Nachhaltig durch das Kirchenjahr

Materialien für Andachten und Gottesdienste zu den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030

1. Mai – Nachhaltigkeitsziel 8

Biblische Meditation zum Thema: Gute Arbeitsplätze und nachhaltiges Wirtschaftswachstum

Biblische Meditation

Wenn das Tote Meer viele Fische hat:

Eine Vision in der Verbannung

Manchmal werde ich mutlos, wenn ich daran denke, unter welchen Bedingungen Menschen in vielen Ländern der Erde arbeiten müssen, ausgebeutet, ihrer Würde beraubt, nicht selten misshandelt. Manchmal werde ich wütend, wenn ich wieder einmal hören und lesen muss, wie schrecklich der Arbeitsalltag junger Frauen ist, die in Indien oder Bangladesch oder sonst einem Land des Südens unsere Kleider und Smartphones und Computer und so vieles mehr herstellen. Manchmal werde ich sprachlos, wenn mir berichtet wird, wie grausam die Arbeit in den Erzminen des Kongo ist. Und das alles, obgleich sich internationale Organisationen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und mitunter auch Kirchen seit so vielen Jahrzehnten für gute Arbeit einsetzen. Doch die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen, das Verhalten großer Konzerne, die Gier nationaler Eliten auch in Asien, Afrika und Lateinamerika und die rasch wachsenden städtischen Slums in vielen Ländern des Südens verhindern jeden Fortschritt, um nur einige Ursachen der globalen Misere zu nennen.

Vielleicht war auch er mutlos, der 597 v. Chr. nach Babylon verschleppt worden war. Zumindest waren es die meisten Israeliten, die mit ihm ihre Heimat verloren hatten, Deportierte in der babylonischen Gefangenschaft, stets in Gefahr, sich fremden Göttern zuzuwenden, in Hoffnungslosigkeit zu versinken, aufzugeben. Sie ermahnte, tadelte, tröstete und ermutigte er, der 20 Jahre unter ihnen als Prophet wirkte. Uns gibt er nach rund 2.600 Jahren manche Rätsel auf, seine Visionen erschließen sich nicht leicht, seine Zeichenhandlungen bleiben uns oft fremd. Und doch lohnt es sich, der Stimme Hesekiels zu lauschen und seinen Visionen nachzuspüren. Auch seiner Vision vom Wasser des Lebens, die Christinnen und Christen als Vision vom Kommen des messianischen Reiches deuten.

Hören wir also die geheimnisvolle Vision aus Hesekiel 47,1-12:

1 Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels. Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle des Tempels nach Osten; denn die vordere Seite des Tempels lag gegen Osten. Und das Wasser lief unten an der südlichen Seitenwand des Tempels hinab, südlich am Altar vorbei. 2 Und er führte mich hinaus durch das Tor im Norden und brachte mich außen herum zum äußeren Tor im Osten; und siehe, das Wasser entsprang seiner südlichen Seitenwand. 3 Und der Mann ging heraus nach Osten und hatte eine Messschnur in der Hand, und er maß tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen; da ging es mir bis an die Knöchel. 4 Und er maß abermals tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knie; und er maß noch tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Lenden. 5 Da maß er noch tausend Ellen: Da war es ein Strom, so tief, dass ich nicht mehr hindurchgehen konnte; denn das Wasser war so hoch, dass man schwimmen musste und nicht hindurchgehen konnte. 6 Und er sprach zu mir: Hast du das gesehen, Menschenkind? Und er führte mich zurück am Ufer des Flusses entlang. 7 Und als ich zurückkam, siehe, da standen sehr viele Bäume am Ufer auf beiden Seiten. 8 Und er sprach zu mir: Dies Wasser fließt hinaus in das östliche Gebiet und weiter hinab zum Jordantal und mündet ins Tote Meer. Und wenn es ins Meer fließt, soll dessen Wasser gesund werden, 9 und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben. Und es soll sehr viele Fische dort geben, wenn dieses Wasser dorthin kommt; und alles soll gesund werden und leben, wohin dieser Strom kommt. 10 Und es werden an ihm die Fischer stehen. Von En-Gedi bis nach En-Eglajim wird man die Netze zum Trocknen aufspannen; denn es wird dort sehr viele Fische von aller Art geben wie im großen Meer. 11 Aber die Teiche und Lachen daneben werden nicht gesund werden, sondern man soll daraus Salz gewinnen. 12 Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken und mit ihren Früchten hat es kein Ende. Sie werden alle Monate neue Früchte bringen; denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. Ihre Früchte werden zur Speise dienen und ihre Blätter zur Arznei.

Ich lade Sie ein, jetzt erst einmal die Augen zu schließen. Sehen Sie den rätselhaften Führer, den Geführten, den Tempel, den Fluss, die Bäume, die Früchte, die Fische? Lassen Sie sich einige Minuten Zeit, um der Vision Hesekiels Bilder Ihrer Vorstellungswelt zu geben.

Öffnen Sie dann wieder die Augen. Schauen wir uns den Text genauer an. Er ist Teil der Entrückung des Propheten, von der ab Kapitel 40 erzählt wird. Dort lesen wir, dass der Prophet in Visionen von Gott in das Land Israel geführt und auf einen hohen Berg gestellt worden sei. Auf diesem Berg war etwas wie eine Stadt erbaut. Und Hesekiel sah einen Mann, der aussah, als sei er aus Bronze, und der eine Messlatte in der Hand hatte. Dieser geheimnisvolle Mann führte den Propheten um den Tempel und dann in ihm herum. Jetzt also, in unserem Textabschnitt, ist der Prophet wieder beim Eingang des Tempels angekommen.

Und da sieht er, wie aus dem Tempel Wasser nach Osten fließt, nicht viel, denn es heißt, es riesele an der Südseite hervor. Doch bald wird der Bach größer und tiefer, schon nach etwa 500 Metern (1.000 Ellen) reicht das Wasser dem Propheten bis zum Knöchel, nach einem Kilometer bis ans Knie, nach weiteren 500 Metern steht er bis zu den Hüften im Wasser und nach insgesamt zwei Kilometern muss er schwimmen: Aus dem Bach ist ein Fluss geworden, doch wie das geschieht, bleibt verborgen. Von keinen Zuflüssen wird erzählt. Wohl aber von dem Allererstaunlichsten. Es scheint, als habe es Hesekiel nicht gesehen, zumindest muss er von dem geheimnisvollen Mann ermahnt werden: „Hast du das gesehen, Menschenkind?“

Vielleicht ist es ja so, dass wir das Wichtigste nicht sehen, jedenfalls nicht von allein. Jetzt aber, nach dieser Ermahnung, sieht Hesekiel, ihm werden in der Schau künftigen Heiles die Augen geöffnet, in der Vision lernt er sehen: Auf beiden Seiten des Ufers stehen Bäume, Zeichen des Lebens. Und jetzt verkündet der geheimnisvolle Mann, dass der Fluss in das Tote Meer fließe und dort den Salzgehalt so sehr reduziere, dass es im Toten Meer so viele Fische geben werde wie im Mittelmeer. Und die Bäume am Ufer des Flusses werden Früchte tragen und nicht verwelken, und im Fluss werden so viele Fische sein, dass die Fischer große Fänge machen und ihre Netze zum Trocknen ausspannen werden.

Wenn wir wollen, können wir da am 1. Mai sagen: Gute Arbeit ist entstanden, selbst dort, wo eigentlich nichts zu fischen war.

Nun ist das ja mit Visionen so eine Sache, das Tote Meer blieb tot, und Fische gibt es noch immer keine in ihm. Hätte also Hesekiel lieber zum Arzt gehen sollen – wegen seiner Visionen? Ich denke nicht. Denn seine großartige Schau verweist in Bildern darauf, dass sprudelndes Leben von dorther kommt, wo Gott ist. Seine Vision ermutigt uns, einen zweiten Blick zu wagen: Sieh doch, da ist noch etwas anderes als das, was dich bedrückt. Und sieh nicht nur, probiere es aus, steige ins Wasser, immer tiefer ins Wasser, spüre das Wasser, wage es, dich nass zu machen, dich einzulassen auf die Erkundung des Erstaunlichen.

Sicher, das ist nur eine Vision. Auch der Umstand, dass im Christentum die Vision Hesekiels auf Christus bezogen wurde, auf sein Kommen und darauf, dass er von sich sagte, er sei das Wasser des Lebens (Joh. 4, 14), macht aus der Vision noch keine Wirklichkeit. Also doch lieber zum Arzt?

Wer so denkt, rechnet nicht mit der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, mit Gottes Reich, das kommen wird und das doch schon da ist. Wenn wir aber anfangen, so zu sehen, wie der Seher sah, werden wir vielleicht entdecken, dass es die Hinwendung zu Gott ist, die gutes Leben ermöglicht und eben auch: gute Arbeit. Denn wer sich von dieser Vision des Lebens erfüllen lässt, wird nicht den Götzen der Gier verfallen. Der oder die wird nicht auf die Ausbeutung von Menschen in anderen Weltgegenden angewiesen sein. Der oder die wird nicht mehr den Logiken entfesselter Finanzmärkte folgen.

Ist das nicht naiv? Ich vermute, dass es auch die Visionen der Propheten waren, die dem Volk Israel halfen, die babylonische Gefangenschaft zu überleben. Ich vermute, dass es prophetische Visionen vom Reich Gottes sind, die uns ermutigen, nicht den falschen Versprechungen eines guten Lebens zu folgen. Denn ohne solche falschen Versprechungen, ohne falsche Propheten wäre es längst möglich gewesen, guter Arbeit zum Siegeszug zu verhelfen. Den verhindert, wer daran glaubt, dass gutes Leben im „Immer mehr – schneller – besser“ zu finden sei, in der Gier, im Renditewahn – und im Leben auf Kosten anderer. Es ist also höchste Zeit, dass wir den falschen Propheten das Handwerk legen. Auch als Beitrag zu einem „Protest- und Gedenktag“.

Vielleicht könnte es also sein, dass uns gerade alte Visionen zum radikalen Umbau lebensfeindlicher Ordnungen ermutigen. Vielleicht könnte es ein, dass uns Träume zu Realisten machen. Vielleicht könnte es sein, dass nicht die zum Arzt müssen, die Visionen haben, sondern die, die meinen, ohne sie auskommen zu können. Vielleicht befreit uns das Eintauchen in den Lebensstrom Gottes zur Befreiung der Ausgebeuteten. Das wäre doch einmal eine Botschaft zum 1. Mai, eine andere.

Lied 
Wenn das rote Meer grüne Welle hat
Liederbuch der Friedensdienste, 1980


Autor
Klaus Heidel, Mitgründer und Mitarbeiter der Werkstatt Ökonomie e. V. in Heidelberg, Koordi-nator des ökumenischen Prozesses „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“ (von 23 Kirchen und kirchlichen Organisationen getragen).

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