdings ohne Aufbau und Ausbau geeigneter Institutionen zur Gewährleistung öffentlicher Güter nicht möglich. Solange zentrale Politikfelder wie Handel und Finanzen nicht auf kohärente Weise im System der Vereinten Nationen miteinander verbunden werden, ist eine systematische UN-Politik mit einem klaren Fokus auf allen Menschenrechten sowie Umweltschutzzielen nicht möglich. Im Rahmen einer friedensförderlichen Entwicklungspolitik kommt es vor allem darauf an, mit Hilfe geeigneter Reformen für widerspruchsfreies Handeln zu sorgen, so dass nicht in einer Verhandlungsarena (z.B. Internationale Arbeitsorganisation, ILO) die »Grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit« (also Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, Beseitigung von Zwangsarbeit, Abschaffung von Kinderarbeit sowie Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf) deklaratorisch unterstützt und in der anderen Arena (z.B. Weltwährungsfonds, IMF oder Welthandelsorganisation, WTO) tatsächlich ignoriert oder faktisch behindert werden. Das gilt ebenso für die bilateralen staatlichen Beziehungen, bei denen es um entsprechende Zusammenarbeit zwischen den Ressorts der Administrationen geht, wie für die globalen Institutionen.

4.5.2 Verantwortung und Rechenschaftspflicht

  1. Angesichts globaler Wirtschaftsverflechtungen ist es unabweisbar, dass transnational tätige Wirtschaftsakteure, die für ihre unmittelbar eigenen Belange (z.B. Eigentumsrechte) völkerrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen, sich ihrerseits zur Einhaltung anderer grundlegender Prinzipien des Völkerrechts verpflichten. Wenn der Globale Pakt – wie beabsichtigt – als ein Lern- und Dialogforum funktionieren soll, sind öffentliche Debatten und eine kritische Begutachtung der erzielten Ergebnisse erforderlich. Nationale Beobachtungsnetzwerke (die in Deutschland z.B. durch die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, GTZ, koordiniert werden) haben nur dann eine Ausstrahlungskraft zur Verbesserung der weltweiten Soziallage, wenn Berichte der Unternehmen überprüfbar und öffentlich diskutierbar sind, wie es – wenn auch nur ansatzweise – schon jetzt bei Beschwerden im Zusammenhang mit den Leitsätzen für multinationale Unternehmen der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) der Fall ist. Daneben bedarf es auf der Grundlage der bereits vorformulierten UN-Normen für multinationale Unternehmen der Ausarbeitung verbindlicher Bestimmungen, um die Rechte und Pflichten der Mehrheit transnationaler Unternehmen zu konkretisieren, die sich bislang freiwilligen Ansätzen zur Selbstregulierung im Sinne einer »Corporate Social Responsibility« verschließt.
  2. Zur Beobachtung und Überprüfung des Geschäftsgebarens weltweit tätiger Unternehmen, insbesondere von Markenfirmen, haben sich auch Initiativen wie beispielsweise die »Kampagne für saubere Kleidung« (Clean Cloth Campaign) und andere Projekte für soziale Gütesiegel (z.B. Kaffee, Teppiche, Blumen) gebildet, die darauf dringen, dass Unternehmen ihre gesellschaftsbezogene Verantwortung wahrnehmen und über Folgen ihres weltweiten Handelns zur Rechenschaft gezogen werden. Hier kommt den christlichen Gruppen in der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Aufgabe zu. Benachteiligte und besonders verwundbare Gruppen brauchen anwaltschaftliche Stimmen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Entsprechende Bestrebungen können allerdings nur erfolgreich sein, wenn die Beachtung der Menschenrechte und der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von allen am Wirtschaftsleben beteiligten Akteuren eingefordert wird. Vor allem darf die soziale Rechenschaftspflicht nicht ausgerechnet bei Wirtschaftsaktivitäten zur Gewinnung strategischer Rohstoffe ausgesetzt werden. Die Gewinnung und Vermarktung industrie-relevanter Rohstoffe ist im Süden vielerorts mit Gewaltkonflikten verbunden, während die Industriestaaten im Norden den Zugang zu Rohstoffen zu ihrem Sicherheitsinteresse erklären. Die Glaubwürdigkeit friedenspolitischer Deklarationen der Industrieländer, auch der Bundesrepublik Deutschland, erweist sich beim Thema Rohstoffe. An den kriegswirtschaftlichen Kreisläufen [21] sind auch Unternehmen der OECD-Welt durch Ankauf, Transport und gegebenenfalls Endfertigung strategischer oder seltener Rohstoffe beteiligt. Um Kriegsökonomien auszutrocknen, sollte eine Rechenschaftspflicht von Unternehmen für ihre Zahlungen an Regierungen und Rebellengruppen verbindlich gemacht werden. Ein entsprechendes internationales Regelwerk könnte auf Vorarbeiten von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und einschlägigen Sachverständigenausschüssen der Vereinten Nationen aufbauen. Die vorhandene Nachfragemacht der Industrieländer nach seltenen Rohstoffen sollte friedenspolitisch so genutzt werden, dass Gewaltspiralen unterbrochen werden und verantwortliche Staatsführung Unterstützung findet.

4.5.3 Menschliche Sicherheit und Friede im Innern

  1. Neue technische Möglichkeiten haben die Bedeutung räumlicher Entfernungen nicht nur für Unternehmen stark verringert. Die enormen Unterschiede in den Lebenschancen sind weltweit auch für Menschen in armen und elenden Umständen sichtbar geworden. Durch Migration [22] versuchen viele – ähnlich denjenigen, die aus Deutschland auswanderten – ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Heute beherbergen viele Großstädte auch in Deutschland Menschen aus zahlreichen Herkunftsländern. Selbst im kleinsten deutschen Bundesland (Bremen) leben Menschen aus etwa 170 Staaten – freiwillig oder unfreiwillig aufgrund von Krieg, Vertreibung, aber auch wegen sozialer Not im Herkunftsland. Unter diesen Umständen gewinnen universale soziale Rechte als Teil allgemeiner bürgerschaftlicher Rechte auch in der Bundesrepublik eine zentrale Bedeutung für den inneren Frieden.
  2. Gewaltübergriffe im Innern reicher Industrieländer haben nicht erst seit der Jahrhundertwende verstärkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen, insbesondere, wenn sie politisch aufgeladen sind. Schutz vor Gewalt im Alltag der Menschen ist ein gemeinsames Bedürfnis Alteingesessener und Zugewanderter, Wohlhabender und Armer. Kein Gemeinwesen darf die Grundbedürfnisse der einen oder anderen Gruppe vernachlässigen. Aber die Armen bedürfen in besonderer Weise des Schutzes vor Not. Die Förderung der Freiheit gebietet es, dass Menschen ungeachtet ihrer Herkunft ihre Stimmen öffentlich zu Gehör bringen können. Dabei gilt es, die kulturelle Vielfalt anzuerkennen und eine Kultur der konstruktiven Bearbeitung oder Lösung von Konflikten zu fördern. Religiöse und kulturelle Unterschiede sollten dabei nicht in eins gesetzt werden. Aber Geschichte und Gegenwart lehren: Eine soziokulturelle Verfestigung ungleicher Lebenschancen fördert – potenziell gewalttätige – Konflikte entlang ethnischer oder religiöser Linien. Strategien zur Verständigung und Kooperation zwischen Staaten sind glaubwürdig, wenn sie auch das Innere der Gemeinweisen prägen. Der gewaltfreie Umgang mit den Konflikten innerhalb der Industriegesellschaften ist gewissermaßen die Schule, in der Fähigkeiten gelernt werden, die es ermöglichen, mit den großen sozialen Herausforderungen der Welt in der Perspektive des gerechten Friedens umzugehen.
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